Sonntag, 28. April 2024

Nord-Stream-Pipelines
Wer steckt hinter dem Anschlag?

Waren es russische, ukrainische oder US-Trupps, die die Nord-Stream-Pipelines sabotierten? Offizielle Ermittlungsergebnisse gibt es kaum. Aber investigative Journalisten haben recherchiert und verschiedene Thesen zur Sprengung aufgestellt.

Von Gesine Dornblüth | 18.09.2023
Das austretende Gas der Nord Stream Pipeline zeigt sich an der Meeresoberfläche als riesiges Sprudeln
Ein Anschlag mit vielen offenen Fragen: Am 26. September 2022 wurden die Gaspipelines Nord Stream 1 und 2 gesprengt. (imago images / ABACAPRESS )
Die Pipelines Nord Stream 1 und Nord Stream 2 waren international umstritten. Die Europäische Union, insbesondere Deutschland, hatte sich durch sie von Gaslieferungen aus Russland abhängig gemacht. Nord Stream 2 stand im Winter 2021/22 kurz vor der Inbetriebnahme, damit hätte sich diese Abhängigkeit noch erhöht. Damals bestritt Russland einen großen Teil seiner Staatseinnahmen mit Energieexporten in die EU. Im Februar 2022 griff Russland die Ukraine an. Im September ereignete sich der Anschlag auf die Pipelines.

Inhaltsverzeichnis

Was wissen wir über den Anschlag auf Nord Stream 1 und 2?

Am 26. September 2022 wurden die Erdgas-Pipelines Nord Stream 1 und 2 gesprengt. Eine Explosion ereignete sich mitten in der Nacht, die übrigen drei folgten am frühen Abend. Drei von insgesamt vier Strängen wurden zerstört. Einen erwischte es zwei Mal. Offizielle Untersuchungsergebnisse gibt es noch kaum, aber jede Menge Theorien und Recherchen zu dem Anschlag.*

Wer hat Nord Stream gesprengt? Theorien und Rechercheergebnisse

Einer der ersten umfangreichen Medienberichte zu den Anschlägen erschien im Februar 2023. Der US-Starreporter Seymour Hersh schrieb, die USA seien verantwortlich, und zwar US-Präsident Joe Biden persönlich. Hersh wurde berühmt, nachdem er Ende der 60er-Jahre Kriegsverbrechen von US-Soldaten in Vietnam aufgedeckt hatte.
Nun berichtete Hersh, Spezialtaucher der US-Marine hätten Sprengsätze mit Langzeitzündern an den Pipelines angebracht, bereits im Juni unter dem Schutz eines Marinemanövers der NATO. Norwegen habe mit seiner Expertise geholfen. Die Sprengsätze seien von einem norwegischen Überwachungsflugzeug aus gezündet worden. Hershs Artikel sorgte weltweit für Aufsehen, auch in Deutschland.

Führen die Spuren in die Ukraine?

Kurz nach Hershs Veröffentlichung sorgte im März 2023 eine zweite Version für Aufsehen. Darin spielt eine 15-Meter-lange Segeljacht eine zentrale Rolle. Die Geschichte um die „Andromeda“ wurde im deutschen Sprachraum zuerst von einer Recherchekooperation veröffentlicht, an der sich das ARD-Hauptstadtstudio, der rbb, der SWR und die „Zeit“ beteiligen.
Dem Rechercheverbund zufolge sollen fünf Männer und eine Frau, darunter zwei Taucher, am 6. September 2022, knapp drei Wochen vor den Anschlägen, ausgestattet mit gefälschten Reisepässen in Warnemünde mit einer Segeljacht in See gestochen sein. Eine Briefkastenfirma in Warschau soll die „Andromeda“ angemietet haben.
Die Jacht soll in den Folgetagen auf Rügen und im polnischen Kołobrzeg festgemacht haben, später dann auf der Insel Christiansö bei Bornholm. Ermittler hätten – so der Rechercheverbund weiter – Spuren von Sprengstoff an Bord gefunden, und zwar von dem Sprengstoff, der auch auf dem Grund der Ostsee nachgewiesen worden sei. Mit der These, der Anschlag sei von der Segeljacht aus verübt worden, ließen Ermittler durchsickern, sie hätten Hinweise, die in die Ukraine weisen.
Im Sommer meldete der Rechercheverbund zudem, der US-Geheimdienst CIA habe die Ukraine schon Monate vor den Anschlägen davor gewarnt, die Nord-Stream-Pipelines anzugreifen. Auch die Bundesregierung soll davon gewusst haben.

Steckt Russland hinter den Nord Steam Anschlägen?

Mittlerweile verfolgen auch diverse andere Medien die sogenannte ukrainische Spur. Eine zentrale Frage lautet: Wer waren die Menschen an Bord der „Andromeda“? Und wer hat die Jacht tatsächlich gechartert?
Ein Name, der in den jüngsten Veröffentlichungen auftaucht und als Hinweis auf eine ukrainische Täterschaft angeführt wird, ist Diana. Ihr soll die Briefkastenfirma in Warschau gehören, die die „Andromeda“ offenbar anmietete.
Diese angeblich ukrainische Spur könnte in Wirklichkeit eine russische sein. Denn diese Diana lebt – so berichten mehrere Medien – auf der seit 2014 von Russland besetzten ukrainischen Halbinsel Krim. Im sozialen Netzwerk "VKontakte" hat sie kürzlich Fotos gepostet, die sie in Russland zeigen. Sie soll zudem bei der Organisation der illegalen russischen Wahlen auf der Krim geholfen haben, wie Reporter von RTL recherchiert haben.
RTL spricht von „eindeutigen Indizien“ dafür, dass Russen beim Sabotageakt auf die Gaspipelines in der Ostsee eine Rolle gespielt haben. Welche Rolle genau, bleibt unklar.
Dass womöglich Russland hinter den Anschlägen auf die Nord-Stream-Pipelines stecken könnte, ist eine dritte Version des Geschehens. Dieser geht neben RTL vor allem t-online nach. Das Onlinemedium berichtete Ende März als erstes deutschsprachiges Medium über einen Konvoi russischer Schiffe in der Nähe der Explosionsstellen. Sie seien wenige Tage vor den Attentaten aus dem russischen Ostseehafen Baltijsk bei Kaliningrad in Richtung der Anschlagsstellen ausgelaufen, hätten sich in deren Nähe aufgehalten und kurz vor dem 26. September wieder in Baltijsk festgemacht.
Die Journalisten haben das mithilfe öffentlich zugänglicher Schiffsbewegungsdaten rekonstruiert. Die russischen Schiffe sollen mit einem Mini-U-Boot und Lastkränen zum Heben schwerer Frachten ausgestattet gewesen sein. Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung gingen viele noch davon aus, dass die Attentäter womöglich Hunderte Kilo Sprengstoff benutzten. Russische Schiffe, gar noch mit einem Kran und einem U-Boot ausgerüstet, hätten diese Lasten eher transportieren und in der Tiefe anbringen können, als ein paar Taucher mit einer 15-Meter-Jacht, so erste Reaktionen.

Wie glaubhaft sind die Thesen zum Nord-Stream-Anschlag?

Die Version des US-Journalisten Seymour Hersh – nach der die USA hinter dem Anschlag stecken – ist in vielerlei Hinsicht problematisch. Er behauptet zum Beispiel, die Attentäter hätten für den Angriff den Ort nahe Bornholm ausgesucht, weil es dort keine Tidenströmung gebe. Ebbe und Flut spielen aber in der gesamten Ostsee so gut wie keine Rolle. Vor allem aber beruft er sich auf nur eine einzige nicht näher genannte Quelle mit "direkter Kenntnis der Vorgänge".
Für Journalisten gilt eine Nachricht nur dann als gesichert, wenn sie mindestens zwei unabhängigen Quellen entspringt. Solche Recherchefehler wecken insgesamt Zweifel an der Glaubwürdigkeit von Hershs These.
Doch wie steht es mit einem Motiv der USA? Hersh schreibt in seinem Bericht, Präsident Joe Biden habe die Abhängigkeit Deutschlands von russischem Gas ein für alle Mal beenden wollen. Er untermauert das unter anderem mit einem Zitat Bidens vom Februar 2022. „Wenn Russland einmarschiert, wird es Nord Stream 2 nicht mehr geben. Wir werden dem ein Ende setzen.“ Andere US-Politiker äußerten sich ähnlich.
Die Verantwortung der USA für die Anschläge belegten solche Zitate aber nicht, sagt der Osteuropa-Experte Andreas Umland. Vielmehr meint er, ein typisches Muster von Verschwörungstheorien zu erkennen: „Man sucht sich bestimmte Zitate, bestimmte Ereignisse, bestimmte Tendenzen, die ins eigene Narrativ passen, heraus und konstruiert dann eine Geschichte, die auf dem bewussten Herausziehen von passenden Zitaten und Ereignissen beruht und den Gesamtkontext völlig außer Acht lässt.“

Wie glaubhaft sind die „Andromeda“-Recherchen?

Bei der Recherche zur Segeljacht „Andromeda“ haben sich die Journalisten vor allem auf anonyme Quellen im Umfeld der Ermittler berufen. Aus Sicht von t-online-Journalist Mueller-Töwe ist das problematisch: „Das sind sehr behütete Ermittlungen. Deswegen muss es eigentlich ein starkes Motiv geben, aus diesen Ermittlungen Dinge öffentlich werden zu lassen“, so Mueller-Töwe. „Da kann man schon mal fragen, wer hat ein solches Interesse?“
Holger Schmidt, der für den Südwestrundfunk im Rechercheverbund mitarbeitet, vertraut indes den Ermittlungsbehörden. „Ich für meinen Teil bin eigentlich ziemlich zuversichtlich, dass da ein ordentlicher Ermittlungsjob gemacht wird und die Ergebnisse so sind, wie wir es berichten.“

Welche Motive hätte die Ukraine?

Die Bundesregierung hatte das Genehmigungsverfahren für Nord Stream 2 bereits im Februar 2022 aufgrund von Russlands militärischer Aggression gegen die Ukraine ausgesetzt. Die Lieferungen durch Nord Stream 1 hatte Russland im August 2022 selbst gestoppt.
Der ukrainische Staat hatte jedenfalls kein Interesse, meint Andreas Umland vom Stockholmer Zentrum für Osteuropastudien: „Die Ukraine hätte dann diese toten Leitungen bombardiert und es ist für mich nicht ganz klar, was die Rationalität des Ganzen gewesen wäre, zumal letztes Jahr die Ukraine im Krieg war und damals ganz andere Prioritäten hatte.“
Umland schließt allerdings nicht vollständig aus, dass eine ukrainische Sabotagegruppe auf eigene Faust gehandelt haben könnte, ohne Kenntnis der Regierung. Die Ukraine werde angegriffen, da handele manch einer auch mal irrational.

Welche Motive hätte Russland?

Die stärksten Motive hat nach Umlands Ansicht Russland. Mit dem Stopp des Gastransports durch Nord Stream 1 im Sommer 2022 hätte das russische Unternehmen Gazprom seine Lieferverpflichtungen verletzt. Damit drohten dem Unternehmen Regressforderungen der westlichen Partner. „Mit der Zerstörung der Nord-Stream-1-Pipeline im September 2022 sind diese Regressforderungen in gewisser Hinsicht hinfällig geworden.“
Tatsächlich hat der Gazprom-Kunde Uniper ein Schiedsgerichtsverfahren gegen Gazprom eingeleitet. Es soll um Schadensersatz in Milliardenhöhe gehen. Tatsache ist aber auch, dass Russland Urteile internationaler Gerichte ignoriert; Regressforderungen also wahrscheinlich ohnehin nicht zahlen würde.
Umland nennt noch ein weiteres potenzielles russisches Motiv für die Zerstörung der Pipelines. Nämlich, die Anschläge mit der Ukraine in Verbindung zu bringen. Der Osteuropaexperte verweist auf den Abschuss des Passagierflugs MH17 im Jahr 2014 – nachweislich mit russischer Beteiligung und durch eine russische Rakete. Auch damals versuchte Russland, die Ukraine verantwortlich zu machen. "Hier könnte man ein ähnliches Muster erkennen", so Umland.

Wie ist der Stand der offiziellen Ermittlungen?

Deutschland, Schweden und Dänemark ermitteln offiziell wegen der Explosionen der Nord-Stream-Pipelines. Doch bisher dringt kaum etwas von den Ergebnissen nach außen. Der Generalbundesanwalt teilt auf Anfrage des Deutschlandfunks lediglich mit, „dass die Ermittlungen andauern und dabei sämtlichen Hinweisen zur Aufklärung des zugrunde liegenden Sachverhalts nachgegangen wird“.
Laut Informationen des ZDF berichtete der zuständige Bundesanwalt bei einer nicht öffentlichen Anhörung im Deutschen Bundestag allerdings, die Ermittler seien sich „sicher, dass die 'Andromeda'-Crew allein den Anschlag auf Nord Stream verübt haben könnte“.
„Ich habe den Eindruck, die deutschen Ermittlungsbehörden haben starke Indizien dafür, dass die Tatbeteiligten ukrainische Bezüge haben“, sagt Holger Schmidt, der für den Südwestrundfunk im Rechercheverbund mitarbeitet. „Es gibt aber keinen Beweis, dass es regierungsmäßig angeordnet war, dass es das ukrainische Militär oder der Nachrichtendienst oder wer auch immer gewesen ist.“ Ein knappes Jahr nach den Anschlägen sind also viele Fragen offen.

(*) Redaktioneller Hinweis: Eine Zeitangabe wurde korrigiert.