Donnerstag, 25. April 2024

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Zeitzeuge des Kälte- und Hungerwinters 1946
"Wir zerrieben die Blätter der Hecken und aßen sie"

Im zweiten Nachkriegswinter kam zur Hungersnot im zerstörten Deutschland anhaltende, extreme Kälte hinzu. In seiner Silvester-Predigt 1946 gestattete der Kölner Kardinal Frings gar den Mundraub. Doch bis zum Frühjahr 1947 starben vermutlich Hunderttausende.

Von Almut Finck | 02.01.2022
Straße im kriegszerstörten Bremen, Januar 1947
Straße im kriegszerstörten Bremen, Januar 1947 (picture-alliance / akg-images / Tony Vaccaro)
Anfang 1946 veröffentlicht die "Süddeutsche Zeitung" ein Foto. Zu sehen ist ein Tisch. Darauf verteilt: ein halber Teelöffel Zucker, ein fingernagelgroßes Stück Fett, eine Käseportion von der Größe eines Streichholzes, ein radiergummigroßes Stück Fleisch, ein Schluck Milch, zwei Kartoffeln. Die Tagesration eines Durchschnittsdeutschen.

Der Krieg ist vorbei. Jetzt herrschen Hunger und Chaos. Neun Millionen Evakuierte und Ausgebombte, 14 Millionen Flüchtlinge und Vertriebene, 10 Millionen ehemalige Zwangsarbeiter und Lagerinsassen, Abermillionen heimkehrender Soldaten. Wie sollen die alle sattwerden? Produktion und Handel liegen darnieder, Transportwege sind zerstört.
"Wir zerrieben die Triebe und Blätter der Hecken und aßen sie"- "so dass nach vierzehn Tagen die Hecken wie Skelette aussahen.“, so ein Wehrmacht-Soldat im Gefangenenlager bei Bad Homburg. Und die Journalistin und Widerstandskämpferin Ruth Andreas-Friedrich beschreibt in ihrem Tagebuch, wie der Ekel dem Hunger gewichen sei:
„Um die Messen der Alliierten wimmelte es von Beutesuchern. Weggeworfene Konservendosen schleppen sie nach Hause, um dort ihre letzten Reste herauszukratzen, zu lecken, mit Wasser in die Suppe zu spülen.“

Goethe-Gedichte gegen 20 Grad Kälte

Zur desolaten Ernährungslage kommt die Kälte. Eisig, endlos. Viele Alte sind zu schwach für Kohlenklau und Hamsterfahrten aufs Land. Sie erfrieren in ihren Betten. In manchen Regionen liegt die Säuglingssterblichkeit bei 65 bis 90 Prozent. Ruth Andreas-Friedrich, notiert am 30. Dezember 1946:
„Wir sitzen in Mantel und Pelzmütze des Abends um die Petroleumlampe, und wenn wir abends zu Bett gehen, kringeln wir uns zusammen wie Regenwürmer.“ – "Zur Ablenkung liest Frank uns Goethe-Gedichte vor. ‚Die sind auch bei zwanzig Grad Kälte noch schön‘, behauptet er.“
Die Haager Landkriegsordnung von 1907 verpflichtet die Siegermächte zur Versorgung der Zivilbevölkerung in den besetzten Gebieten. Wieviel Kalorien pro Tag, das bedeutet, regelt die Konvention aber nicht.

Wie umgehen mit dem besiegten Land der Täter?

„Ich will nicht, dass die Deutschen verhungern“, hatte US-Präsident Roosevelt noch vor Kriegsende gesagt. Und gleichzeitig Härte gefordert: „Die Tatsache, dass sie ein besiegtes Volks sind, und zwar alle zusammen und jeder einzelne, muss ihnen so eingebläut werden, dass sie vor jedem neuen Krieg zurückschrecken.“
Auch Roosevelts Nachfolger Truman mochte sich die einstigen Nazis nicht mit gefüllten Bäuchen am warmen Ofen vorstellen: „Ich empfinde nicht allzu viel Mitleid mit jenen, die zu verantworten haben, dass Millionen Menschen an Hunger und Krankheiten starben, ja offen und vorbehaltlos ermordet wurden.“

US-Hilfslieferungen ab Sommer 1946

Deutschland ist deshalb von den amerikanischen Hilfssendungen nach Europa kategorisch ausgenommen. Lebensmittelpakete etwa des Internationalen Roten Kreuzes dürfen ausschließlich an ehemalige Zwangsarbeiter, KZ-Überlebende und befreite Kriegsgefangene der Alliierten verteilt werden. Erst nach massivem Protest vor allem von US-Amerikanern mit Verwandten in Deutschland dürfen ab Juli 1946 Carepakete auch hierher geschifft werden. Der CDU-Politiker und einstige Bundesminister Norbert Blüm, empfand das, "wie eine Wunderkiste aus dem Märchen."
„Schokolade. Das kannte ich nur vom Hörensagen. Erdnussbutter, alles Sachen, die uns sehr geholfen haben, nicht nur den Hunger zu stillen, sondern auch Hoffnungen zu haben, dass es weitergeht.“

Hilferuf aus Berlin

Tatsächlich sind die Carepakete nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Die Bevölkerung in der östlichen Besatzungszone erreichen sie ohnehin nicht. Die Sowjets lehnen das Hilfsangebot ab. Anfang 1947, nach Einbruch wiederum eisiger Kälte, richtet Otto Ostrowski, Groß^-Berlins Bürgermeister, einen verzweifelten Appell an die Weltöffentlichkeit: "Wir können nicht mehr. Helft uns! Rettet uns!“
Erst im Februar 1947 klettern die Temperaturen nach 40 Tagen Dauerfrost endlich wieder über Null. Schätzungen zufolge starben in den beiden ersten Nachkriegswintern mehrere Hunderttausend Menschen an Hunger und Kälte – in Deutschland. In der Sowjetunion waren es ein bis zwei Millionen.