Donnerstag, 18. April 2024

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Olympia-Attentat München 1972
Als der Terror über die "heiteren Spiele" kam

Während der Olympischen Spiele 1972 in München überfielen am 5. September palästinensische Terroristen die israelische Mannschaft. Nach einem dilettantischen Befreiungsversuch der deutschen Polizei endete die Geiselnahme in einem Blutbad.

Von Andreas Baum | 05.09.2022
Einer der acht Terroristen, die Mitglieder des israelischen olympischen Teams in ihrer Unterkunft im olympischen Dorf in München als Geisel genommen haben, erscheint am 5. September 1972 auf dem Balkon des Gebäudes, in dem sich die Geiseln befinden.
Einer der acht Terroristen, die 1972 in München das israelische Team in ihrer Unterkunft im olympischen Dorf als Geisel nahmen (picture alliance / AP / KURT STRUMPF)
Lange vor dem ersten Morgenlicht klettert eine Gruppe Männer in Trainingsanzügen und mit Sporttaschen über den Zaun ins Olympische Dorf. Obwohl es Zeugen gibt, schöpft niemand Verdacht: Regelmäßig verlassen während der Olympischen Spiele in München Sportler heimlich ihre Quartiere.

Palästinensisches Terror-Kommando "Schwarzer September"

Aber diese Eindringlinge sind schwer bewaffnet, mit Kalaschnikows und Handgranaten. Am 5. September 1972 um vier Uhr 35 stürmen Terroristen des palästinensischen „Schwarzen September“ die Unterkunft der israelischen Sportler. Bevor die Sonne aufgeht, sterben die ersten beiden Geiseln. Der Ringer Mosche Weinberg wird ermordet, als er zu fliehen versucht. Gewichtheber Josef Romano verblutet, angeschossen vor den Augen der übrigen neun Geiseln. Im Quartier gegenüber sind Athleten der DDR untergebracht, unter ihnen der Ruderer Wolfgang Gunkel. Die Sachen sind gepackt, es ist ihr letzter Tag:
„Ich war mit der erste, der unten aus dem Fahrstuhl kam. Und wir haben das Gepäck in den Keller gefahren. Und auf der anderen Straßenseite, zehn, zwölf Meter entfernt, stand der Terrorist mit 'ner Strumpfmaske und hat die Knarre durchgeladen und hat uns bedeutet, wir sollen wieder in den Fahrstuhl reingehen.“

Forderung nach freiem Geleit für Inhaftierte

Vom Balkon haben die Attentäter ein Flugblatt auf die Straße geworfen. Sie fordern die Freilassung von 234 Palästinensern - und die der RAF-Terroristen Andreas Baader und Ulrike Meinhof, dazu freies Geleit und ein vollgetanktes Flugzeug, dies alles bis neun Uhr, andernfalls würden alle erschossen.

Walter Tröger, der Bürgermeister des Olympischen Dorfes, eilte zur Unterkunft der Israelis, um mit dem Anführer zu verhandeln:
„Issa, der vor mir stand, hatte immer die Handgranate in der Hand. Die hätte er nur abziehen müssen. Von oben waren ständig irgendwelche Waffen auf mich gerichtet.“

Der Bundesinnenminister bot sich als Geisel an

Auch Bundesinnenminister Hans-Dietrich Genscher war vor Ort. Es darf nicht sein, erinnert er sich später, dass in Deutschland wieder Juden ermordet werden. Er bot sich als Geisel an, im Austausch gegen die Sportler – erfolglos:
„Der Anführer, mit dem ich ja verhandelte, der hatte oben in den Brusttaschen seines Anzugs abzugsbereit zwei Handgranaten. Und hatte immer die Hand am Bügel. Dann hab ich gesagt: Lassen Sie mich doch wenigstens zu den Leuten hingehen. Und dann sind wir da hingegangen, und ich sah diese verzweifelten Menschen sitzen, also das vergessen Sie alles nie wieder.“

Warum der Befreiungsversuch scheiterte

Mehrfach verlängerten die Terroristen das Ultimatum. Ohne zu wissen, um wie viele Angreifer es sich handelte, bereitete die Münchner Polizei höchst dilettantisch eine Befreiungsaktion vor. Schützen umstellten das Haus, beobachtet von Fernsehkameras, die das Geschehen in die ganze Welt übertrugen - auch in die Unterkünfte zu den Terroristen. Die Aktion wurde abgebrochen. Am Abend flogen Hubschrauber die Palästinenser mit ihren Geiseln auf den Militärflugplatz nach Fürstenfeldbruck. Dort wartete ein Flugzeug, angeblich vollgetankt. Die Besatzung bestand allerdings aus verkleideten Polizisten, die die Terroristen überwältigen sollten - und die die Aktion eigenmächtig abbrachen, weil sie sie für aussichtslos hielten. Als die Attentäter feststellten, dass das Flugzeug leer war, verließen sie es. Scharfschützen eröffneten das Feuer - und verfehlten die meisten von ihnen.
„Wir waren von der Munition, vom Recht, aber auch von der Psyche und von der Absicht, die Spiele als friedliebende Spiele eines friedliebenden Deutschlands zu gestalten, überhaupt nicht vorbereitet.“

„The Games must go on!”

 So erinnert sich Manfred Schreiber, damals Polizeipräsident in München. Als endlich gepanzerte Wagen eintrafen - sie hatten im Stau gestanden - schossen die Terroristen auf ihre Geiseln und zündeten eine Handgranate. Gegen null Uhr dreißig war das Gefecht beendet. Irrtümlicherweise hatte Regierungssprecher Conrad Ahlers eine Stunde zuvor verkündet, die Aktion sei glücklich verlaufen. In Wahrheit waren die Geiseln und ein Polizist tot. Drei der, wie sich nun zeigte, acht Attentäter überlebten. Am Tag darauf: Die Trauerfeier für die Opfer, während der der IOC-Präsident Avery Brundage kurzerhand forderte: „The Games must go on!”
Ob es richtig war, die Spiele wiederaufzunehmen, ist bis heute höchst umstritten. Walter Tröger berichtet, ausschlaggebend sei vor allem die Haltung Israels gewesen.
„Am Morgen vor der Trauerfeier kamen meine israelischen Partner und Freunde zu mir und haben sich verabschiedet: Haben gesagt, hab bitte Verständnis. Wir müssen mit unseren Toten nach Hause fliegen. Aber tu mir einen Gefallen: Sorge dafür, dass die Spiele weitergehen. Man darf diesem Druck und diesem Angriff nicht weichen.“
Als Reaktion auf das Desaster von München wurde eine Spezialeinheit gegründet, die künftige Attentate verhindern sollte: Die GSG 9 der Bundespolizei.