“Die Welt zum Sprechen bringen” – das möchte „Zeit Online“ im Rahmen eines Digital-Experiments namens “The World Talks”. Hierzu werden Menschen, die möglichst weit voneinander entfernt leben und unterschiedliche Positionen zu verschiedenartigen Sachverhalten haben, zusammengebracht. Via Videotelefonie starten sie einen Dialog, der unter normalen Umständen nie zustande kommen würde.
Um dabei einem Gesprächspartner oder einer Gesprächspartnerin zugewiesen zu werden, müssen Interessenten zunächst einige Ja/Nein-Fragen beantworten – wie beispielsweise: Ist die Welt heute ein besserer Ort als vor 20 Jahren? Sollten alle Länder Geflüchtete aufnehmen? Sollte Klimaschutz immer Priorität haben?
Es sollen diskursive Demarkationslinien überwunden werden, Perspektiven, die geographisch und ideell weit auseinanderliegen, aufeinandertreffen. Nun lautete eine der Ja/Nein-Fragen, die den Teilnehmenden gestellt wird und mit der die „Zeit“ auf Twitter für das Experiment geworben hatte: „Sollten Menschen jeden Geschlechts die gleichen Rechte haben?“
Fundamentale Menschenrechte zur Verhandlung gestellt
Lassen Sie die Frage mal kurz sacken. „Sollten Menschen jeden Geschlechts die gleichen Rechte haben?“ Offensichtlich ging es bei der Frage darum, Menschen zu finden, die der Ansicht sind, dass nicht alle Geschlechter gleiche Rechte haben sollten – damit sie dann an jemanden vermittelt werden, der vom Gegenteil überzeugt ist.
Was aber stattdessen passiert: man stellt fundamentale Menschenrechte zur Verhandlung, indem man suggeriert, dass der universelle Wert der Gleichheit der Menschen zur Diskussion stehen kann. Es geht hierbei wohlgemerkt nicht um ein rhetorisches Gedankenspiel im Debattierclub, wo jemand eine unvertretbare Position einnimmt, um die Kraft seiner Argumentation zu demonstrieren, sondern um tatsächliche, echte Meinungen.
„Zeit“ löscht Kachel, die Frage bleibt aber im Katalog
Und es stellt sich die Frage, warum „Zeit Online“ bzw. die „Zeit“ insbesondere mit solch einer Fragestellung auf das Experiment hinweisen möchte. Die Kommunikationswissenschaftlerin und Host des Medienpodcasts “quoted” Nadia Zaboura, welche den Sachverhalt auf Twitter sichtbar machte, schrieb in ihrer Kritik richtigerweise: „‘Menschenrechte – oder soll man es lassen?‘ Stets ein top Klick-Treiber. Auf Kosten der Sicherheit ihrer Mitmenschen.“
Die „Zeit“ löschte die bewerbende Kachel mit der obskuren Frage von ihren digitalen Kanälen – die Frage selbst ist allerdings weiterhin Teil des Fragenkatalogs, wenn man an diesem “Weltgespräch” teilnehmen möchte. Auf Twitter erklärt die „Zeit“:
“Je uneiniger die Angemeldeten sind und je weiter sie voneinander entfernt leben, desto wahrscheinlicher ist es, dass unser Algorithmus sie zusammenbringt. (..) Die Frage ‘Sollten Menschen jeden Geschlechts die gleichen Rechte haben?’ ist bedauerlicherweise ebenfalls eine, bei der es weltweit keinen Konsens gibt.”
Journalismus bedeutet hier eine Seite einzunehmen
Die „Zeit“ betont zwar, dass sie sich das Infragestellen grundlegender Menschenrechte nicht zu eigen macht - “Dass wir die Teilnehmenden über diese Frage diskutieren lassen, bedeutet nicht, dass wir selbst die gleichen Rechte aller Geschlechter in Frage stellen.”
Damit macht es sich das Blatt aber zu einfach. Die „Zeit“ und ihre Online-Redaktion hat eine die Verantwortung für die Bühne, auf der die eigentlich unverhandelbaren Werte dann doch als verhandelbar präsentiert werden. Ein bisschen Menschenfeindlichkeit, angeblich, um so einen echten Austausch ermöglichen zu können. Kann das der Maßstab für ein Gespräch sein: das Zulassen der größten Rückwärtsgewandtheit überhaupt?
Dass es Menschen gibt, welche die Gleichberechtigung aller Menschen ablehnen, bedeutet nicht, dass es journalistisch vertretbar wäre, diese Position im Namen des Dialogs zuzulassen. Journalismus bedeutet hier eine Seite einzunehmen: die der Unverhandelbarkeit der Menschenrechte.