Nach einem neuen Forschungsbericht des Kinderhilfswerks der Vereinten Nationen leben mehr als eine Million Kinder in Deutschland dauerhaft in Armut. Der Anteil armer Kinder und Jugendlicher ist laut Unicef seit einem Jahrzehnt unverändert hoch. Nach Ansicht des Hilfswerks fehlen in Deutschland politische Antworten und Prioritäten, um Kinderarmut messbar und dauerhaft zu senken.
Die Zahlen zur Kinderarmut in Deutschland variieren - je nachdem, wie Armut definiert wird, kommen Studien zu unterschiedlichen Ergebnissen. So kam die Bertelsmann-Stiftung 2020 in einer Untersuchung zu dem Schluss, dass 2,8 Millionen Kinder und Jugendliche in Armut aufwachsen. Nach Angaben des Bundesfamilienministeriums haben 5,6 Millionen Kinder und Jugendliche Anspruch auf die geplante Kindergrundsicherung.
Im Alltag heißt das für betroffene Kinder, das Geld für Hobbys, Nachhilfe, Urlaub und gesundes Essen fehlt. Es gibt zwar viele staatliche Hilfen, doch diese müssen in der Regel einzeln beantragt werden, viele Antragstellerinnen und Antragsteller sind davon überfordert. Mit der Kindergrundsicherung soll das System vereinfacht werden. Wegen der Haushaltkrise ist derzeit aber offen, wie es damit weitergeht.
Wie wird Kinderarmut definiert?
Es gibt keine verbindliche und einheitliche Definition von Kinderarmut. Gemessen wird Kinderarmut oft als relative Einkommensarmut. Kinder gelten demnach als „arm”, wenn sie in einem Haushalt mit weniger als 60 Prozent des mittleren Haushaltseinkommens aufwachsen.
Nach Definition der Europäischen Gemeinschaftsstatistik über Einkommen und Lebensbedingungen (EU-SILC) lag dieser Schwellenwert im Jahr 2022 für eine alleinlebende Person in Deutschland bei 1250 Euro netto im Monat, für zwei Erwachsene mit zwei Kindern unter 14 Jahren waren es 2625 Euro.
Was sind Ursachen und Risikofaktoren für Kinderarmut?
Besonders armutsgefährdet sind Kinder aus sozioökonomisch benachteiligten Bevölkerungsgruppen wie Migrant:innen und Geflüchtete, körperlich oder geistig beeinträchtigte Kinder, Angehörige ethnischer Minderheiten oder Kinder mit einem alleinerziehenden Elternteil. Zu diesem Ergebnis kommt eine Untersuchung der Organisation Save the Children.
Alleinerziehende Personen können oft nur eingeschränkt arbeiten, so das Bundesfamilienministerium. Das verringert das Einkommen. Zudem gibt es nach Angaben des Deutschen Kinderhilfswerks immer mehr Eltern, die zwar Vollzeit arbeiten, aber deren Einkommen nur knapp über dem Sozialhilfesatz liegt.
Welche Folgen hat die Armut für betroffene Kinder?
Armut bedeutet für Minderjährige, dass sie Benachteiligungen ausgesetzt sind, die sich unter Umständen auf ihr gesamtes Leben auswirken. Kinder, die dauerhaft oder immer wieder in prekären Verhältnissen leben, zeigen laut einem aktuellen Bericht des Unicef-Forschungsinstituts Innocenti mehr als doppelt so häufig soziale und emotionale Verhaltensauffälligkeiten. Viele von ihnen haben einen geringeren Wortschatz und erkranken häufiger an Depressionen als Kinder, die in Wohlstand aufwachsen. Auch ihr Zugang zu Bildung ist schlechter - darauf verweist Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbands.
Armutsgefährdeten Kindern und Jugendlichen fehlt demnach zuhause oft auch ein Rückzugsraum, wo sie beispielsweise in Ruhe Hausaufgaben machen können - als auch die notwendige technische Ausstattung dafür. Wenn es zudem noch einen Migrationshintergrund gebe und die Eltern nicht besonders gut Deutsch sprächen, hätten die Kinder „ganz schlechte Chancen“, kritisiert Schneider.
Kinder bekämen sehr schnell mit, wenn die Eltern sich abrackerten und "trotzdem auf keinen grünen Zweig kommen“, sagt Schneider. Mit solchen Erfahrungen könne ein Kind keinen Lebensmut entwickeln: „Und Kinder ohne Lebensmut lassen sich nicht bilden.“ Kinder in Armut machten nicht die Erfahrung, Teil der Gesellschaft zu sein: "Wenn sie materiell bedingt nie mithalten können, nicht zum Kindergeburtstag gehen, nicht ins Kino mitgehen können. Wenn sie einfach merken: Wir sind anders, wir gehören nicht dazu.“
Prekäre Lebenslagen verfestigen sich
In manchen Familien habe sich die prekäre Lebenssituation inzwischen so verfestigt, dass Armut „vererbt“ werde, sagt Bernd Siggelkow, Gründer der Arche in Berlin. „Mittlerweile ist es so, dass Kinder oder Familien vier Generationen brauchen, um aus der Armut rauszukommen. Unsere Kinder vererben ihre Armut weiter, wenn man sie nicht an die Hand nimmt und ihnen die Schulausbildung ermöglicht, sie in Berufe bringt.“
Wo steht Deutschland im internationalen Vergleich?
Laut dem Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen rangiert Deutschland in Sachen Kinderarmut auf Platz 25 von insgesamt 39 untersuchten OECD- und EU-Staaten. Das UN-Kinderhilfswerk fordert die Bundesregierung deshalb auf, mehr für Kinder und Jugendliche in Armut zu tun.
Im Vergleich schneiden Frankreich und Großbritannien laut Unicef am schlechtesten ab. In Frankreich sei die Kinderarmut von 2012 bis 2021 um zehn Prozent gestiegen, in Großbritannien sogar um zwanzig Prozent, heißt es in einer neuen Unicef-Studie. So leben nach Angaben der Wohltätigkeitsorganisation Joseph Rowntree Foundation in Großbritannien mehr als eine Million Kinder in schwerster Armut.
Jedes vierte Kind in Europa ist von Armut bedroht
Auch die Organisation Save the Children hat die Situation in Europa untersucht. Demnach erhöhte sich die Zahl der von Armut und sozialer Ausgrenzung bedrohten Minderjährigen im Jahr 2021 um 200.000 auf 19,6 Millionen. Somit sei jedes vierte Kind in Europa betroffen.
Der Organisation zufolge bestand im Jahr 2021 das höchste Armutsrisiko für Kinder in Rumänien: Dort waren 41,5 Prozent der Kinder von Armut bedroht, gefolgt von Spanien mit 33,4 Prozent. Deutschland lag mit 23,5 Prozent leicht unter dem europäischen Durchschnitt, während das Armutsrisiko für Kinder in Dänemark (14 Prozent) und Finnland (13,2 Prozent) am niedrigsten war.
Wie kann Kinderarmut bekämpft werden?
Für Bundesfamilienministerin Lisa Paus (Bündnis 90/Grüne) ist die geplante Kindergrundsicherung das „Instrument, um Kinderarmut zu bekämpfen“. Ab 2025 sollen darin verschiedene staatliche Leistungen gebündelt werden. In Deutschland können einkommensschwache Familien und Alleinerziehende zwar zahlreiche Hilfen beantragen, doch die Anträge müssen bei unterschiedlichen staatlichen Stellen eingereicht werden. Das ist unübersichtlich - viele Berechtigte wissen oft gar nicht, was ihnen gesetzlich zusteht.
Nach langem Streit hatten sich Familienministerin Lisa Paus und Finanzminister Christian Lindner (FDP) schließlich auf die Finanzierung der Kindergrundsicherung geeinigt. Statt der ursprünglich geforderten zwölf Milliarden Euro waren ab Januar 2025 2,4 Milliarden Euro jährlich vorgesehen. Wegen der Haushaltskrise nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum zweiten Nachtragshaushalt 2021 wird die Einführung der Kindergrundsicherung nun aber noch einmal geprüft.
Selbst wenn die Kindergrundsicherung kommt: Sie allein löse nicht das umfassende Problem der Kinderarmut, meint der Sozialverband Deutschland. Lösungsansätze, die allein auf die Beseitigung der finanziellen Bedürftigkeit abzielten, übersähen die Komplexität unterschiedlicher Lebenswelten von Kindern: „Pauschale Vorschläge – wie die Forderung nach einer Kindergrundsicherung – können den Erfordernissen an eine bedarfsgerechte Unterstützung Einzelner nicht gerecht werden.“
Um Kinderarmut wirksam zu beseitigen, müssten Kinder und Jugendliche durch entsprechende Infrastruktur und Bildungsprogramme nachhaltiger gefördert werden, zudem seien soziale Unterstützungsleistungen für die gesamte Familie nötig. „Die Familienpolitik, Bildungspolitik, Gesundheitspolitik sowie die Jugendhilfe und Sozialpolitik müssen sich mit dem Thema Kinderarmut auseinandersetzen und Lösungen zur Verbesserung der Situation von Kindern aus sozial benachteiligten Familien entwickeln“, heißt es beim Sozialverband Deutschland.
Warum lohnen sich Investitionen gegen Kinderarmut?
Kinderarmut ist langfristig teuer für Staat und Gesellschaft. Zu diesem Ergebnis kommt ein Gutachten des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, das im Auftrag der Diakonie erstellt wurde. Kinderarmut sorge langfristig für höhere öffentliche Ausgaben für die medizinische Versorgung, zudem bezögen die Betroffenen ebenso langfristig Leistungen aus den Sozialversicherungssystemen, sagt Diakonie-Präsident Ulrich Lilie. Daher gelte: Wer bei Kindern spare, zahle später drauf.
Bei der Bekämpfung von Armut gehe es in erster Linie um die Betroffenen, sagt Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung. Aber auch Gesellschaft und Wirtschaft als Ganzes hätten einen „enormen Nutzen“ davon, wenn der Sozialstaat entlastet werde. So belaufen sich laut der DIW-Untersuchung die Kosten einer verfestigten Kinderarmut in Deutschland auf jährlich 110 bis 120 Milliarden Euro.
jad