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Parlamentswahl in Marokko
Das Sagen hat der König

Marokko gilt als eines der wenigen Länder, das nach dem Arabischen Frühling nicht in Turbulenzen geraten ist. Der Preis für die politische Stabilität ist aber hoch. Die Parteien haben wenig zu sagen. Am König und dessen Umfeld kommen die Politiker nicht vorbei. Vor der Parlamentswahl am Freitag macht wieder ein altbekannter Begriff der marokkanischen Politik die Runde: Tahakkoum.

Von Jens Borchers |
    Marokkos König Mohammed VI.
    Marokkos König Mohammed VI. (AFP/ Fadel Senna)
    Wahlkampf in Marokko ist eine laute Angelegenheit. In der Stadt Salé ziehen Anhänger der Regierungspartei PJD durch das Stadtviertel Moulay Ismael. Die PJD, die "Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung", hat hier eine ihrer Hochburgen. Sie beruft sich in ihrer politischen Orientierung auf die Werte des Islams: Glaube, Ehrlichkeit, Gemeinschaft.
    Marokkos amtierender Regierungschef Abdelilah Benkirane ist der Chef der PJD. Und er ist beliebt hier in Salé. Warum? Weil seine Anhänger glauben, der Ministerpräsident sei eben kein typischer marokkanischer Politiker. Sein Gegenkandidat hier in Salé, sagen sie, das sei einer dieser typischen Politiker, die mit Geld und Verbindungen ihre Macht sichern wollten:
    "Wir sind heute hier um zu sagen: Stop! Der Bessere soll gewinnen. Es darf nicht sein, dass Leute wegen ihres Geldes siegen, weil sie diesem und jenen Gefälligkeiten erweisen. Der Bessere muss gewinnen, derjenige, der besser arbeitet, seriöse Politik mit legalen, nicht mit illegalen Mitteln macht."

    Als die Anhänger der Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung um eine Ecke biegen, da schallen ihnen plötzlich die Sprechchöre der politischen Konkurrenz entgegen.
    Es sind Anhänger des "Mouvement Populaire", einer eher bürgerlichen Partei, die der Wirtschaft und den großen Unternehmen nahesteht. Vor fünf Jahren hatte die Partei in ganz Marokko gerade mal 32 Parlamentssitze errungen, die PJD 107. Die gemäßigten Islamisten wurden damit stärkste Fraktion und stellen seitdem den Ministerpräsidenten.
    Benkirane geht durch einen Innenhof und wird dabei von Journalisten und anderen Personen begleitet.
    Marokkos Ministerpräsident Abdelilah Benkirane (AFP / FADEL SENNA)
    Die Anhänger des Mouvement Populaire tragen Plakate, auf denen das Gesicht des Regierungschefs mit dicken roten Strichen durchkreuzt ist: Sie wollen Benkirane nicht. Warum? Ihr Hauptargument ist, dass Benkirane und seine gemäßigten Islamisten gegen die Gleichberechtigung von Mann und Frau seien. Und dass sie keine Jobs für die jungen Leute in Marokko geschaffen hätten.
    Als die Anhänger der beiden Parteien in der schmalen Straße aufeinander zu marschieren, sieht es für einen Moment nach Konfrontation aus. Dann lösen sich aus beiden Gruppen einzelne Männer. Sie treffen sich in der Mitte, verständigen sich kurz und dann gehen die unterschiedlichen politischen Lager friedlich in entgegengesetzte Richtungen.
    Der König im Wahlkampf
    Marokkos König Mohammed VI. steht nicht zur Wahl. Natürlich nicht. Und dennoch entsteht manchmal der Eindruck, als mache auch der Monarch Wahlkampf. Da wird gemeldet, Mohammed VI. habe an einer privaten Hochzeitsfeier einer ganz normalen Familie teilgenommen. Noch mehr Beachtung finden aber königliche Besuche wie der vor einigen Tagen in der Hafenstadt Tanger.
    Dort traf sich der König mit dem Chef des US-amerikanischen Flugzeugbauers Boeing. Großer Bahnhof, großes Zeremoniell. Der Grund: Marokko und die Firma Boeing haben eine Vereinbarung unterschrieben. Zusammen will man eine Zulieferindustrie für Flugzeugteile in Marokko aufbauen. Boeing erhofft sich davon geringe Kosten, Marokko das, was das Land besonders dringend braucht: Arbeitsplätze.
    Die Arbeitslosigkeit liegt offiziell bei zehn Prozent. Vor allem aber finden viele junge Menschen in den großen Städten keinen Job. Bis zu 40 Prozent der unter 30-Jährigen sind dort ohne Arbeit. Durch die Zusammenarbeit mit Boeing sollen mehr als 8.000 Jobs entstehen und Umsätze von bis zu einer Milliarde Dollar. Die Unterschrift, die durfte Moulay Hafi Elalamy leisten, der Arbeitsminister:
    "Das Projekt ist wichtig, weil Boeing bekanntlich 65 Prozent seiner Produktionsteile von Zulieferern fertigen lässt. Wir schaffen jetzt mit Boeing ein eigenes Wirtschaftsumfeld für solche Zulieferfirmen in Marokko. Diese Firmen lassen sich dann in Marokko nieder und generieren eben Umsätze in Höhe von einer Milliarde Dollar."
    Die Fernsehbilder von dieser Unterschrifts-Zeremonie, die stellen den König heraus: Mohammed VI. in angeregter Unterhaltung mit dem Boeing-Chef. Die Schlagzeilen in den Zeitungen verkünden am Tag danach: Dieses Kooperationsprojekt habe der König höchstpersönlich gesteuert.
    Im Rampenlicht steht also der Monarch. Die Botschaft ist eindeutig: Der König kümmert sich um Jobs für Marokkos Jugend. Der König holt Zukunftsindustrien ins Land. Der König kümmert sich persönlich um solche Fragen.
    Der zuständige Minister? Naja – er ist dabei. Und er darf sich später um die praktische Umsetzung dieser Zusammenarbeit mit Boeing kümmern.
    "Legitimität des Monarchen ist historisch gewachsen"
    Marokko hat einen König, eine Regierung und ein Parlament. In der Verfassung des Landes ist festgelegt, dass der Monarch die Kontrolle über das Parlament, die Regierung und die Justiz hat: Mohammed VI. kann das Parlament auflösen, er ernennt allein die Minister für Schlüssel-Ressorts wie das Innen-, das Verteidigungs- oder das Außenministerium.

    Angesichts dieser Machtfülle des Königs sind die Möglichkeiten von Parlament und Regierung eindeutig begrenzt. Jamal Khalil, Soziologe an der Universität Casablanca, bringt es so auf den Punkt:
    Letztlich, sagt Jamal Khalil, hat die Monarchie das letzte Wort. König Mohammed VI. ist laut Verfassung das weltliche und das geistige Staatsoberhaupt. Er ist auch Führer der Gläubigen, also der Wortführer in Religionsfragen. Soziologe Jamal Khalil meint, viele Marokkaner schätzen ihren Monarchen immer noch mehr als die politischen Parteien:
    "Die Legitimität des Monarchen ist historisch gewachsen. Die demokratische Legitimität kommt da nicht dran. Bei Wahlen kommen die Parteien nicht auf sehr klare Mehrheiten. Deshalb bekommen sie nicht ausreichend politisches Gewicht, um wirklich eine politische Vision durchzusetzen."
    Viel Macht liegt also beim König, der sich keiner Wahl stellen muss. Aber eine Frage taucht immer wieder auf: Wie viel politischen Einfluss nimmt das Umfeld des Königs auf gewählte Abgeordnete, auf politische Parteien oder auf die Regierung?
    Auch in diesem Wahlkampf tauchte ein altbekannter Begriff der marokkanischen Politik auf: "Tahakkoum" – das bedeutet so viel wie "eine Situation kontrollieren". Tahakkoum ist das Wort, mit dem in Marokko der Einfluss machtvoller Berater aus dem Umfeld des Königspalastes auf Parteien und Politiker beschrieben wird. Verschiedene Parteien deuten mit dem rhetorischen Finger Richtung Palast und porträtieren sich selbst als Vorkämpfer wahrer Demokratie.
    Mohamed Tozy lächelt nur darüber. Tozy ist Politologe, er leitet die "Schule für Regierungsführung und Ökonomie" in Rabat, eine Elite-Universität. Mohamed Tozy analysiert den Wahlkampf Marokkos teils nüchtern, teils amüsiert. Die Aufregungen um vermeintliche Skandale, um die angebliche Einflussnahme aus dem Umfeld des Königs – alles Theaterdonner, sagt Mohamed Tozy:
    "Da wird viel geredet. Mit starken Worten. Mit viel Theatralik. Aber eigentlich gibt es eine Art Konsens: Was zählt, ist Stabilität."
    Mohammed VI., König von Marokko
    Mohammed VI., König von Marokko (Imago)
    Stabilität über alles
    Und zwar die Stabilität des marokkanischen Systems. In den vergangenen fünf Jahren, daran erinnert Mohamed Tozy, hätten die Unruhen in der arabischen Welt die Lage definiert: Umsturz in Tunesien, Machtübernahme der Militärs in Ägypten. Der Staatszerfall nach Gaddafis Tod in Libyen. Und schließlich das Grauen des Syrien-Krieges. Tozy meint, nichts fürchte Marokko mehr als einen Stabilitätsverlust. Der König, die Partei-Politiker und nicht zuletzt eine große Mehrheit in der Bevölkerung.
    Als 2011 die Unruhen in der arabischen Welt um sich griffen, hatte Marokkos König mit einer Verfassungsreform reagiert. Seine eigene starke Position blieb davon weitgehend unberührt. Mit einer sehr wichtigen Ausnahme, wie der Politologe Mohamed Tozy meint: Der König darf sich den Chef seiner Regierung nicht mehr einfach aussuchen. Jetzt schreibt ihm die Verfassung vor: Er muss den Spitzenkandidaten der Partei mit der Regierungsbildung beauftragen, die die meisten Wählerstimmen bekommen hat. Wie wichtig diese Beschränkung königlicher Allmacht sei, das hätten viele noch gar nicht verstanden, sagt Mohamed Tozy:
    "Die Dramatisierung der Wahl – das ist künstlich. Es gibt die Wirklichkeit der Machtverteilung in Marokko: Da ist die Monarchie. Die ist nach wie vor sehr stark und sehr dominant. Und es gibt eine Art Mitbestimmung, die durch Wahlen hinzukommt. Das ist eine Folge der Verfassungsänderung. Es ist der Beginn eines Prozesses. Der Prozess des Ausstiegs aus einem autoritären Regime."
    Dieser Prozess des Ausstiegs aus einem autoritären System, das gibt auch Tozy zu, komme nur sehr, sehr langsam voran. Aber es gehe halt momentan vor allem um eines, um Stabilität!
    Daran hat nicht nur Marokko selbst Interesse. Angesichts der schwierigen Lage in Tunesien oder dem kaum überschaubaren Chaos in Libyen schaut Europa milde auf Marokko. Denn das Königreich spielt aus europäischer Sicht eine immer wichtigere Rolle: Es ist Partner Europas in der Migrationspolitik und in der Terrorismusbekämpfung. Diese Erkenntnis setzt sich offenbar auch zunehmend in der Bundesregierung durch.
    Marokkos Premierminister Abdelilah Benkirane begrüßt Bundesinnenminister Thomas de Maizière in Rabat
    Marokkos Premierminister Abdelilah Benkirane begrüßt Bundesinnenminister Thomas de Maizière in Rabat (dpa / picture alliance / Abdelhak Senna)
    In Migrationsfragen gibt es allerdings immer wieder Beschwerden. Marokko sei zu langsam, wenn es darum gehe, Landsleute wieder aufzunehmen, die sich illegal in Deutschland aufgehalten hatten – trotz eines Rückführungsabkommens zwischen beiden Ländern. Dennoch, als Wirtschaftsminister und Vizekanzler Sigmar Gabriel im April Marokko besuchte, da war er nur voll des Lobes:
    "Marokko ist ein Hort der Stabilität und sicher auch ein Beispiel, wie ein Land seine kulturellen und religiösen Wurzeln entwickeln und beibehalten kann, aber dabei doch trotzdem eine doch weltoffene Entwicklung nimmt und ein modernes Land geworden ist."
    Sex im Wahlkampf
    Religion und Modernität – beides sind wichtige Themen in Marokko. Seit fünf Jahren ist Abdelilah Benkirane Ministerpräsident. Ein wuchtiger, manchmal lauter und jovialer Mann, der gerne seine Volksnähe betont. Er führt die Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung, die PJD. Das ist eine gemäßigt islamistisch orientierte Partei. Als die PJD vor fünf Jahren aus der Parlamentswahl als stärkste Fraktion hervorging, da fragten sich viele: Wie wird das wohl werden? Wollen die Islamisten im Namen der Religion die individuellen Freiheiten der Marokkaner einschränken?
    Jetzt, im Wahlkampf, wurde plötzlich öffentlich über Sex und Fremdgehen diskutiert. Nicht weil die Islamisten das Thema gesetzt hatten. Sondern weil zwei führende Köpfe einer islamistischen Organisation an einem Samstagmorgen im August inflagranti beim Ehebruch erwischt worden waren. Von der marokkanischen Polizei. Das regte die Menschen in Marokko enorm auf. Denn die 53-jährige Witwe Fatima Nejjar und der 61-jährige verheiratete Omar Benhammad – das war nicht irgendwer. Sie gehörten bis zu diesem Skandal zur Führungsriege der islamistischen "Bewegung für Einheit und Reform".
    Das ausgerechnet jemand wie Nejjar und Benhammad beim Ehebruch ertappt wurden – das warf ein schlechtes Licht auf die Islamisten. Denn die Bewegung für Einheit und Reform – das ist der religiöse Arm der Regierungspartei PJD. Und die PJD will bei der marokkanischen Parlamentswahl morgen versuchen, ihren Erfolg aus dem Jahr 2011 zu wiederholen.
    Ministerpräsident Benkirane und seine PJD, die Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung, präsentieren sich gerne als Garanten für moralische Integrität. Als Kämpfer gegen Korruption. Als Vertreter der einfachen, gläubigen Menschen in Marokko. Für die Regierungspartei PJD war das also keine schöne Begleitmusik im Wahlkampf. Zumal es den Islamisten auch nicht gelungen war, ihre vollmundigen Wahlkampf-Versprechen in Regierungspolitik umzusetzen. Mohsine El Ahmadi, Professor für politische Soziologie in Marrakesch, zieht eine nüchterne Bilanz der Regierung Benkirane:
    "Marokko gleitet ab. Wir haben viele Probleme. Beispielsweise die Jugendarbeitslosigkeit. Probleme im Bildungssystem. Und das Gesundheitssystem funktioniert auch nicht gut. Viele Menschen, die damals für die Islamisten gestimmt haben, werden das vielleicht nicht wieder tun."
    Tausende Marokkaner demonstrieren in der Hauptstadt Rabat gegen Kürzungen im Bildungswesen.
    Tausende Marokkaner demonstrierten im Januar gegen Kürzungen im Bildungswesen. (picture-alliance Abdelhak Senna)
    Jugendarbeitslosigkeit, Bildungsmisere und Probleme im Gesundheitswesen sind Dauerbrenner in Marokkos Politik. So mancher Wähler hatte 2011 vielleicht für die islamistische PJD, die Partei für Gerechtigkeit und Fortschritt, gestimmt, weil sie damals unverbraucht und ehrlich wirkte. Seit die PJD eine Koalitionsregierung aus insgesamt fünf Parteien anführt, schreitet Ministerpräsident Benkirane durch die Niederungen des Politikalltags. Subventionsabbau, Rentenreform, Korruption.
    Wichtiges Thema: Kampf gegen Korruption
    Der Kampf gegen die Korruption – dafür hatten sich die Islamisten im Wahlkampf 2011 besonders stark gemacht. Azzedine Akesbi hat sich angeschaut, was die PJD mit ihren Koalitionspartnern als Regierung tatsächlich getan hat. Wirtschaftsprofessor Akesbi ist auch Mitglied bei Transparency Marokko. Die Organisation versucht, Aufmerksamkeit für das Problem der Korruption zu wecken. Und Maßnahmen dagegen zu etablieren. Für Transparenz zu sorgen. Für das Recht der Öffentlichkeit auf Information. Nach fünf Jahren Regierung unter islamistischer Führung beschreibt Azzedine Akesbi die Lage so:
    "Das Gesetz für freien Zugang zu Information ist gescheitert. Komplett gescheitert. Das Gesetz für die Agentur für den Kampf gegen die Korruption ist ebenfalls gescheitert. Und ganz generell haben sie ihre Bemühungen, große Korruptionsfälle im öffentlichen Sektor tatsächlich offen zu legen und zu verfolgen, erheblich eingeschränkt."
    Die Marokkaner klagen oft über Korruption. Und sie haben in den vergangenen fünf Jahren erlebt, dass nur wenig dagegen getan wird. Die Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung, die PJD, hat unter ihrem Ministerpräsidenten Benkirane auf diesem Gebiet keine durchschlagenden Erfolge vorzuweisen. Im Wahlkampf setzte sie jetzt vor allem auf eines: sich als Opfer düsterer Machenschaften und politischer Tricksereien darzustellen.
    Der politische Gegner, das hat die PJD im Wahlkampf immer wieder klargemacht, ist aber keineswegs der König. Zu genau weiß man bei der PJD, dass König Mohammed VI. beliebt ist im Volk. Gerade und auch bei der Wählerklientel der gemäßigten Islamisten. Auch dort wird Mohammed VI. liebevoll als M6 bezeichnet. Auch dort gilt der König als derjenige, der das Gute und Richtige für Marokko will. Ministerpräsident Abdelilah Benkirane hat immer wieder deutlich gemacht, dass er die Machtverhältnisse keineswegs grundsätzlich infrage stellt:
    "Seine Majestät ist für mich das Symbol des Staates. Er ist zuallererst mein Chef. Und ich muss mit ihm so zusammenarbeiten, dass der gesamte Staat vorankommt. Vielleicht langsam. Aber ohne Spannungen."
    Die Gesellschaft wird konservativer
    Nein, der wichtigste politische Gegner ist die "Partei für Authentizität und Modernität", kurz PAM. Die PAM kümmert sich vor allem um die Landbevölkerung. Gleichzeitig präsentierte sie sich im Wahlkampf aber als Kämpferin für die bürgerlichen Freiheiten. Sie hat vergleichsweise viele Frauen kandidieren lassen. Die PAM versuchte die Botschaft zu verbreiten, dass die gemäßigten Islamisten eine rückständige Vorstellung der Gesellschaft hätten, dass sie, die PAM, sich dagegen stemmen wolle.
    Tatsächlich aber scheint die marokkanische Gesellschaft immer konservativer zu werden; immer weniger bereit, individuelle Abweichungen und Freiheiten zu tolerieren. Es gibt Überfälle auf Homosexuelle. Es gab die bewaffnete Attacke gegen eine Schauspielerin, die in einem Film eine Prostituierte gespielt hatte. Es gibt Aggressionen gegen marokkanische Frauen, die sich angeblich zu freizügig kleiden.
    Eine aparte, schöne junge Frau mit hochgestecktem Pferdeschwanz hält eine Rede auf einer glamourösen Veranstaltung.
    Die marokkanische Schauspielerin Loubna Abidar auf dem 53. Gijon Film Festival anlässlich des Films "Much loved" über Prostituierte in Marokko. (dpa / EFE / Alberto Morante)
    Einer der berühmtesten Schriftsteller des Landes, Tahar Ben Jelloun, warnt seit Monaten:
    "Es gibt einen Rückgang der individuellen Freiheiten. Gar nicht mal durch den Staat. Sondern durch die Leute. Die sagen, Du darfst dieses nicht tun. Du darfst dich nicht so kleiden. Du darfst so nicht denken. Das ist gefährlich."
    Marokko, sagt Schriftsteller Ben Jelloun, sie kein Land der Reflektion, der Zweifel und des Nachdenkens.
    Und immer wieder: Stabilität
    Gefragt ist Stabilität. Keine tunesischen Verhältnisse, schon gar keine libyschen. Und auch keine europäischen. Trotz aller sehr realen Probleme, mit denen Marokko zu kämpfen hat. Die Wirtschaft wächst keineswegs wie erhofft. Marokko hat nach wie vor eine Analphabeten-Rate von etwa 30 Prozent derjenigen, die älter als 15 Jahre sind. Viele junge Menschen brechen nach sieben Schuljahren ihre Bildungskarriere ab und versuchen, sich irgendwie durchzuschlagen. Als Gelegenheitsarbeiter oder als Händler.
    Marokkos größtes Problem, darin stimmen viele überein, ist das ineffiziente Bildungssystem. Mohamed Tozy, der Leiter der "Schule für Regierungsführung und Ökonomie" in Rabat sagt, die Lehrer seien schlecht ausgebildet, die Klassen zu groß, das System teilweise aus ideologischen Gründen mit falschen Reformen traktiert worden. Und ja, Marokko habe etliche Probleme. Aber dennoch gebe es keine kritische Masse für eine breite Protestbewegung oder gar für einen Aufstand gegen das System:
    "Wenn man zurückschaut, dann ist zu sehen, dass seit Jahrzehnten immer wieder das Gleiche über Marokko geschrieben wurde: Marokko werde morgen explodieren, hieß es. Die Sozialwissenschaften haben viel über autoritäre Regime geforscht. Sie haben nach den Prioritäten der Menschen gefragt. Und dabei kommt immer wieder heraus, dass sie die aktuelle Stabilität als wichtigstes Bedürfnis nennen."
    Stabilität in Marokko wird traditionell vor allem durch den König repräsentiert. Wahrscheinlich trauen Marokkos Wähler, vor allem die jüngeren, auch deshalb den wechselnden Koalitionsregierungen und ihren Parlamentariern offenbar nicht sehr viel zu. Daran ändert auch die Lautstärke des marokkanischen Wahlkampfs wenig. Daran ändern bisher die Bemühungen der politischen Parteien ebenfalls wenig. Die wahre Macht, das wissen viele Bürger, liegt nicht im Parlament. Die liegt beim König. Und der steht definitiv nicht zur Wahl.