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Nach den Attentaten von St. Petersburg und Stockholm
Islamistische Gefahr aus Zentralasien?

Die schwedischen Ermittler sind sich zunehmend sicher, den Lkw-Attentäter von Stockholm gefasst zu haben. Demnach handelt sich um einen 39 Jahre alten Mann aus Usbekistan. Ein Mann mit kirgisischen Wurzeln soll für den Metro-Anschlag von St. Petersburg verantwortlich sein. Erweist sich Zentralasien als Brutstätte religiöser Extremisten?

Von Edda Schlager | 08.04.2017
    Die Flagge von Kirgistan
    Neben den anderen zentralasiatischen Republiken gilt auch Kirgistan als armer Hinterhof Russlands (VYACHESLAV OSELEDKO / AFP)
    Einen Tag nach dem Anschlag in der Metro von St. Petersburg haben Reporter die Familie des mutmaßlichen Attentäters in Osch im Süden Kirgistans ausfindig gemacht.
    Zögernd gibt die Tante des Hauptverdächtigen dem Fernsehsender "Nastoyashchyoe Vremya" im Innenhof ihres Anwesens ein Interview. Nebenher sortiert sie – mit langem Kleid und Kopftuch bekleidet – Zwiebeln in große Säcke.
    "Er war ein ganz normaler Junge, hat in einer Kantine in Russland gearbeitet. Er war dort bei der Armee. Vor drei Jahren ist er hier weg, mehr weiß ich auch nicht", sagt sie in die Kamera.
    Schon am Morgen nach dem Anschlag in St. Petersburg hatte der kirgisische nationale Sicherheitsdienst GKNB die Identität des Hauptverdächtigen bestätigt:
    "Es soll sich um Akbardschon Dschalilov handeln, 22 Jahre alt, aus Osch in Süd-Kirgistan. Er kam bei dem Anschlag ums Leben, vermutlich ein Selbstmordattentat."
    Russische Behörden vermuten einen islamistischen Hintergrund – im Verlauf der Ermittlungen nahmen sie weitere Verdächtige in St. Petersburg fest. Vorgeworfen werden ihnen Kontakte zu den islamistischen Vereinigungen Islamischer Staat und Jabhat al-Nusra. Ob auch der mutmaßliche Selbstmord-Attentäter Dschalilov diese Kontakte hatte, ist bisher unklar.
    In Kirgistan herrschte nach dem Anschlag in Russland Entsetzen. Edil Baisalov, seit Jahren einer der führenden politischen Aktivisten des Landes in Zentralasien, hat in den vergangenen Tagen die Reaktionen in Medien und sozialen Netzwerken verfolgt:
    "Es ist nicht das erste Mal, dass wir nach einem Anschlag regelrecht zusammenzucken und denken – hoffentlich war das keiner von uns! Und damit meinem wir nicht nur Kirgistan, sondern ganz Zentralasien, weil man uns ohnehin als eine Region wahrnimmt."

    Zentralasien als Brutstätte religiöser Extremisten – wie groß ist diese Gefahr? Auch der Attentäter beim Anschlag auf einen Istanbuler Nachtklub in der Silvesternacht 2016 kam aus Zentralasien, er war ein Usbeke. In Russland wurden mehrfach Kirgisen oder Usbeken unter Terrorverdacht festgenommen.
    Kirgisische Muslime beten am 05. Juli 2016 während des Eid al-Fitr, dem Fest des Fastenbrechens im Ramadan in Bishkek, Kirgistan. Muslime auf der ganzen Welt feiern den Fastenmonat Ramadan, indem sie während der Nacht beten und zwischen Sonnenauf und -untergang auf Essen und Trinken verzichten. Ramadan ist der neunte Monat im islamischen Kalender. In seinen ersten zehn Tagen wurde nach islamischer Auffassung der Koran herabgesandt.
    Fastenbrechen inBischkek. Der Islam erlebt in Kirgistan einen Aufschwung, gilt, aber als gemäßigt. (picture alliance / dpa / Igor Kovalenko)
    Die fünf ehemaligen Sowjetrepubliken im Süden Russlands – neben Kirgistan geht es um Kasachstan, Usbekistan, Tadschikistan und Turkmenistan – gelten als der ärmliche Hinterhof Russlands. Rund 68 Millionen Menschen leben hier, überwiegend Muslime. Der Islam, in der Sowjetunion unterdrückt, erlebte nach der Unabhängigkeit einen Aufschwung, gilt aber als gemäßigt.
    Edil Baisalov beobachtet in Kirgistan dennoch einen wachsenden Einfluss islamischer Kräfte von außen.
    "Wir haben schlicht nicht gemerkt, wie schnell uns nach dem Ende der Sowjetunion Fonds aus Saudi-Arabien 3.000 Moscheen hingebaut oder Imame aus dem Nahen Osten hergeschickt haben. Der Staat konnte die soziale Absicherung nicht mehr gewährleisten. Also ist die Religion an seine Stelle getreten."
    Hohe Zahl von Rekrutierungsfällen
    Maximal 2.000 Menschen, so schätzte das Internationale Zentrum für Radikalisierungs-Studien in London Ende 2016, haben Zentralasien für den Dschihad in Richtung Syrien verlassen. Das ist etwa ein Zehntel aller ausländischen Kämpfer im Nahen Osten.
    Auch die autoritären, aber säkularen Regierungen in Zentralasien sehen die Rekrutierung in ihren Ländern mit Sorge – aus Angst um den eigenen Machtverlust.
    Religiöse Aktivitäten werden überwacht. Allein in Kirgistan sind rund 20 islamistische Gruppen verboten, darunter Al Qaida, Hizb-ut-Tahrir, die Taliban oder der sogenannte Islamische Staat.
    Doch der Kampf gegen den Extremismus scheitert in Ländern wie Kirgistan nicht nur an korrupten Behörden oder einem schwachen Rechtsstaat.
    Rücküberweisungen zentralasiatischer Gastarbeiter in Milliarden-Höhe
    Noah Tucker von der George-Washington-Universität in Washington macht auch ethnische Konflikte dafür verantwortlich. Er hat mit Usbeken gesprochen, die im Süden Kirgistans als ethnische Minderheit leben.
    "Alle, die wir interviewt haben, hatten Angst. Sie sagen, wenn ich einen Verwandten hätte, der nach Syrien will, würde ich nie zur Polizei gehen, weil ich dann selbst verhaftet würde. Es heißt: Besser in Syrien sterben, als in die Hände der von ethnischen Kirgisen dominierten Polizei zu fallen."
    Im Jahr 2010 waren in Osch im Süden Kirgistans ethnische Konflikte zwischen Usbeken und Kirgisen eskaliert. Rund 2.000 Menschen starben. Bis heute gibt es Vorbehalte zwischen beiden Gruppen. Auch Akbardschon Dschalilov, der Hauptverdächtige von St. Petersburg, war ethnischer Usbeke aus Osch – und im Jahr 2010 15 Jahre alt. Wie viele Usbeken hat er seine Heimat schließlich in Richtung Russland verlassen, reihte sich ein in das Heer der jährlich rund zwei Millionen Arbeitsmigranten aus Zentralasien. Weil es Zuhause weder Arbeit, noch Perspektiven gibt.
    Allein im vergangenen Jahr haben diese "Gastarbeitery", wie sie auch im Russischen heißen, rund sechs Milliarden Dollar zu ihren Familien nach Kirgistan, Tadschikistan und Usbekistan geschickt. Erarbeitet unter schwierigsten Bedingungen, wie Yan Matusevich vom Internationalen Zentrum zur Entwicklung von Migrationspolitik in Wien erforscht hat.
    "Sie erleben im Alltag Rassismus von Russen, sie werden ausgebeutet von den Arbeitgebern, sie haben Angst vor polizeilicher Gewalt. Aber ihre Familien sind so von den Geldern abhängig, die sie zurückschicken in die Heimat, dass sie sich keine politische Äußerung oder Positionierung leisten können."
    Eine neue Welle islamistischen Terrors?
    Die These, dass sich zentralasiatische Migranten aufgrund der schlechten Lebensbedingungen erst in Russland radikalisierten, hält er deshalb für abwegig.
    Auch Noah Tucker aus Washington sieht vor allem ein Gemisch aus wirtschaftlichen, sozialen und persönlichen Faktoren als Grund, warum Einzelne aus Zentralasien empfänglich seien für islamistische Ideen.
    Dennoch fürchtet er, dass der Anschlag in St. Petersburg eine neue Art des von Zentralasien ausgehenden islamistischen Terrors sein könnte:
    "Wenn es sich herausstellt, dass eine zentralasiatisch geführte Gruppe von Extremisten hinter dem Anschlag steckt, zum Beispiel Tawhid wal-Jihad in Syrien, zu der mehrere Hundert ethnische Usbeken aus Südkirgistan gehören, dann wäre dies in der Tat eine dramatische Änderung der Taktik des zentralasiatischen Dschihadismus."