Dienstag, 19. März 2024

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Nach Regionalwahlen in Frankreich
Michel Barnier: "Wir müssen eine Perspektive für einen Wechsel bieten"

Der frühere Vizepräsident der EU-Kommission, Michel Barnier, sieht Chancen für einen Machtwechsel nach der kommenden Präsidentschaftswahl in Frankreich. Das Land sei lange im Alleingang und manchmal arrogant regiert worden, sagte er im Dlf. Die republikanische Rechte wolle nun Alternativen bieten.

Michel Barnier in Gespräch mit Christoph Heinemann | 02.07.2021
Der Leiter der Task Force für die Beziehungen der EU mit Großbritannien, Michel Barnier, bei einer Rede im Europaparlament in Brüssel
Das Ergebnis der französischen Regionalwahlen zeige eine Schwächung der gegenwärtigen Exekutive, sagte MIchel Barnier im Dlf (dpa / EPA Pool / Olivier Hoslet)
Im April und Mai 2022 finden die beiden Urnengänge für die Präsidentschaftswahlen in Frankreich statt. Letzter Stimmungstest waren die Regional- und Departementswahlen, bei denen die Partei von Staatspräsident Emmanuel Macron abgestraft wurde. Und auch der Rassemblement National von Marine Le Pen verlor deutlich Stimmen, landesweit minus sieben Prozentpunkte.
Die bürgerliche Rechte und die vereinigte Linke gewannen die Wahl, ihre Regionalratspräsidentinnen und -präsidenten wurden im Amt bestätigt. Allerdings nutzte nur rund ein Drittel der Wahlberechtigten ihre Stimmen.
Frankreichs Präsident Emmanuel Macron während eines Treffens mit der Chefin des Rassemblement National, Marine Le Pen.
Regionalwahlen letzter Stimmungstest für Emmanuel MacronDie Regional- und Departementwahlen in Frankreich sind für Emmanuel Macron der letzte Stimmungstest vor der Präsidentschaftswahl. Durch Bündnisse versuchen bürgerliche Kräfte, einen Erfolg der rechtsextremen Partei von Marine Le Pen zu verhindern.
Michel Barnier war französischer Außenminister, Vizepräsident der EU-Kommission, zuletzt Chef-Unterhändler der Europäischen Union bei den Brexit-Verhandlungen mit dem Vereinigten Königreich. Er ist Mitglied der Partei Les Républicains, der französischen Schwesterpartei von CDU und CSU.
Das Interview mit Michel Barnier in Originalfassung 
Christoph Heinemann: Wie ist die historisch hohe Wahlenthaltung bei den Regionalwahlen zu erklären?
Michel Barnier: Sicher mit einer Schwäche der französischen Demokratie. Wahrscheinlich mit einer gewissen Ermüdung zu einem Zeitpunkt, zu dem wir vorsichtig aus der schrecklichen Pandemie-Krise herausgekommen. Andere Dinge sind wichtiger als Wahlen, jedenfalls die in den Regionen und Departements. Außerdem eine gewisse Verwirrung, eine mangelnde Wahrnehmbarkeit dieser Regionalwahlen: Es gab viele Veränderungen bei der Art der Abstimmung, was die Wahlbezirke oder seit einigen Jahren die Zuständigkeiten zwischen Departements und Regionen betrifft. Der Sinn dieser Wahlen ist nicht mehr so klar wie vor 20 Jahren.

"Es muss klar gemacht werden, dass Politik von Nutzen ist"

Heinemann: Wir erinnern uns an die Gelbwesten, die ihre Unzufriedenheit und sogar ihre Wut ausgedrückt haben. Warum sind die Menschen auf den Straßen aktiv, bei den Wahlen aber nicht?
Barnier: Das gleiche Gefühl, das zu Beginn der Bewegung der Gelbwesten zum Ausdruck kam, habe ich im Vereinigten Königreich angetroffen, und es erklärt in Teilen den Brexit: Sozial bedingte Wut, das Gefühl, aufgegeben worden zu sein, nicht mehr respektiert und geachtet zu werden, fehlende Industriearbeitsplätze - das sind typische Probleme in vielen Regionen von Frankreich. Das Gefühl, dass die Politik keine Antworten gibt. An der Spitze des Staates, in der Regierung und in der Lokalpolitik muss wieder klar gemacht werden, dass Politik von Nutzen ist. Ich glaube das zutiefst.
Der Protest der "Gelbwesten" ist vor allem in Paris eskaliert.
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Die Proteste der "Gelbwesten" in Frankreich richteten sich gegen den Reformkurs der Regierung, gegen Ungleichheit und Ungerechtigkeit. Gegen die Politik von Präsident Macron gingen weiter Menschen auf die Straßen.
Heinemann: Welche Lehren kann man aus den Regionalwahlen für die Präsidentschaftswahl im kommenden Jahr ziehen?
Barnier: Zu schnellen Lektionen sollte man misstrauen. Zweierlei steht fest: eine Schwächung der gegenwärtigen Exekutive - nie hat eine Regierung in Regional- und Departementswahlen so schwach abgeschnitten, mit einer Regierungspartei, die es gar nicht wirklich gibt. Und die republikanische Rechte, meine politische Familie, die der Europäischen Volkspartei, verkörpert mit ihren zentristischen Verbündeten heute eine mögliche Alternative, die die Franzosen wünschen. Es liegt nun an uns, dieses neue Vertrauen, auch wenn es durch die Wahlenthaltung relativiert wird, in die Fähigkeit, das Land zu regieren, umzuwandeln.

"Die Franzosen wünschen sich mehr Respekt und Achtung"

Heinemann Was bedeutet das bescheidene Abschneiden seiner Partei La République en Marche für den Präsidenten?
Barnier: Das ist mehr als ein Alarm. Das ist eine deutliche Warnung. Die Franzosen haben damit zum Ausdruck gebracht, dass sie sich Veränderung im Staat und in der Regierung wünschen. Darauf müssen wir jetzt antworten. Dazu benötigen wir jetzt ein Programm für den Wechsel. Bezogen auf die Wirtschaft, aber auch, was die Methode betrifft. Das Land wird seit einigen Jahren zu sehr im Alleingang regiert, manchmal sogar arrogant. Die Franzosen wünschen sich ein Mannschaftsspiel, mehr Respekt und Achtung.
Heinemann: Wird Präsident Macron seinen Kurs ändern?
Barnier: Diese Frage dürfen Sie mir nicht stellen. Aber dafür ist es ziemlich spät.
Heinemann: Wieso hat die extreme Rechte ein relativ schwaches Ergebnis erzielt?
Barnier: Wahrscheinlich deshalb, weil die Franzosen die Begrenztheit der Führungskräfte der extremen Rechten sehen, die sehr einfache Lösungen anbieten. Sie stellen manchmal richtige Fragen, liefern aber dann keine guten Antworten. Ihre Demagogie. Außerdem haben sich viel mehr Wähler der extremen Rechten nicht an der Wahl beteiligt: 70 Prozent der Wähler des Rassemblement National haben nicht gewählt, mehr als in anderen Parteien. Vielleicht aus dem Gefühl heraus: Das war nicht die Gelegenheit, um wählen zu gehen. Nicht die Wahl, um seiner Stimme Ausdruck zu verleihen.

"Der Staat muss seine Autorität wiederherstellen"

Heinemann: Welche richtigen Fragen stellt der Rassemblement National?
Barnier: Ich möchte meine Position nicht mit Blick auf den Rassemblement National festlegen. Sondern mit Blick auf die Franzosen, ihre Sorgen, ihre Ängste und Anliegen: Beschäftigung, dass die Wirtschaft wieder in Gang kommt. Unabhängig von dem Aufholprozess, den wir gerade am Ende der Covid-Krise beobachten können. Das Wachstum zieht an, das ist eine gute Nachricht. Aber das muss verstetigt werden und sollte nicht nur ein Aufholeffekt sein. Die Unternehmen im Land, die Familienbetriebe, benötigen Vertrauen. Was in Deutschland besser läuft als bei uns.
Dann die Frage der Autorität des Staates: Wir haben sehr viel Gewalt in der Gesellschaft erlebt, manchmal rohe Brutalität gegen Polizeibeamte oder Lehrer. Der Staat muss seine Autorität wiederherstellen. Es darf keine rechtsfreien Räume in unserem Land geben. Außerdem die Zuwanderung: Das müssen wir konsequent in den Griff bekommen. Mit Menschlichkeit, aber auch mit Strenge. Das sind drei wichtige Themen. Und, wie gesagt, die Franzosen benötigen mehr Achtung und Respekt. Respekt muss im politischen Leben Frankreichs wieder Einzug halten.
In Vordergrund Demonstranten, im Hintergrund ist der Eiffelturm zu sehen.
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"Frau Le Pen hat ihre Idee eines Frexit nicht aufgegeben"

Heinemann: Frau Le Pen versucht, ihre Partei stärker in die Mitte zu rücken. Ihre Europapolitik zeigt das. Ist ein weniger radikales Rassemblement National nicht mehr in der Lage, seine Wählerinnen und Wähler zu mobilisieren?
Barnier: Seit einigen Monaten versucht Frau Le Pen, die Partei in die Mitte zu rücken. Mit Blick auf das Thema Europa empfehle ich, misstrauisch zu bleiben: ich glaube nicht, dass Frau Le Pen ihre Vorstellungen von einem Frexit und einem Ausscheiden aus der Eurozone aufgegeben hat. Sie bedient sich gegenwärtig einer Verschleierungstaktik. Ich glaube, dass Frau Le Pen und ihre Freunde ihre Ideen nicht aufgegeben haben.
Heinemann: Ist es nach den Regionalwahlen weniger wahrscheinlich, dass sich Präsident Macron und Frau Le Pen in der zweiten Runde der Präsidentschaftswahl gegenüberstehen werden?
Barnier: Eines ist klar: Das Spiel ist wieder offen. Die republikanische Rechte, die Republikaner, deren Mitglied ich bin, gehören zu diesem Spiel. Dieses von allen möglichen Leuten als unumgänglich angekündigte Duell zwischen der extremen Rechten und der gegenwärtigen Exekutive ist nicht das richtige und nicht das, was sich die Franzosen wünschen. Das ist eine Lehre aus den Wahlen. Wir müssen eine Alternative und eine Perspektive für einen Wechsel bieten. Das ist unsere Verantwortung.
Unser Programm entspricht den Wünschen der Franzosen. Wir sind allerdings gegenwärtig nicht in der Lage, unsere starken Seiten und unsere Talente in einer gemeinsamen Kraft zu bündeln und einen Spielführer zu benennen. Darum wird es in den kommenden Monaten gehen.
Heinemann: Werden Sie als Kandidat bei der Präsidentschaftswahl antreten?
Barnier: Das ist eine ernste Frage und das gilt auch für die Antwort. Für mich ist der Augenblick der Antwort noch nicht gekommen. Ich bin entschlossen, meine Rolle in einem Mannschaftsspiel zu übernehmen. Ich möchte mich einbringen. Und ich möchte sicherstellen, dass ich hilfreich sein kann, bei der Einigung meiner politischen Familie.
Heinemann: Ich habe kein klares Nein gehört …
Barnier: Ich habe Ihnen ja auch weder mit ja noch mit nein geantwortet. Es ist noch nicht der Zeitpunkt für die Antwort auf diese schwerwiegende Frage. Ich bereite mich vor. Ich organisiere Dinge - zusammen mit Männern und Frauen, die mit ihrer Intelligenz eine Rolle bei dieser gemeinsamen Arbeit und der Vorbereitung eines Wechsels in meinem Land spielen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.