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Wiederentdeckt in der Krise
Die Renaissance der öffentlichen Daseinsvorsorge

Wohnen, Verkehr, Gesundheit: In den 90er-Jahren wurden viele Aufgaben, die zuvor der Staat erledigte, dem Markt überlassen. In der Krisenzeit erleben die Menschen nun, wie wichtig eine funktionierende und bezahlbare Infrastruktur ist.

Von Caspar Dohmen | 28.11.2022
Verwaiste Gleise liegen vor dem Bahnhof. ein früherer Haltepunkt der Höllentalbahn, die seit Jahren stillgelegt ist.
Viele Bahnstrecken wurden stillgelegt. Heute steigt der Bedarf wieder (picture alliance / dpa / Bodo Schackow)
Eine Demonstration 2019 in Berlin. Aufgerufen hat die Initiative „Deutsche Wohnen & Co enteignen“. Seit Jahren setzen sich Menschen in Deutschland für eine stärkere Rolle des Staates auf dem Wohnungsmarkt ein. Die Mehrheit der Berliner Bürger stimmte bei einem Volksentscheid 2021 sogar für die Enteignung großer Wohnungsbaukonzerne. Mieten haben sich in der Hauptstadt in den vergangenen zehn Jahren verdoppelt. Private Immobilienbesitzer haben die Entwicklung angetrieben.
Der Wunsch nach einem stärkeren Staat in Bereichen der Daseinsvorsorge wie Wohnen, Verkehr oder Gesundheit war auch Thema bei einer Konferenz zur Vergesellschaftung im Oktober in der Hauptstadt. Mitorganisator Vincent Janz:
„Alle diese Sektoren zeigen trotz ihrer grundlegenden Unterschiedlichkeiten ähnliche Muster: Die zunehmende Privatisierung von Produktion und Dienstleistungen durch Großkonzerne, die eigentlich zur Sicherung der allgemeinen Daseinsvorsorge aller dienen, führt nicht zur umfassenden Grundversorgung der Allgemeinheit. Stattdessen erlaubt sie den Zugang zu essentiellen Gütern und Leistungen nur jenen, die es sich leisten können.“

Krisen zeigen die Bedeutung von Daseinsvorsorge

Landauf landab erleben Menschen in der Pandemie wie wichtig eine funktionierende Daseinsvorsorge ist – und wie sehr wir in Krisen auf sie angewiesen sind. Dazu zählen funktionierende Krankenhäuser mit ausreichend Personal für schwer erkrankte Covid-Patienten genauso wie schnelles Breitband für die Arbeit im Homeoffice. Der britische Sozialwissenschaftler Colin Crouch. „Wir haben auch den Wert der öffentlichen Dienste entdeckt.“
Debattiert wurde über Daseinsvorsorge lange Zeit nur unter Kostenaspekten. Seit der Pandemie und der Energiekrise geht es auch um Resilienz. Erleben wir also derzeit eine Renaissance der Daseinsvorsorge in öffentlicher Hand? Noch einmal Colin Crouch. „Es gibt ein Pendel. Die Geschichte geht nie in eine Richtung, es gibt Wenden.“
Und trotz dieser Wenden ist die grundlegende Bedeutung der Daseinsvorsorge stets gleichgeblieben. Den Begriff prägte in den 1930er-Jahren der Staatsrechtler Ernst Forsthoff. "Forsthoff bezeichnete Daseinsvorsorge als die Abhängigkeit des verstädterten Bürgers von öffentlichen Versorgungsleistungen und nannte beispielhaft die Versorgung mit Strom und Wasser", sagt Oliver Rottmann, Geschäftsführer des Kompetenzzentrums Öffentliche Wirtschaft, Infrastruktur und Daseinsvorsorge in Leipzig.
„Aber sein Verständnis von Daseinsvorsorge und Daseinsverantwortung ging darüber hinaus. Also er implizierte auch Postdienste, Hygienische Dienste, Gas, Elektrizität, Telefonie beispielsweise, auch die Vorsorge für Alter, Invalidität oder Krankheit. Also der Begriff war sehr breit angelegt, das ist er teilweise auch heute.“
Ende des 20. Jahrhunderts kamen die Glasfaser- und Funknetze dazu, auf deren Nutzung die Menschen heute angewiesen sind. Zur Abwicklung der Geschäfte auf dem Bankkonto genauso wie zur Beschaffung von Informationen.

Nationalstaaten wollten die Gesamtbevölkerung besser versorgen

Anfangs bauten und betrieben private Firmen Infrastrukturen. Im 19. und 20. Jahrhundert zogen Nationalstaaten dann die Aufgaben an sich, um die Gesamtbevölkerung besser zu versorgen. Nach 1945 verstaatlichten Regierungen in kommunistisch regierten Staaten ganze Wirtschaften, westliche Staaten aber auch ganze Branchen. Die Gründe waren „sozialistisch-ideologisch“, häufiger aber „pragmatisch“, schrieben Wissenschaftler 2006 in einem Bericht an den Club of Rome:
„Zu diesen gehörte, dass der Staat einfacheren und billigeren Zugang zu Kapital hatte oder dass Effizienz und Kohärenz für eine zentralstaatliche Organisation sprachen. Witziger Weise werden nun ganz ähnliche Gründe für das exakte Gegenteil, eben die Privatisierung ins Feld geführt.“
Das Pendel war in den 1980er-Jahren umgeschlagen, als es in den Industrieländern hohe Inflation und Arbeitslosigkeit gab. Gehör fanden nun Ökonomen wie Friedrich von Hayek, Milton Friedman oder Ronald Coase. Sie plädierten für eine Bereitstellung vieler öffentlicher Güter durch den Markt, aus Gründen der Effizienz.

Thatcher und Reagan beschnitten die öffentliche Daseinsvorsorge

Der Staat, so ihre Argumentation, habe kein Interesse daran, seine Arbeit zu beschleunigen oder das Angebot aufzuwerten, weil er nicht durch mögliche finanzielle Verluste oder Gewinne motiviert sei.
Neokonservative Politiker wie die ehemalige britische Premierministerin Margaret Thatcher und Ex-US-Präsident Ronald Reagan beschnitten die öffentliche Daseinsvorsorge. Privatisierung, Deregulierung und Liberalisierung wurden ihr politisches Programm. Andere folgten. Wettbewerb hielt Einzug in den Bereich Daseinsvorsorge. Ökonom Oliver Rottmann: „Wettbewerb bildet heute einen elementaren Teil zur Realisierung des Daseinsvorsorgeauftrags, und er kann auch helfen Kosten zu sparen für die öffentliche Hand und Leistungen besser zu machen.“
Auch die EU, sagt Rottmann, habe diese Entwicklung durch die Liberalisierung öffentlicher Dienstleistungen wie etwa den Strommarkt in den 1990er-Jahren massiv vorangetrieben. Zuvor hatte Wettbewerb keine größere Rolle gespielt. Der Staat hatte bis zu diesem Zeitpunkt selbst die Leistungen im Bereich der Daseinsvorsorge erbracht. Er war ein produzierender Staat. Nun änderte sich seine Rolle:
„Dieser produzierende Staat ist abgelöst worden von einem Gewährleistungsstaat, also die öffentliche Hand, die Kommune beispielsweise, hat dafür Gewähr zu tragen, dass die Daseinsvorsorge erbracht wird. In welcher Form, in welcher gesellschaftlich strukturellen Form, ob sie es selber macht oder einen Privaten damit beauftragt ist erst Mal nachrangig.“

In Deutschland wurde die Post privatisiert

Stadtwerke konnten nun Strom auf dem Markt kaufen, Kommunen Leistungen wie die Wasserversorgung oder die Entsorgung von Müll an private Firmen delegieren. Die öffentliche Hand agierte gemeinsam mit privaten Unternehmen oder verkaufte öffentlichen Besitz an sie.
In Deutschland wurde beispielsweise die Post privatisiert, daraus entstanden die Deutsche Post DHL Group und die Telekom AG. Verkauft wurden auch etliche Krankenhäuser oder Altenheime an Investoren. Das hatte Konsequenzen, sagt Axel Troost, Wirtschaftswissenschaftler und ehemaliger Bundestagsabgeordneter der Links-Partei. „Na ja, wir haben auf jeden Fall erstmal ein völliges Runterfahren durchlaufen, das ging in der Hochzeit irgendwann mit Thatcher und Reagan los sozusagen im Neoliberalismus, wie man das so schön nennt.“
Doch die Konsequenzen waren nicht nur negativ, sagt Ökonom Rottmann: „Es gibt schon viele Punkte, wo qualitativ und auch preislich einiges passiert ist.“

Kommunen übernehmen teilweise auch wieder selbst Aufgaben

Wir konnten zum Beispiel wesentlich günstiger telefonieren, was laut Rottmann maßgeblich am Wettbewerb privater Anbieter gelegen habe. Aber Kommunen übernahmen teilweise auch wieder selbst Aufgaben. Es kam zu einer regelrechten Bewegung in Europa für die Rekommunalisierung von Wasser, Energie oder Abfallentsorgung. Die Frage, die bei solchen Entwicklungen regelmäßig mitschwingt: Wer erledigt die Aufgaben der Daseinsvorsorge effizienter – Markt oder Staat?
„Es gibt zahlreiche sektorale Studien, die für beide Seiten Beispiele finden. Eine Privatisierung oder auch der umgekehrte Weg einer Rekommunalisierung ist immer eine Einzelfallentscheidung. Man muss immer versuchen abzuschätzen, was die bessere Variante ist und besser heißt in der Daseinsvorsorge, die Leistung muss für den Bürger bezahlbar sein, muss in ausreichender Qualität und in hinreichender Menge zur Verfügung stehen.“
Der generelle Abbau der Daseinsvorsorge aus öffentlicher Hand spiegelt sich auch beim Personal wider. Nach der Wiedervereinigung arbeiteten fast sieben Millionen Beschäftigte in diesem Bereich. Anfang der 2010er-Jahre waren es nur noch knapp viereinhalb Millionen Menschen.
Noch einmal Linken-Politiker Axel Troost: „Spätestens aber ab 2015 mit dem Zustrom der Flüchtlinge war dann endgültig klar, dass wir mit einem Magerstaat, was auch wirklich Verwaltung angeht, einfach nicht zurechtkommen, seitdem gibt es durchaus einen Anstieg von Beschäftigung im öffentlichen Dienst.“

In Deutschland arbeiten fünf Millionen Menschen für den öffentlichen Dienst

Mittlerweile arbeiten wieder fünf Millionen Menschen für den öffentlichen Dienst. Aber würden in Deutschland pro Kopf genauso viele Beschäftigte im öffentlichen Sektor arbeiten wie in Skandinavien, bräuchte es noch eine Million mehr.
Gewaltig hapert es vor allem bei den Infrastrukturen der Daseinsvorsorge wie etwa beim schnellen Internet. Viele Strukturen sind marode. Dazu gehören auch Schienen, Straßen oder Schulen. Man verschliss die Daseinsvorsorge, statt sie zu pflegen. Übrigens oft unabhängig davon, ob sie in öffentlicher oder privater Hand war. „Diese Privatisierungswellen, die erst mal über uns ergangen sind, die haben bei mir dazu geführt zu sagen, wir müssen uns persönlich engagieren, es gibt keine Anwältinnen und Anwälte der Daseinsvorsorge offensichtlich, die Politik ist da nicht der gute Treuhänder, sondern wir müssen jemanden finden und wir haben keinen gefunden, also müssen wir es selber machen.“
Der Bauingenieur Carl Waßmuth hat deswegen die NGO Gemeinwohl in BürgerInnenhand gegründet. Seine Mitstreiterin Laura Valentukeviciute sieht bereits erste Erfolge: „Die Leute sind aktiver geworden, die versuchen immer mehr Volksbegehren auf die Beine zu stellen, Petitionen zu machen usw., um genau die Bereiche der Daseinsvorsorge zu retten, vor Schließung, vor Privatisierung, vor Ausverkauf usw.“
Es brauche eine echte Wende, um die Daseinsvorsorge zukunftsfähig aufzustellen, beispielsweise im Bereich der Gesundheitsversorgung. „Wir müssen diese Gewinnerwirtschaftung verbieten. Wir müssen Selbstkostendeckung in den Krankenhäusern einführen, damit die Patienten nicht zu Fällen degradiert werden, sondern angemessen behandelt werden. Wir müssen die Sicherheit für die Beschäftigten auch geben, damit sie nicht ausbrennen.“

Experte: Privatisierung von Krankenhäusern war ein Fehler

Wirtschaftswissenschaftler Axel Troost hält die Privatisierung von Krankenhäusern ebenfalls für einen Fehler. Es mache aber keinen Sinn, komplett zu früheren Zuständen zurückzukehren, sagt er. Etwa in Krankenhäusern alternativlos das System der Fallpauschalen abzuschaffen, bei dem die Bezahlung je nach Krankheitsbild und unabhängig von der Verweildauer mit einer fixen Summe vergütet wird. 
„Das ist eine sehr einfache Forderung, aber wenn man weiß, dass es vorher überhaupt keine vernünftige Kostenrechnung in den Krankenhäusern gegeben hat und insofern da auch chaotische betriebswirtschaftliche Verhältnisse geherrscht haben. Dann kann man nur sagen, man kann das nicht einfach abschaffen und sagen wir machen gar nichts, sondern muss dann auch für den staatlichen Bereich vernünftige Abrechnungssysteme schaffen, die auf der einen Seite ökonomisch vernünftige Ergebnisse bringen und eben im Krankenhaus für die Patienten eine wirklich optimale Versorgung organisieren.“
Gefragt sind kreative Ansätze. Dazu gehört nach Ansicht von Reformanhängern der Daseinsvorsorge vor allem eine stärkere Einbeziehung von Bürgerinnen und Bürgern. Was möglich ist, zeigt das Beispiel der Elektrizitätswerke Schönau im Schwarzwald. Dort haben Menschen in den 1990er Jahren eine Genossenschaft gegründet und das lokale Stromnetz übernommen, weil sie erneuerbare Energie haben wollten.
Arwen Colell hat sich damit als Wissenschaftlerin beschäftigt und hält das Konzept für zukunftsweisend: „Die Elektrizitätswerke in Schönau, die einerseits zum Beispiel sagen, erneuerbarer Strom, der darf nur dann erneuerbar heißen in unserem Portfolio, in unserem Angebot, wenn die Anlagen nicht älter sind als fünf Jahre.“
Das Unternehmen müsse also regelmäßig neue Anlagen für erneuerbare Energie bauen. Und nehme dabei auch die eigenen Kunden in die Pflicht. „Dass sie den sogenannten Sonnencent als Teil ihres Strompreises haben, wo Kundinnen und Kunden eine gewisse Mehrabgabe bezahlen, wenn man so will, die dann aber direkt in die Energiewende reinvestiert werden kann.“
Gerne hätte Arwen Colell das Modell in großem Stil für Berlin kopiert. Deswegen gründete sie mit anderen 2011 die Genossenschaft BürgerEnergie Berlin. Damals suchte das Land einen neuen Betreiber für das Stromnetz der Hauptstadt. Den Zuschlag erhielt das landeseigene Unternehmen Stromnetz Berlin GmbH, welches das Netz von dem schwedischen Konzern Vattenfall übernahm.

Partnerschaft zwischen öffentlicher Hand und Bürgergenossenschaft

Aber die rot-grün-rote Landesregierung will die Genossenschaft mit ins Boot holen, so steht es im Koalitionsvertrag. Doch die im Februar anstehende Wahlwiederholung verzögert diese Netzbeteiligung – und könnte bei neuen Mehrheiten sogar zur Disposition stehen. Arwen Colell sieht in einer solchen Partnerschaft zwischen öffentlicher Hand und mitbestimmender Bürgergenossenschaft dennoch großes Potenzial.
„Wir wollen auch durchaus, dass Menschen mitwirtschaften können, dass sie selbst dort investieren können in die Infrastruktur ihrer Stadt und dass sie durchaus das Geld, das da erwirtschaftet wird, auch Teil der lokalen Wertschöpfung wird, dass das auch ausgeschüttet werden darf an Bürgerinnen und Bürger bzw. dass es direkt investiert werden kann in die Energiewende. Das kann ebenso eine Genossenschaft und das kann das Land pauschal erstmal nicht.“
Strom-, Gas- und Fernwärmenetze müssten für eine erfolgreiche Energiewende zusammen betrachtet werden, sagt Collel. „Eine übergeordnete Instanz also zu haben, die diese Infrastrukturen zusammen plant ist unheimlich wichtig und weil diese Zusammenhänge so wichtig sind, aber gleichzeitig diese Veränderung so nah heranrückt an die Menschen in ihrem Zuhause, ist aus meiner Sicht eben die BürgerInnenbeteiligung an dieser Stelle eben auch so zentral.“
Wenn die Menschen die öffentliche Daseinsvorsorge in ihrer Kommune mitgestalten, stärke dies nicht nur die Demokratie, sondern auch die Akzeptanz für umstrittene Projekte. Das hat Colell mit Blick auf erneuerbare Energien bei ihren Untersuchungen in Deutschland, Dänemark und Schottland festgestellt.
Die Aktivisten der NGO Gemeingut in BürgerInnenhand lehnen eine finanzielle Beteiligung von privaten Akteuren an der öffentlichen Infrastruktur ab. Aber die Mitbestimmung von Bürgern bei der Ausgestaltung der öffentlichen Daseinsvorsorge halten sie ebenfalls für elementar und verweisen auf das Beispiel der Schweizer Bahn.

In Deutschland gibt es keine Volksabstimmungen wie in der Schweiz

Ursprünglich hätte deren Management einen ähnlichen Kurs einschlagen wollen wie ihre Kollegen in Deutschland, etwa mit einer Konzentration auf wichtige Fernstrecken. Aber die Bürger hätten bei Volksabstimmungen andere Prioritäten durchgesetzt, sagt Bauingenieur Carl Waßmuth: „Wir wollen gerne einen sogenannten Taktverkehr, alles soll mit allem verknüpft werden und man soll gut umsteigen können. Und das wurde dann umgesetzt. Und das Ergebnis ist, dass die Schweiz das weltweit beste anerkannte Bahnsystem hat, mit dem höchsten Anteil an Personenverkehr im Vergleich zu den anderen Verkehrsträgern und interessanterweise auch mit den geringsten Kosten: Die investieren das Fünf- bis Zehnfache gegenüber Deutschland und haben aber trotzdem umgerechnet pro Personenkilometer- oder pro Gütertonne, wesentlich geringere Kosten, teilweise nur die Hälfte der Kosten, die wir hier in Deutschland haben.“
In Deutschland gibt es keine Volksabstimmungen wie in der Schweiz. Was muss also getan werden, um die Vorstellungen der Bürger bei der hiesigen Bahn umzusetzen? Carl Waßmuth empfiehlt eine Verpflichtung der Bahn auf das Allgemeinwohl. Der Bund könnte als Alleineigentümer die Bahnsatzung entsprechend ändern und durchdeklinieren, was zu den Allgemeinwohlaufgaben der Bahn gehören sollte.
„Wir wollen eine Erhöhung des Verkehrsanteils. Wir wollen ökologische Bilanzen von Euch. Wir möchten, dass die Infrastruktur bilanziert wird, so dass wir sehen können, ob das verfällt oder ob das ausgebaut wird. An das alles koppeln wir jetzt vielleicht auch die Gehälter der Manager. Das wäre ein wichtiger Wandel.“
Auch der Sozialwissenschaftler Colin Crouch hält die stärkere Einbeziehung von Bürgern bei der Bereitstellung der öffentlichen Daseinsvorsorge für wichtig. Ein Zurück zu dem alten paternalistischen Staat wäre wenig zukunftsfähig. Gleichzeitig habe sich aber auch deutlich gezeigt, dass es wenig sinnvoll sei, möglichst viele Entscheidungen von Individuen auf dem Markt treffen zu lassen.

Derzeit schlägt das Pendel sogar um: Mehr Staat, weniger Markt

Niemand könne individuell ein nationales Bildungssystem schaffen. Wir könnten individuell auch nicht die Klimakrise stoppen. Wenn wir uns nicht mehr an der Gesellschaft um uns herum orientieren, sondern nur uns selbst, würden wir unfähig, wichtige gesellschaftliche Aufgaben zu erfüllen, warnt Crouch. Trotzdem hätten die Gesellschaften dem Markt nicht alles überlassen. „Der Wohlfahrtsstaat hat überlebt.“
Derzeit schlage das Pendel sogar um: Mehr Staat, weniger Markt. Womöglich muss der Staat sogar mehr erledigen, weil es sich für private Investoren nicht mehr rechnet. Wir werden Bereiche bekommen, wo die Privaten sagen, das ist uns zu teuer, diese Daseinsvorsorgeeinrichtung zu halten. Macht damit was ihr wollt", sagt Bauingenieur Carl Waßmuth (*) und verweist auf drastisch steigende Kreditkosten.
Vorbei ist die lange Niedrigzinsphase, in der Investoren sich günstig finanzieren konnten. Zur Bekämpfung der Inflation haben die Zentralbanken die Zinsen deutlich erhöht, weitere Erhöhungen werden erwartet. Die Zinsfrage verändere das System radikal.
„Diese Frage wird die Daseinsvorsorge sicherlich rumwirbeln und gibt uns die Möglichkeit in die Diskussion einzusteigen und zu sagen, okay machen wir es öffentlich, dann sind wir aus diesem Zirkus raus. Dann sind wir nicht mehr in diesem Roulette und können einfach wieder zurückkehren zu dem System: Wir zahlen aus unseren Steuergeldern und Gebühren das, was wir in der Daseinsvorsorge brauchen und verbrauchen und nicht mehr und nicht weniger.“
(*) Name das Interviewpartners korrigiert