Valentina und Rafael wollen ihre richtigen Namen nicht nennen aus Angst vor einer Kündigung. Sie sind in der Fleischindustrie beschäftigt. „Ich wollte etwas besser verdienen, weil ich zwei Kinder habe, die ich unterstützen möchte. Ich bin durch einen inoffiziellen Vermittler hierher gekommen, meine Kinder sind in Rumänien.“
Der Rumäne war auf dem Bau tätig, bevor er über eine Anzeige bei Facebook auf den Schleuser stieß. Anders seine jüngere Arbeitskollegin. Die frühere Buchhalterin folgte vor zwei Jahren mit ihrer Tochter dem Mann und der Mutter, um in Deutschland Geld zu verdienen und das in Rumänien neu gebaute Haus abzubezahlen.
Stressfaktor unregelmäßige Arbeitszeit
Ihre Arbeit am Band und oft an mehreren Maschinen gleichzeitig empfinden beide als hart. Besonders stresse sie die unregelmäßige Arbeitszeit: „Wir haben darüber keine Kontrolle. Wer in der zweiten Schicht arbeitet, weiß, wann er anfängt - aber nicht, wann die Schicht zu Ende ist. Noch schlimmer ist es in den Ferien und in der Weihnachtszeit, wenn viel Fleisch nachgefragt wird. Wir müssen dann zum Beispiel um drei Uhr nachmittags anfangen zu arbeiten und bis morgens um 4 Uhr durchhalten. Besonders schwer ist es samstags, wo wir besonders viel arbeiten müssen. Dann haben wir nur den Sonntag, um uns zu erholen. Montags dagegen gibt es manchmal nicht so viel zu tun, und wir müssen früher nach Hause gehen.“
Zwar dürfen seit Inkrafttreten des Arbeitsschutzkontrollgesetzes am 1. Januar 2021 Schlachthöfe und Fleischfabriken Arbeitskräfte nicht mehr über Werkverträge und nur noch eingeschränkt über Leiharbeit beschäftigen. Damit hat der Gesetzgeber auf die Proteste von Arbeitenden, Kirchen und Gewerkschaften reagiert, die vor allem nach dem Skandal um Corona-Masseninfektionen bei Tönnies in Rheda-Wiedenbrück aufkamen.
Arbeitsbedingungen in Fleischindustrie trotz neuem Gesetz schlecht
Die Arbeitsbedingungen seien jedoch häufig schlecht, erzählt Rafael. In seiner Zeit in der Fleischfabrik habe er nur selten wegen Krankheit gefehlt. Danach wurde seine Arbeitszeit reduziert und er verdiente viel weniger. Außerdem würden Teile des Lohns einbehalten, sagt er, und ebenso seine Kollegin.
„Ich sollte normalerweise eine Prämie dafür bekommen. Aber ich bekomme sie nicht, und ich bin auch nicht an der Maschine eingearbeitet worden. Ich habe mir das selbst beigebracht. Laut Vertrag verdienen wir elf Euro pro Stunde. Aber die Stunden, die wir arbeiten, werden nicht alle bezahlt.“
Über den Zusammenhang von prekärer Arbeit und Migration ist bislang wenig geforscht worden. In den letzten Jahren hat das Soziologische Forschungsinstitut Göttingen, kurz SOFI, allerdings genauer untersucht, wie in Deutschland neu ankommende Migrantinnen und Migranten Arbeit finden und unter welchen Bedingungen sie beschäftigt sind. Dr. Peter Birke ist dort wissenschaftlicher Mitarbeiter:
„Da sind wir schnell drauf gestoßen, dass - statistisch gesehen - Geflüchtete, also Menschen, die aus Drittstaaten, aber auch Leute aus EU-Migration, insbesondere aus den neuen Beitrittsländern seit 2000 jetzt so mehrheitlich in Bereichen ankommen, die durch niedrige Löhne, schlechte Arbeitsbedingungen und prekäre Beschäftigungsbedingungen gekennzeichnet sind.“
Peter Birke veröffentlicht in Kürze das Buch „Grenzen aus Glas. Arbeit, Rassismus und Kämpfe der Migration in Deutschland“. Darin nimmt er prekäre Beschäftigung in der Fleischindustrie und beim Versandhandel Amazon unter die Lupe.
Fleischindustrie und Versandhandel: überwiegend migrantische Beschäftigte
„Die Fleischindustrie, das sind ganz moderne, sehr schnell expandierende Betriebe. Man ist da ganz klar im Zentrum der technologischen Entwicklung. Und trotzdem gibt es da Arbeitsbedingungen, die dazu führen, dass 100 Prozent der Beschäftigten, fast 100 Prozent in vielen Bereichen, keinen deutschen Pass haben und gezwungen sind, sich auf diese Arbeitsbedingungen zumindest für eine Zeit einzulassen. Und diese Gleichzeitigkeit von enormer ökonomischer Expansion und Ausbeutung, das hat uns erst mal interessiert.“
Der Soziologe spricht von einer "drastischen Vernutzung von Arbeitskräften". In der Fleischindustrie müssen sie mit immer gleichen Handgriffen und in ständiger Kälte Tiere schlachten, zerlegen und verpacken. Die Arbeit ist physisch anstrengend und gefährlich. Auch beim Versandhandel wiederholen sich die Arbeitsabläufe, die mit schwerem Heben, langen Wegen und Zeitdruck verbunden sind.
Multiple Prekarität betrifft Arbeits- und Lebensverhältnisse
Es geht jedoch um mehr als prekäre Arbeit, betont Peter Birke. Migranten und Migrantinnen leben in multipler Prekarität, das heißt, die Arbeits- und Lebensverhältnisse insgesamt sind unsicher und erlauben keine Zukunftsplanung. Eine wichtige Rolle spielt dabei der Aufenthaltstitel für Menschen ohne deutsche Staatsbürgerschaft.
„Eine wesentliche These unseres Buches, die man überprüfen und weiterführen müsste, dass Aufenthaltsrecht und prekäre Arbeit in Deutschland einer der wesentlichen Motoren für die multiple Prekarität ist, weil es Leute in Positionen bringt, in denen sie alles mögliche akzeptieren müssen, um formal als Erwerbsarbeitende existieren zu können.“
Prekarität wurde als Begriff in Frankreich um 1900 bekannter. Die Soziologen Pierre Bourdieu und Robert Castel beschrieben damit die Arbeits- und Lebensbedingungen in den Banlieues der großen Städte, sagt Nicole Mayer-Ahuja, Professorin für Soziologie von Arbeit an der Universität Göttingen. Mit seinem Text „Prekarität ist überall“ habe Bourdieu eine erste große Diskussion über prekäre Arbeit ausgelöst.
Unsicherheit beherrscht prekäre und feste Arbeitsverhältnisse
„In dem Maße, wie Arbeitsbedingungen unsicherer werden, wird auch Lebensplanung unsicher. Die Art von Unsicherheit ist quasi so etwas wie eine neue Herrschaftsform, die dazu führt, Arbeiter zu disziplinieren und die alle betrifft. Sowohl die noch fest Angestellten, die aber immer mehr prekäre Ränder um sich haben, dadurch unter Druck geraten, mehr leisten müssten, um ihre scheinbar sicheren Jobs zu verteidigen. Als auch diejenigen, die das haben, was man im weiteren Verlauf als prekäre Beschäftigung bezeichnet hat – also zu Bedingungen arbeiten, die in verschiedener Hinsicht hinter dem zurückbleiben, was man als Normalarbeitsverhältnis bezeichnen würde.“
Die Soziologin hat kürzlich das Buch „Verkannte Leistungsträger:innen“ herausgegeben, das anschaulich über das Arbeiten in Niedriglohnbranchen berichtet. Prekäre Jobs etwa in der Gebäudereinigung und in der Pflege unterschreiten demnach das unbefristete, geregelte und rechtlich abgesicherte Normalarbeitsverhältnis, das sich in den Nachkriegsjahrzehnten in Deutschland etablierte, in dreierlei Hinsicht: durch schlechte Bezahlung, durch befristete, nicht an die Sozialversicherung gebundene Löhne und weil die feste Einbindung in einen Kollegenkreis fehle. Mayer-Ahuja spricht von einem Umbruch:
„Mitte der 70er-Jahre ist diese ökonomische Wachstumsphase zu Ende, die es leichter gemacht hat, auch mehr Arbeitsrechte zu verankern. Dann strauchelt die Wirtschaft, die Arbeitslosenzahlen gehen hoch, und ab ungefähr Mitte der 80er-Jahre beginnt eine Politik der Prekarisierung. Also '85 kommt in Deutschland das Beschäftigungsförderungsgesetz, wo rechtliche Spielräume für Leiharbeit, für Befristung erweitert werden, Teilzeit aufgewertet wird als spezieller Job für Frauen, geringfügige Beschäftigung ohne Sozialversicherung so langsam in die Gänge kommt.“
Politik der Prekarisierung muss noch erforscht werden
Die Politik der Prekarisierung sei noch nicht genug im Blick, so die Wissenschaftlerin. Mehr wisse man mittlerweile über prekäre Arbeit – auch wenn deren Protagonisten häufig unsichtbar oder unbeachtet seien.
Ein junger Mann, der namentlich nicht genannt und nicht an seiner Stimme erkannt werden möchte, erzählt, dass er seit einigen Jahren im Versandhandel arbeitet. „Du bestellst ein Handy und ein Stift und ein Laptop. Und das kommt zusammen in ein Paket. Die Arbeit ist anstrengend, weil man muss schnell machen. Und es gibt eine Rate: Wie viel Pakete hast du in einer Stunde geschafft?“
80 bis 90 Prozent der Mitarbeiter in dem Verteilzentrum seien Ausländer. Sie verdienen Geld, um es ihrer Familie in Afrika oder auf den Philippinen zu schicken. Und sie halten den Mund, um ihren Job nicht zu verlieren, erzählt er.
Versandhandel: Kündigungen, Kontrolle und Druck
Er selbst komme aus Afrika und habe Kinder. „Ich kenne einen Mitarbeiter, und wegen einer Ermahnung, weil die Maske war runtergerutscht, das hat jemand gesehen, er fliegt raus. Keine Verlängerung, weil er hat keinen Festvertrag. Und der arme Mann sagt: Ich brauche diese Arbeit!“
In Teilen des Versandhandels herrsche eine Hire-and-fire-Mentalität, sagt Soziologe Birke. An bestimmten Tagen würden Mitarbeitern, die nur befristet beschäftigt seien, die Arbeitsmittel weggenommen. Sie dürften nicht mehr in den Betrieb kommen. Das Ritual diene dazu, Arbeitskräfte auszutauschen.
„Die Arbeitszeit, die Pausenzeit, der Urlaub, das Weihnachtsgeld: Es gibt viele Punkte, über die unser Betriebsrat nicht stark genug mit dem Arbeitgeber verhandelt“, kritisiert der Mitarbeiter.
„Bist du krank, sagt der Vorarbeiter: 'Komm her. Was ist los? Du warst 2019 krank und 2020. Das sind drei Jahre hintereinander. Was kann man machen, damit du aufhörst krank zu sein?' Wenn du schlau bist und die Gesetze in Deutschland kennst, sagst du: 'Das hast du gar nicht zu fragen.' Aber die armen Leute haben Angst.“
Wechselwirkung zwischen prekärer Arbeit und Haushalten
Prekäre Arbeit hat nicht nur Folgen für das Arbeitsverhältnis, sondern betrifft auch die Partner und Familien. Davon ist Natalie Grimm vom Göttinger Forschungsinstitut überzeugt. Die promovierte Soziologin untersucht 36 von Prekarität betroffene Haushalte. Dafür hat sie mit den Eltern, teilweise auch mit den Kindern und Großeltern ausführliche Interviews geführt.
„Uns geht es wirklich um die Leute, die jeden Tag gucken müssen, dass sie mit ihren Finanzen zurechtkommen, die unsicher beschäftigt sind, die nicht wissen, wie es weitergeht.“
Diese lassen sich in drei Typen prekärer Haushalte unterteilen. Neben den städtischen Solidargemeinschaften, in denen Alleinerziehende oder Eltern viel Zeit und möglichst viel Geld für die Kinder aufwenden, gibt es die sogenannten ideellen Bündnisse: Gut gebildete Singles, die zeitweise mit Partner oder in einer Wohngemeinschaft leben und sich als Soloselbständige, mit Projektarbeit oder in der Wissenschaft über Wasser halten.
Diese lassen sich in drei Typen prekärer Haushalte unterteilen. Neben den städtischen Solidargemeinschaften, in denen Alleinerziehende oder Eltern viel Zeit und möglichst viel Geld für die Kinder aufwenden, gibt es die sogenannten ideellen Bündnisse: Gut gebildete Singles, die zeitweise mit Partner oder in einer Wohngemeinschaft leben und sich als Soloselbständige, mit Projektarbeit oder in der Wissenschaft über Wasser halten.
Ganz anders die mechanischen Notgemeinschaften, wie Natalie Grimm es nennt, wo außer der Arbeit auch der Haushalt selbst zur prekären Lage beiträgt: „Es sind Haushalte, die leben häufig in ländlichen Regionen mit schlechter Infrastruktur, die haben häufig auch Schulden, haben einen relativ geringen Ausbildungsgrad, also alle Familienmitglieder. Sie arbeiten als Reinigungskräfte, Verkäuferinnen, Fernfahrer, auch Altenpflegerinnen, häufig in Niedriglohn-Branchen. Was ganz besonders ist, ist, dass wirklich Mehrfachbeschäftigungen eine große Rolle spielen und arbeiten im Schichtdienst.“
Der Alltag ist kompliziert. Wenn ein Auto da ist, muss täglich neu geregelt werden, wer mit wem wohin fährt. Es gebe häufig Streit und Trennungen, die Kinder würden dazu angehalten, möglichst schnell zum Einkommen beizutragen.
„Was mich schon am meisten beeindruckt hat, ist wie viel die Haushalte, die prekären Haushalte jeden Tag zu organisieren haben und wie sehr sie versuchen, gut ihren Alltag zu meistern und was das bedeutet, dass man jeden Tag oder fast jeden Tag Dinge neu aushandeln muss und sich neu überlegen muss.“
Haushalte können Prekarität verringern oder verstärken
Die Frage, ob Haushalte Prekarität dämpfen oder beschleunigen, sei nicht eindeutig zu beantworten, sagt Natalie Grimm. Leben etwa Großeltern mit im Haus, können sie im Alltag helfen oder diesen erschweren, weil sie gepflegt werden müssen.
Wohin führt der Weg von Menschen in prekären Lebensumständen? Nicole Mayer-Ahuja: „Prekäre Beschäftigung wird ja normalerweise nicht unter der Überschrift soziale Ungleichheit und Armut diskutiert, sondern unter der Überschrift Arbeitsmarktflexibilisierung. Der Mythos, der da dahintersteckt, ist ja im Grunde genommen: Wir schaffen Sprungbretter, um Menschen in Beschäftigung zu bringen. Damit haben sie erst mal einen Einstieg in den Arbeitsmarkt, damit können sie sich weiterentwickeln. Da wissen wir, dass das in den meisten Fällen so nicht funktioniert, sondern dass Leute in den prekären Bereichen feststecken.“
Erwerbsarbeit kann zu Ausschluss statt zu Integration führen
Dass allein schon Erwerbsarbeit die Integration, die Teilhabe von Beschäftigten stärkt, sei ebenfalls ein Mythos, erklärt Peter Birke: „In einer Situation, in der betriebliche Mitbestimmungsrechte verweigert werden, ausbeuterische Arbeitsbedingungen existieren und die Leute in einer Situation sind, in der sie zum Beispiel sieben Tage in der Woche in der Nachtschicht Maschinen reinigen mit Kolleginnen aus xy Ländern zusammen, da kann man wirklich nicht sagen, dass das zur gesellschaftlichen Teilhabe beiträgt, sondern eher ein gesellschaftlicher Ausschluss durch Arbeit stattfindet, eine Segregierung durch Arbeit stattfindet.“
Im Versandhandel und in der Fleischindustrie beobachtet Birke zudem eine doppelte Unterschichtung. Der hohe Migrantenanteil führe dazu, dass diese unter sich blieben. Zugleich gebe es unter ihnen eine Hierarchisierung - was Valentina und Rafael aus ihrer Schichtarbeit kennen.
„Es gibt zwei Vorarbeiter. Beide behandeln die Arbeitskräfte gleich schlecht. Wer nicht zu ihrer Nationalität gehört, wird schlecht behandelt. Diese Schreierei und Schimpfwörter hören wir die ganze Zeit. Schlechte Behandlung ist die Regel.“
Ziel: Geld verdienen, Betrieb wechseln oder zurück nach Hause
Für beide steht fest, dass sie nur noch eine begrenzte Zeit beim Fleischproduzenten arbeiten wollen. „Wenn ich Schlachthof höre, renne ich in die andere Richtung. Ich würde besser arbeitslos werden und nach Hause gehen. Wenn es einen wichtigen Grund gibt, sollte man hier bleiben und arbeiten, bis das Ziel erfüllt ist. Danach geht man zurück.“
130 Interviews hat Peter Birke mit Managern und Betriebsräten, vor allem aber mit den Arbeitskräften geführt. Bei ihnen stellte er immer wieder den Wunsch fest, diese Arbeit nicht auf Dauer machen zu müssen.
„Es gibt schon Menschen, die es auch fünf Jahre oder zehn Jahre in der Fleischindustrie aushalten. Aber von den 130 Interviews sind sicher zwei Drittel, eher drei Viertel der Menschen nicht mehr in diesen Betrieben, sondern haben mittlerweile etwas anderes gefunden. Das heißt, es wird oft als eine biographische Übergangslösung betrachtet, die es dann manchmal nicht ist, was ein Problem ist. Aber das hält die Leute zunächst einmal so aufrecht.“