Freitag, 19. April 2024

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Nationaler Lesepakt
Lesen lernen fördern - jetzt mal wirklich?

Lesen ist wie Ammoniumnitrat: Es kann düngen oder in die Luft sprengen, findet DLF-Literaturredakteur Jörg Plath. Deshalb ist die Initiative zur Förderung der Lesekompetenz von Kindern und Jugendlichen zwar schön und gut. Aber muss das Getöse gleich so laut sein?

Von Jörg Plath | 03.03.2021
Oberstes Prinzip ist die 1:1-Betreuung: Ein*e Mentor*in fördert ein Kind, einmal in der Woche, mindestens ein Jahr lang.
Engagiert sich für den Nationalen Lesepakt: MENTOR, die Leselernhelfer (Copyright: Andreas Endermann)
Lesen ist eine schöne Sache. Man verlernt das Staunen nicht, etwa angesichts der heutigen Vorstellung eines "Nationalen Lesepakts". Heiliger Bimbam, geht’s nicht ein bisschen säkularer? Ein Pakt wird mit dem Teufel geschlossen, weshalb seit längerer Zeit die Bezeichnung Vertrag gebräuchlich ist. Aber vielleicht heißt der Pakt in diesen bürgerlichen Zeiten ja Pakt, weil keine Vertragspflichten vereinbart sind. Der Nationale Lesepakt ist eine Willenserklärung von vielen. Die Paktpartner sind allesamt honorig, sie kommen ohne Bocksfüße und Hörner daher: die Bildungsministerin, einige ihrer Kolleginnen aus den Ländern, der Börsenverein des deutschen Buchhandels, die Vertretung von Verlagen und Buchhandlungen, die Stiftung Lesen sowie 150 Unternehmen und Verbände. Sie alle wollen sich für die Förderung des Lesens, ob digital oder analog, als "Grundlage von Bildung, Eigenständigkeit und Miteinander" einsetzen, insbesondere bei Kindern und Jugendlichen.
Kinder lachen in die Kamera. Sie halten ein Plakat vom Lese-Fest hoch.
Hamburger Erklärung zur Leseförderung - "Das Lesen muss als eine nationale Aufgabe verstanden werden" Knapp 20 Prozent der Zehnjährigen in Deutschland sind funktionale Analphabeten. Eine Gefahr für die Demokratie, sagte die Präsidentin des deutschen PEN-Zentrums Regula Venske im Dlf.
Man kann offene Türen mit größerem intellektuellem Aufwand einrennen. Immerhin können erschreckende drei Millionen junge und sechs Millionen erwachsene Menschen nicht richtig lesen und schreiben. Allerhöchstens wäre vielleicht daran zu erinnern, dass Lesefähigkeiten nicht nur die "Grundlage von Bildung, Eigenständigkeit und Miteinander" sowie der Integration und der Demokratie sind, wie es so schön auf der Pressekonferenz hieß. Sondern auch die Grundlage von Propaganda, Indoktrination und Gehirnwäsche, weshalb das Lesen in jeder Diktatur hoch im Kurs steht. Lesen ist eben nur die Grundlage, auf der sich durchaus Widersprüchliches entwickeln kann. Dafür gibt es den schönen Begriff des Dual Use: zwei Verwendungsweisen. Lesen ist wie Ammoniumnitrat: Es kann düngen oder in die Luft sprengen.

Passen viele Texte noch zu unserer Lebenswelt?

Dennoch oder gerade deshalb ist gegen den Nationalen Lesepakt nichts zu sagen – allerhöchstens, so die Integrationsforscherin Naika Foroutan, dass das Lesen in zehn Jahren das sein könnte, was heute die Schallplatten für uns sind. Foroutan gab in dem sehr einheitlichen wohlmeinenden Chor der Bildungsforscher die Spielverderberin und wies darauf hin, dass die Hybridisierung von Lebenswelt und Sprache in Texten bisher nicht sichtbar sei – weshalb die Attraktivität des Lesens sinke.
Jenn Ireland / The Californian.Second grader Abby Hobbs, center, flips through her brand new copy of Nate the Great , by author Marjorie Weinman Sharmat, while sitting with her classmates in the cafeteria of Wingland Elementary School Friday morning. Around 130 copies of the book were handed out to the school s second grade students by the North Bakersfield Rotary, in an effort to increase interest in reading at home and to improve reading skills. _
Bildungsstudie - Wer ist Schuld am Pisa-Desaster?
Die Ergebnisse der neuen Pisa-Studie fallen ernüchternd aus, bei genauerem Hinsehen sogar katastrophal: Jeder fünfte Schüler hat große Mühe, Texte zu lesen und zu verstehen. Was muss sich bei der Leseförderung ändern?
Dafür gibt es noch einige andere Gründe. Sicher bleiben Lesekompetenzen, möglichst in mehreren Sprachen, für die nächsten Jahre entscheidend, und daher ist gegen den Nationalen Lesepakt nichts zu sagen – allerhöchstens, dass sich manche der Teilnehmer eilig vom Saulus zum Paulus wandelten. Die Bundesbildungsministerin und ihre Länderkolleginnen haben ja im Lockdown die Schulen geschlossen, was als engagierter Einsatz für die Lesefähigkeit zu werten schwerfällt. Und als die Schulen noch offen waren, bekleckerten sich dieselben Politiker auch nicht mit Ruhm. Sie haben, trotz vieler Mahnungen, zuletzt durch die Pisa-Studien, nichts oder zu wenig geändert an der Förderung von bildungsfernen, lesefernen Schichten, an ihrer Ausgrenzung durch die frühe Selektion der Schüler, an der fehlenden Mobilität zwischen den Schultypen und einigem mehr.

Vollmundige Bekenntnisse - folgen jetzt auch Taten?

Verglichen mit den Bildungspolitikern wirken die paktierenden Medienunternehmer vergleichsweise unbescholten. Für sie ist das Lesen ja der Stoff, aus dem die Träume und die Umsätze sind, und jeder "Harry Potter"-Band steigert 700 Seiten lang die Lesefähigkeit. Nur dass das Online-Kaufhaus Amazon mitmacht, verwundert ein wenig, hatte man doch bisher den Eindruck, die US-Amerikaner würden die Lesekompetenz gern unterhalb der Schwelle des Betriebsverfassungsgesetzes halten. Sei's drum, die gute Sache fordert eben von allen Opfer.
Nach so vielen vollmundigen Bekenntnissen müssen jetzt Taten folgen und die zahlreichen guten Ideen umgesetzt werden, in der Gesellschaft und von vielen, aber auch in der Bildungs-, Sozial- und Integrationspolitik. Denn es sind meist die sozial Deklassierten, die weniger lesen können, was ihre Lage verschärft. Pacta sunt servanda.