
Untergebracht sind die Flüchtlinge in einer riesigen Universitäts-Turnhalle. 67 x 39 Meter groß. Darin haben Mitarbeiter der Johanniter Unfallhilfe gut 400 grüne Feldbetten aufgestellt. Fast alle sind belegt. Die Flüchtlinge, die darauf schlafen, kommen aus Syrien, Afghanistan, Pakistan, Eritrea oder Somalia.
Einer, der mit der Musik und dem Picknick überhaupt nichts anfangen kann, ist der 20-jährige Syrer Abdulkader Al Omar, eigentlich ein hübscher Kerl. Große braune Augen. Lange Wimpern. Sommersprossen. Doch an diesem diesigen Herbsttag in Leipzig wirken sein dunkler Teint aschfahl und seine Augen müde. Abdulkader erzählt:
"Ich lebe hier in diesem Camp seit zwei Monaten und sieben Tagen. Ich habe keine Aufenthaltsgenehmigung, und ich weiß nicht, wann ich in eine andere Unterkunft verlegt werde. Nur die medizinische Untersuchung gab es schon. Jeder Tag hier in diesem Camp ist schlecht. Ich schlafe auf dem Boden, weil ich Rückenschmerzen habe. Ich möchte eine Schule besuchen, und in einer eigenen Wohnung leben. Das gilt nicht nur für mich, auch die Familien hier sollten in Wohnungen leben schon allein wegen der Kinder."
"Es ist schrecklich und wirklich gefährlich. Man fährt nicht nur die 20 Kilometer von Küste zu Küste und das war's dann. Nein, die Wellen waren richtig hoch. Und in Serbien gibt es überall Mafiosi. In Ungarn ist das auch so. Dort haben uns solche Leute reingelegt. Von jedem von uns haben sie 40 Dollar genommen, und gesagt, dass sie uns nach Budapest fahren. Aber nach wenigen Kilometern warfen sie uns wieder auf die Straße. Und um schließlich nach Deutschland zu kommen mussten wir auch noch durch einen Fluss schwimmen."
Der Dolmetscher, der den Reporter unterstützt, signalisiert, dass Abdulkader kein besonders elegantes Arabisch spricht. Die Schulbildung des jungen Syrers ist dürftig. Einen Beruf hat er nicht gelernt. In der Leipziger Notunterkunft wartet Abdulkader nun ungeduldig auf einen Termin in der Chemnitzer Außenstelle des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge. Dort kann er seinen Asylantrag stellen. Nichts ist ihm wichtiger, denn nur mit einer Aufenthaltsgenehmigung, kann er sein derzeit größtes Ziel verwirklichen. Abdulkader möchte nach Magdeburg ziehen, denn dort lebt bereits seit knapp zwei Jahren sein großer Bruder Abdulatif Al Omar.
"Das Hotel ist gut, sehr gut sogar. Ich bekomme auch Geld, 325 Euro im Monat. Aber ich brauche unbedingt eine Aufenthaltsgenehmigung und ich möchte eine Schule besuchen, weil ich Deutsch lernen muss, weil ich ja auf eine Universität gehen will."
Was der jungen Syrer über seinen Alltag in Dölzig erzählt, klingt ziemlich langweilig. Er joggt ein bisschen, spielt Fußball und im Fernsehen schaut er sich Actionfilme und Autorennen an, kauft im Discounter Brot, Milch, Eier und Reis, kocht und schläft.
Abdulkader legt einen Brief, den ihm das Landratsamt Nordsachen geschickt hat, auf den Couchtisch. Auf dem Dokument steht "Zur Vorlage bei einer Kontrolle" und außerdem, dass Abdulkader verheiratet ist. Asma heißt seine Ehefrau. Zwei Monate bevor er Syrien verließ, hatte er die damals 16-jährige geheiratet.
16. Dezember 2015. Vorweihnachtszeit in Leipzig. Das dritte Treffen mit Abdulkader Al Omar findet in einem Fast-Food-Restaurant statt. Draußen vor der Tür glitzern und funkeln Christbäume und Lichterketten. Weihnachten? Der sunnitische Moslem zuckt nur mit den Schultern.
"Hallo, guten Tag! Einen Kaffee, bitte mit Milch, ja. Zum hier trinken? Ja. Dankeschön!"
"Der Kurs ist super. Wir werden Tag für Tag besser. Jeden Tag bekommen wir neue Informationen. Die Lehrerin bringt uns Zahlen, Verben und Personalpronomen bei. Außerdem kann ich jetzt auf Deutsch danach fragen, woher jemand kommt und wie alt jemand ist."
Sein Alltag im Gewerbegebiet, erzählt Abdulkader, sei zwar immer noch langweilig, aber erträglich. Als er nach Asma, seiner jungen Ehefrau gefragt wird, verfinstert sich seine Mine.
"Seit drei Tagen habe ich keinen Kontakt mehr zu ihr. Die Sicherheitslage in Syrien ist gefährlich. Natürlich mache ich mir Sorgen. Mein Asylverfahren muss beschleunigt werden. Dann kann ich die Familie hierher nach Deutschland holen."
"Ihren Ausweis bräuchte ich da bloß mal bitte."
Im Inneren der Behörde, im Wartebereich steht auch Abdulkader Al Omar, der sich für seinen seit Monaten wichtigsten Termin extra schick gemacht hat. Er trägt schwarze enge Jeans und eine dünne, weinrote Stoff-Jacke. Anspannung liegt in der Luft.
"Bashir Mohammad!"
Die meisten Blicke fixieren den jungen Bundeswehrsoldaten, der einen Flüchtling nach dem anderen in die Amtszimmer ruft. Abdulkader wartet geduldig und lächelt - über Stunden.
Endlich in der Amtsstube, wo Tonaufnahmen für Radio-Reportagen nicht erlaubt sind, zeigt Abdulkader seinen syrischen Reisepass sowie einen Wehrpass der Armee von Bashar al-Assad. Mit dem Übersetzer der Behörde versteht er sich auf Anhieb, denn der ältere, rundliche Herr mit dem durchdringenden Blick stammt wie Abdulkader aus Deir ez-Zor. Doch schon bald werden der Flüchtling und der Behördenmitarbeiter immer stiller.
"Ich habe mir ja überlegt, hier in Deutschland Fuß zu fassen. Das möchte ich. Aber jetzt habe ich Sorge, dass es ein Jahr lang dauert mit der Aufenthaltsgenehmigung. Ich denke aber auch an Syrien. Die Situation dort macht mir Angst. Assad begeht überall Verbrechen. In Syrien gibt es überall Probleme. Ich glaube schon, dass ich den Aufenthaltstitel bekomme. Aber das wird lange dauern."
Abdulkader liegt falsch. Nur sieben Wochen später bekommt er seine Aufenthaltsgenehmigung – befristet für drei Jahre.
"Hier kann nicht jeder losziehen und Wohnungen suchen. Der ist hier im Hotel wunderbar untergebracht."
"Der ist anerkannter Flüchtling? Dann muss er sich eine Wohnung suchen. Und dann heißt das auch, willkommen in Deutschland! Und dann muss der sich selber in die Spur begeben. Yo, alles klar! Tschö!"
Gleich nach dem Telefonat des Sachbearbeiters setzt sich der anerkannte Flüchtling Abdulkader Al Omar an den provisorischen Schreibtisch von Herrn Haag. Der erklärt ihm, dass sein Status jetzt vergleichbar sei mit dem eines deutschstämmigen Hartz IV-Empfängers. Abdulkader könne Arbeitslosengeld II beantragen und seinen Wohnsitz überall in Deutschland frei wählen. Der Syrer nickt und hat doch noch eine Frage.
"Sie haben mir zwei Zettel gegeben für das Jobcenter, und ich habe Ihnen gesagt, dass ich zu meinem Bruder nach Magdeburg ziehen möchte. Sie hatten mir gesagt, dass das okay ist. Ich habe aber bis jetzt nur den Brief mit der Aufenthaltsgenehmigung bekommen und noch keinen offiziellen Flüchtlings-Ausweis. Darf ich trotzdem jetzt schon nach Magdeburg gehen?"
Herr Haag erklärt, dass Abdulkader noch am selben Tag nach Magdeburg ziehen könne. Die Ausländerbehörde dort stelle ihm dann den Flüchtlingsausweis aus. Glücklich sieht Abdulkader nach dem Gespräch mit dem Sachbearbeiter aus. Voller Tatkraft blickt der junge Syrer in die Zukunft:
"Jetzt mit der Aufenthaltsgenehmigung fühle ich mich, als ob ich ein Deutscher wäre."
Nicht mehr ganz so locker und gelöst wirkt der 20-Jährige allerdings als er tiefer gehende Fragen nach seinen Fortschritten beim Deutsch lernen beantworten soll. Dem Reporter ist aufgefallen, dass Abdulkaders Sprachkenntnisse in dem knappen halben Jahr, in dem sich die beiden kennen, nicht besser geworden sind. Dabei liegen immerhin 300 Unterrichtsstunden hinter ihm.
"Ich konnte nicht richtig lernen wegen des psychischen Stresses, weil ich ja so lange auf meine Aufenthaltsgenehmigung gewartet habe. Erst wenn man sie bekommt, hat man Kraft um weiter zu machen."
"Damals habe ich nie gedacht, dass ich nach Deutschland kommen werde. Wir sind keine armen Leute. Deswegen haben wir das nicht gedacht, wir haben das nicht gebraucht."
Abdulatifs jüngerer Bruder bringt süßen Johannisbeersirup aus der Küche und setzt sich mit auf das Sofa im Wohnzimmer. Er hat sich inzwischen im Magdeburger Jobcenter angemeldet. Rund 400 Euro zahlt ihm die Behörde monatlich. Arbeitsangebote muss er im Moment allerdings nicht annehmen, weil er inzwischen mit seinem zweiten Sprachkurs begonnen hat. 500 weitere Unterrichtsstunden liegen vor ihm. Doch seine Trägheit beim Lernen wird immer offensichtlicher. In die Deutschbücher schaut er selten. Den älteren Bruder ärgert das.
"Er hat einfach nix gemacht. Wir haben gestern darüber gesprochen. Ich habe gesagt, kannst du auch zu Hause lernen."
"Nicht gefällt in Magdeburg. Magdeburg ist eine Stadt in der man fundamental diskriminiert wird. Die Leute sind nicht freundlich. Sie unterhalten sich nicht mit Ausländern. Im Supermarkt oder in der Straßenbahn schauen mich viele böse an. Ich glaube, die Leute sind so zu uns, weil wir Flüchtlinge sind. Ständig geben sie uns das Gefühl, dass wir das Land verlassen müssen, und sie uns hassen."
Und dennoch: Fast täglich werden in diesen Monaten in ganz Deutschland Asylbewerberheime angegriffen, und nicht nur das Internet ist voller Hass-Kommentare und Hetze gegen Flüchtlinge. Zumindest Abdulatif, der Ältere, beschäftigt sich mit den Nein-Zum-Heim-Gruppen bei Facebook, den AfD-Positionen zur Flüchtlingspolitik, der Hetze gegen Ausländer bei den bundesweiten Pegida-Demonstrationen.
"Es gibt viele, die die Ausländer hassen, und es gibt auch im Allgemeinen diesen Frust gegen die Ausländer. Und ich werde sagen, jeder kann denken, was er will. Also, wir sollen das auch akzeptieren, dass es auch eine andere Meinung gibt."
Der jüngere Bruder hingegen interessiert sich kaum für das, was um ihn herum in Deutschland passiert. Lieber erzählt er, dass er inzwischen beim Auswärtigen Amt einen Antrag auf Familienzusammenführung gestellt habe. Asma, seine junge Ehefrau, habe es inzwischen bis an die Grenze zur Türkei geschafft.
"Sie plant gerade den Grenzübertritt in die Türkei. Wenn sie dort wäre, wäre die Chance für die Familienzusammenführung größer. Im Moment hat sie aber Schwierigkeiten über die Grenze zu kommen, weil die türkischen Polizisten auf die syrischen Flüchtlinge schießen. Sie wollen nicht, dass die Syrer in die Türkei kommen."
Unterwegs zu einem syrischen Restaurant in der Magdeburger Innenstadt. Auf den Straßen flanieren unzählige junge Frauen in extrem knappen Shorts und engen, bauchfreien T-Shirts. Wie wirkt die westliche Freizügigkeit auf die beiden Moslems? Der Jüngere duckt sich vor der Frage des Reporters verschämt-kichernd weg. Sein älterer Bruder hingegen gibt sich souverän:
"Ja, also wenn ich ein Mädchen sehe, soll der Respekt gegenseitig sein. Damit wir einfach leben können. Miteinander, meine ich."
11. August 2016. Auf einem Magdeburger Fußballplatz. Hier kicken die beiden Brüder regelmäßig. Es ist das letzte Interview mit den Al Omars. Abdulkader, der vor knapp einem Jahr nach Deutschland geflohen ist, bereitet es sichtlich großes Unbehagen, erneut nach seinen Fortschritten beim Deutschlernen gefragt zu werden.
"Ja, wir haben angefangen, jetzt etwas zu lernen. Aber wir brauchen mehr Kontakt mit den Deutschen. Hier in Magdeburg kommt man mit den Menschen sehr schwer in Kontakt, um sich mit ihnen auf Deutsch zu unterhalten."
"Also ehrlich gesagt, er muss mehr lernen, er muss einfach vielleicht im Internet was hören und was nachahmen, auch wenn er vielleicht keinen Kontakt mit den Deutschen knüpfen kann. Weil ich zehnmal gesagt habe, dass er lernen soll und er macht das nicht gut."
"Ich möchte ja schon in Deutschland eine Ausbildung machen, vielleicht eine Arbeit finden, und meine Frau, die immer noch in der Türkei ist, hierher holen. Aber vor allem hoffe ich, dass es in Syrien keine Probleme mehr gibt, so wie früher. Ich werde nach Syrien zurückkehren, sobald die Sicherheitslage dort stabil ist.