Sonntag, 28. April 2024

Konferenz ICCM5
Die Chemie stimmt nicht mehr

Immer mehr Chemikalien werden weltweit hergestellt. Die Weltchemikalienkonferenz ICCM5 hat nach Wegen gesucht, besser mit Chemikalien umzugehen – auch in Hinblick auf den Klimawandel, und brauchte einen Tag länger als geplant für eine Einigung.

30.09.2023
    Eine Chemiefabrik in den Niederlande: ein Gerüst aus Rohren, zudem gibt es Silos. Im Fordergrund ist ein Gewässer, auf dem ein Motorboot fährt.
    Trügerische Idylle: Das Wasser in der Umgebung der Chemiefabrik Chemours in Dordrecht ist mit den giftigen PFAS verseucht. (IMAGO / ANP / Remko de Waal)
    Der Mensch ist von Chemikalien umgeben. Sie erleichtern das Leben, können aber mitunter auch sehr schädlich sein. Für das UN-Umweltprogramm ist der Umgang mit Chemikalien und Abfällen die dritte große Umweltkrise nach dem Klimawandel und dem Verlust der Artenvielfalt. In Bonn wurde Ende September 2023 auf der fünften Internationalen Chemikalienkonferenz (ICCM5) darüber beraten, wie ein sicherer Umgang mit Chemikalien gelingen kann.

    Überblick

    Worum ging es bei der 5. Internationalen Chemikalienkonferenz?

    Einen Tag später als geplant hat sich die Staatengemeinschaft unter dem Vorsitz Deutschlands auf neue globale Regeln für einen sicheren Umgang mit Chemikalien geeinigt. Bundesumweltministerin Steffi Lemke (Grüne) sprach von einer guten Nachricht "für den Schutz der Menschen, der Umwelt und für die Kreislaufwirtschaft".
    Regierungen, Wirtschaft und Zivilgesellschaft hätten sich "zu ihrer gemeinsamen Verantwortung bekannt, die negativen Effekte durch den Einsatz von Chemikalien über den gesamten Lebenszyklus zu reduzieren", so das Bundesumweltministerium. Der Umgang mit Chemikalien soll dabei nicht nur sicherer werden, man will auch aus der Verwendung der gefährlichsten Chemikalien aussteigen, heißt es in einer gemeinsamen Erklärung der beteiligten Akteure.

    Ein Hilfsfonds wird eingerichtet

    Konkret soll ein Fonds rund 100 Länder weltweit dabei unterstützen, ein System zur Einstufung und Kennzeichnung von Chemikalien einzuführen. Deutschland beteiligt sich daran mit 20 Millionen Euro. Auch die Industrie habe Beiträge angekündigt, hieß es.
    Zwar gilt das Rahmenwerk für alle Chemikalien und daraus hergestellte Produkte, aber bindend ist die Vereinbarung nicht. Lemke betonte, es komme nun darauf an, "die beschlossenen Ziele weltweit mit wirksamen Maßnahmen umzusetzen".
    Im Vorfeld hatte Bundesumweltministerin Steffie Lemke (Grüne) für einen klaren globalen Rahmen für den Umgang mit Chemikalien plädiert. "Arbeiter müssen wissen, mit welchen Stoffen sie arbeiten, Verbraucher müssen wissen, mit welchen Substanzen sie umgehen, dafür brauchen wir eine Kennzeichnung der Stoffe", so Lemke im Deutschlandfunk. Außerdem sei es wichtig, alternative Anwendungen zu entwickeln, wenn Chemikalien besonders risikoreich seien.
    Die inhaltliche Federführung bei der Konferenz hatte das UN-Umweltprogramm UNEP. Die Staatengemeinschaft hatte sich bereits im Jahr 2002 auf der Rio+10-UN-Konferenz in Johannesburg zum Ziel gesetzt, bis 2020 Chemikalien so zu produzieren und einzusetzen, dass signifikante negative Auswirkungen auf die menschliche Gesundheit und die Umwelt möglichst vermieden werden. Das Ziel wurde nicht erreicht. Doch seitdem gibt es als Politikinstrument den „Strategischen Ansatz zum Internationalen Chemikalienmanagement“ (SAICM) des UN-Umweltprogramms. Die Weltchemikalienkonferenz ist das dazugehörige Beschlussgremium.

    Warum muss es einen besseren Umgang mit Chemikalien geben?

    Anzahl und Menge der hergestellten Chemikalien wächst beständig. Laut dem Umweltbundesamt ist die Produktion von Chemikalien seit 1950 um das 50-fache gestiegen. Nach Prognosen wird es bis 2050 zu einer Verdreifachung im Vergleich zu 2010 kommen.
    Chemikalien finden sich in fast allen Gegenständen: in Jacken, Kühlschränken, Zahnseide, Creme und medizinischen Produkten. Sie werden auch in der Landwirtschaft eingesetzt und sind aus modernen Gesellschaften nicht mehr wegzudenken.
    Doch ihr Einsatz hat auch gravierende Nachteile: Chemikalien gelangen in die Umwelt, lagern sich in Menschen, Tieren und Pflanzen ab und schädigen sie. Hinzu kommt, dass die Regulierung und Schadensbewertung nicht mit der Entwicklung neuer Substanzen Schritt hält.
    Die Kosten des nachlässigen Umgangs mit Chemikalien seien weltweit hoch, betont Valerie Hickey, Umweltdirektorin bei der Weltbank. Allein vier Chemikalien verursachten zehn Millionen vorzeitige Todesfälle jährlich:  Blei, Cadmium, Asbest und Stickstoff. Oft sorgten sie zuvor für lange Krankheitsverläufe durch Vergiftungen, Nierenversagen, einer Erkrankung der Herzgefäße oder Krebs.
    Blei werden rund fünf Millionen vorzeitige Todesfälle zugerechnet. Doch diese treten nicht überall auf der Welt auf, sondern vor allem in Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommensniveau.

    Blei verursacht horrende Kosten

    Blei ist zwar mittlerweile aus Benzin verbannt worden, aber noch in Böden, Wasserleitungen und vielen Alltagsgegenständen enthalten. Es stört die körperliche und geistige Entwicklung von Kindern, die Betroffenen bleiben lebenslang belastet. Das hat auch Folgen für die gesamtwirtschaftliche Entwicklung gerade ärmerer Länder. Global, schätzt die Weltbank, verursacht schädliches Blei Kosten von zehn Billionen Dollar.
    Das Blei ist nur ein Beispiel dafür, warum ein vernünftiger Umgang mit Chemikalien und chemischem Abfall notwendig ist. Dies gilt auch als Voraussetzung, um die 17 UN-Nachhaltigkeitsziele zu erreichen, die die Staatengemeinschaft 2015 im Rahmen der Agenda 2030 vereinbart hatte.
    So heißt etwa das zwölfte Nachhaltigkeitsziel (SDG): nachhaltiger Konsum und Produktion. Die Chemiebranche hat auf dieses Ziel besonders großen Einfluss, weil sie eine der größten Industrien der Welt ist. Auch andere Nachhaltigkeitsziele wie SDG 3 (Gesundheit und Wohlbefinden), SDG 6 (Sauberes Wasser und sanitäre Einrichtungen), SDG 7 (Erschwingliche und saubere Energie), SDG 11 (Nachhaltige Städte und Gemeinden) und SDG 14 (Leben unter Wasser) sind eng mit einem vernünftigen und nachhaltigen Umgang mit Chemikalien verbunden.

    Was sind besonders schädliche Chemikalien?

    Es gibt eine Reihe von Chemikalien, die für Mensch und Natur schädlich sind. Manche sind in geringen Dosierungen nicht schädlich, andere erst in Verbindung mit anderen Chemikalien. Vor allem sogenannte Ewigkeitschemikalien stehen im Fokus der wissenschaftlichen und öffentlichen Beobachtung. Zu diesen per- und polyfluorierten Alkylverbindungen – PFAS abgekürzt – gehören mehr als 10.000 Stoffe, die in allen Lebensbereichen eingesetzt werden.
    Wie der Begriff "Ewigkeitschemikalien" bereits andeutet, sind diese praktisch unzerstörbar. Wegen ihrer wasser-, fett- und schmutzabweisenden Eigenschaften werden sie in vielen Produkten eingesetzt. Durch den Einsatz in Waren des täglichen Bedarfs wie Bekleidung, Kosmetik und Verpackungen oder in der Industrie gelangen sie in die Umwelt. Dort können sie sich in Organismen ablagern und diese langfristig und dauerhaft schädigen.
    Mittlerweile lassen sich PFAS-Verbindungen überall auf der Welt nachweisen: in Böden, den Meeren, in der Arktis oder im Eis des Südpols. Dass sie von dort jemals wieder verschwinden, kann bezweifelt werden. In Menschen können sich PFAS etwa in der Leber anlagern oder sich negativ auf den Hormonhaushalt oder das Immunsystem auswirken.
    Chemikalien verstärken auch andere planetare Krisen. So trifft der Einsatz von chemisch hergestellten Pestiziden in der Landwirtschaft oft nicht nur Schädlinge, sondern auch eigentlich nützliche Pflanzen und Lebewesen und verstärkt den Rückgang der Artenvieltfalt.
    Zudem steht die Chemiebranche weltweit an dritter Stelle des industriellen Ausstoßes von Kohlendioxid. Daher kommt das Umweltbundesamt zu dem Schluss: „Chemikalien verschmutzen nicht nur unsere Umwelt, sondern tragen auch zur globalen Erwärmung und zur Erschöpfung der Ressourcen bei.“

    Wie könnte ein sicherer Umgang mit Chemikalien aussehen?

    Ein Konzept für den zukünftigen, nachhaltigen Umgang mit Chemie hat das Umweltprogramm der Vereinten Nationen (UNEP) gemeinsam mit Expertinnen und Experten erarbeitet. Dafür wurden zehn Ziele formuliert, die sowohl Innovation fördern als auch dabei helfen sollen, die UN-Nachhaltigkeitsziele zu erreichen.

    Zehn Ziele einer grünen und nachhaltigen Chemie

    1. Minimierung der chemischen Risiken
    2. Vermeidung von unerwünschten Substitutionen und Alternativen
    3. Nachhaltige Beschaffung von Ressourcen und Rohstoffen
    4. Förderung der Nachhaltigkeit von Produktionsprozessen
    5. Förderung der Nachhaltigkeit von Produkten
    6. Minimierung der Chemikalienfreisetzung und -verschmutzung
    7. Ermöglichung ungiftiger Kreisläufe und Minimierung von Abfällen
    8. Maximierung des gesellschaftlichen Nutzens
    9. Schutz von Beschäftigten, Verbrauchern und gefährdeten Bevölkerungsgruppen
    10. Entwicklung von Lösungen für Herausforderungen im Bereich der Nachhaltigkeit
    In wohlhabenden Ländern wird der Einsatz von Chemikalien bereits staatlich reguliert – bis zum Verbot von schädlichen Substanzen. So wurde beispielsweise infolge der ersten UN-Umweltkonferenz 1972 in Stockholm der Einsatz von zahlreichen Chemikalien eingeschränkt oder sogar ganz verboten.
    In der Europäischen Union ist seit 2007 die "REACH-Verordnung" in Kraft. Diese soll Mensch und Natur vor den Risiken von Chemikalien schützen. Dabei muss die Industrie nachweisen können, dass ihre Produkte nicht schädlich sind. Dafür werden Informationen über Stoffe gesammelt und bewertet; ggf. können sie auch verboten werden.
    Auf EU-Ebene gibt es einen Vorschlag von verschiedenen Mitgliedsstaaten, darunter auch Deutschland, sogenannte Ewigkeitschemikalien (PFAS) nach und nach zu verbieten bzw. deren Nutzung stark einzuschränken. Damit verbunden ist auch die Hoffnung, dass die Hersteller Alternativen zu den bisherigen Substanzen entwickeln.

    rzr, jr