Donnerstag, 18. April 2024

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Liberale Partei "Momentum"
Ungarns Europafreunde

Bei den Kommunalwahlen in Ungarn Mitte Oktober gingen Budapest und andere große Städte an die Opposition. Die Strategie dahinter: Parteien aller couleur unterstützten die Kandidaten mit den größten Chancen. Im Oppositionsbündnis vertreten war auch die europafreundliche Partei "Momentum".

Von Stephan Ozsváth | 06.11.2019
Mitglieder der liberalen ungarischen Oppositionspartei "Momentum" in Budapest
Mitglieder der liberalen ungarischen Oppositionspartei "Momentum" in Budapest, darunter Andras Worb (links), die Europaabgeordnete Katalin Cséh (zweite von links) und Béla Palocsai (ganz rechts) (Deutschlandradio/ Stephan Ozsváth)
Der Bus hält auf dem Hauptplatz von Rákospalota, ein paar Rentner und Obdachlose haben es sich auf den Parkbänken gemütlich gemacht. Der Kiosk verkauft kleine Strudel, Schnitzel-Brötchen und Getränke für wenige Forint. Rund um den Platz Plattenbauten. Rákospalota ist ein gemischter Bezirk, erzählt Béla Palocsai, aber eher eine Hochburg der Opposition, sagt der Mann mit dem Pferdeschwanz und dem weißen Bauernhemd, der für die liberale Partei "Momentum" antritt.
"Wenn zehn die Tür aufmachen, gibt es vielleicht einen, der Fidesz-Wähler ist, aber nur sehr selten sagen sie das auch. Keiner sagt: Nein, Danke. Ich wähle Fidesz. Sondern eher: Nein, Danke. Das sind dann die Leute, die entweder Fidesz wählen oder sich gar nicht für Politik interessieren. Das ist weit verbreitet. Sie haben ihnen schon soviel versprochen, jetzt ist ihnen alles egal."
Bleierne Schwere hat sich auf das Land gelegt
Auch der Politikverdruss sei ein Grund, warum die Partei von Viktor Orbán so lange punkten konnte, meint der liberale Oppositionspolitiker. Schon im zehnten Jahr regiert Orbán das Land jetzt mit Zweidrittelmehrheit, die Opposition ist – auf Landesebene – an die Wand gedrückt.
Dieser Beitrag gehört zur fünfteiligen Reportagereihe Ungarn und Europa - 30 Jahre Umbruch.
Die Medien, das Geld, darüber verfügt die Regierungspartei Fidesz, das Wahlgesetz wurde zugunsten des Stärksten geändert. Bleierne Schwere hat sich deshalb in den letzten Jahren auf das Land gelegt, ein Gefühl wie vor der Wende 1989, meint der Jungpolitiker:
"Für viele ist das hier gut so. Denn es ähnelt dem Kommunismus. Wir wissen, wer der Parteivertreter ist. Den schmieren wir. Wenn wir zum Arzt gehen, müssen wir dem Geld geben. Es fehlt nur noch, dass man den Verkäuferinnen an der Supermarkt-Kasse etwas Geld zustecken muss, wenn es Bananen gibt. Das ist ein bekanntes Land. Das ist so schön warm. Wir rücken zusammen. Wir sind damit groß geworden. Und ein westliches, demokratisches Denken ist hier gar nicht so recht angekommen. Zu Wendezeiten wollten alle nur: so weiterleben wie bisher - aber mit Farbfernseher und Kühlschrank. Das wollte die Mehrheit."
Neue Strategie der Opposition
Hoher Besuch aus Brüssel ist zum Hauptplatz des 15. Bezirks gekommen: Katalin Cséh, eine 32-jährige Europapolitikerin der liberalen Momentum-Partei. Sie wird eine paar Worte zu den zwei Handvoll Interessierten sprechen, gemeinsam mit einer Politikerin einer anderen Oppositionspartei, die sie unterstützt – eine neue Strategie: Die Opposition macht gemeinsame Sache, unterstützt die Kandidaten mit den größten Chancen. Die beiden Politikerinnen bauen sich vor großen lateinischen Zahlen auf, ein X und ein V, für den 15. Bezirk.
András Worb tritt heran, der hatte die Idee für die Deko: "Ich bin ein einfaches Parteimitglied, ich habe diese Buchstaben gespendet."
In ganz Ungarn hätte er dafür gesammelt, erzählt der Endvierziger, und dass er zwei Jobs hat. Ohne das könne man heute in Ungarn gar nicht überleben, er ist Hausmeister in einer Schule, berichtet er, und hat ein Fenster-Reinigungs-Unternehmen. Sein 20-jähriger Sohn wolle nur weg.
"Er sagte, lass uns aus diesem Land abhauen. Aber ich habe gesagt, wenn alle das Land verlassen, ändert sich nichts. Das geht nicht, dass niemand dafür kämpft, dass aus Ungarn ein normales Land wird."
Katalin Cséh sitzt für die liberale ungarische Partei "Momentum" im Europaparlament
Katalin Cséh sitzt für die liberale ungarische Partei "Momentum" im Europaparlament (picture alliance/ AP Images/ Tamas Kovacs)
Europaabgeordnete Katalin Cséh unterstützte den Wahlkampf
András Worb schimpft auf die Regierungspropaganda, die in alle Winkel des Landes krieche. Er wettert gegen die Korruption. Beklagt die maroden Krankenhäuser. Die schlechten Schulen. Als ich ihn frage, wie sich das Land in den letzten 30 Jahren verändert hat, steigen ihm Tränen in die Augen. "Ich möchte wenigstens sagen können: Wenigstens etwas habe ich getan."
Momentum sei die Partei, die am ehesten europäische Werte vertrete, sagt er. Eine junge Partei, die die Interessen seiner Generation und die seines Sohnes im Blick habe. Eine echte Europa-Partei. Für die Kommunalwahlen sei es wichtig, mit allen Parteien zusammenzuarbeiten - auch mit ganz rechts außen: "Ziel ist, Fidesz abzuwählen, und das geht nur, wenn wir uns zusammen schließen. "
Katalin Cséh, die extra aus Brüssel angereist ist, schüttelt Hände, spricht mit den Anwesenden. Die zierliche junge Frau sitzt erst seit ein paar Monaten im Europa-Parlament. "Wir haben Momentum vor drei Jahren gegründet, mit acht Leuten in einem Studentenwohnheim. Jetzt konnten wir schon zwei Abgeordnete ins Europaparlament entsenden, dank der Zehn-Prozent-Unterstützung bei der Europawahl. Ich glaube an die Kraft der Veränderung."
Die Mehrheit der Ungarn ist proeuropäisch eingestellt
Im Rückblick hat sich bei der Kommunalwahl die neue Strategie der Zusammenarbeit über die Parteigrenzen hinweg gelohnt: Der Bezirk – und die Hauptstadt Budapest - gingen an die Opposition, auch einige andere Großstädte. "Freiheit startet auf lokaler Ebene", twittert Katalin Cséh noch am Wahlabend.
Umfragen zeigen: Die Mehrheit der Ungarn ist immer noch pro-EU. Ein scheinbares Paradox zur EU-kritischen Linie der Regierung. Für seine Generation sei das ohnehin selbstverständlich, meint Kommunalpolitiker Béla Palocsai, der sich seit zwei Jahren für die europafreundliche ungarische Partei Momentum engagiert.
"Die Frage, ob wir zu Europa gehören, stellt sich für meine Generation gar nicht. Das ist ungefähr so, als ob man darüber streiten würde: Atmest Du oder nicht? Wir atmen...!"