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Petra Sitte (Die Linke) zur Neuregelung der Sterbehilfe
"Zwei Drittel der Bevölkerung möchten selbst entscheiden"

Im Zentrum des neuen Vorschlags zur Regelung der Sterbehilfe steht die Möglichkeit der freien Entscheidung und die Einrichtung von Beratungsstellen. Den Betroffenen müsse eine Alternative zur Palliativmedizin angeboten werden, sagte die Linken-Politikerin Petra Sitte im Dlf.

Petra Sitte im Gespräch mit Dirk-Oliver Heckmann |
Bundestagsabgeordnete Petra Sitte (Die Linke) stellt in der Bundespressekonferenz neue Organspende-Regeln vor am 01.04.2019
Petra Sitte von der Partei Die Linke plädiert für das Selbstbestimmungsrecht - auch am Lebensende (dpa)
Im Jahr 2015 hatte der Bundestag ein Gesetz zum Verbot der geschäftsmäßigen Sterbehilfe verabschiedet. Hintergrund waren Befürchtungen, dass die Sterbehilfe durch einzelne Vereine kommerzialisiert werden könnte. Weil es jedoch das Recht auf Selbstbestimmung beschnitt, wurde das Gesetz 2020 durch das Bundesverfassungsgericht aufgehoben. Seitdem herrscht eine Regelungslücke. Eine Abgeordneten-Gruppe des Bundestags hat nun einen Gesetzentwurf auf den Weg gebracht, der die Sterbehilfe in Zukunft regeln soll. Dabei geht es darum, ob sie überhaupt möglich gemacht werden soll und wenn ja, unter welchen Voraussetzungen.
Patient in einem Krankenbett, jemand hält seine Hand
Urteil in Karlsruhe - Verbot der "geschäftsmäßigen Sterbehilfe" ist verfassungswidrig
Das Bundesverfassungsgericht hat im Februar 2020 die bis dahin geltende Regelung zur Sterbehilfe gekippt. Genau ging es um das Verbot der "gewerbsmäßigen Förderung der Selbsttötung". Schwerkranke Patienten, Sterbehilfevereine und Ärzte hatten dagegen geklagt.
Petra Sitte von der Partei Die Linke ist Teil dieser Abgeordnetengruppe. Ihr ist es besonders wichtig, dass professionelle Beratungsstellen eingerichtet werden, die Menschen bei ihrer Entscheidung über das Ende ihres Lebens unterstützen.

Das ganze Interview im Wortlaut:
Dirk-Oliver Heckmann: Frau Sitte, wollen Sie die Tür aufmachen für reihenweisen assistierten Suizid in Deutschland?
Petra Sitte: Das ist eine falsche Interpretation.
Heckmann: Das ist eine Frage.
Sitte: Ja, ja, ja, ja! – Die hören wir aber immer bei den Diskussionen auch. Ich will nur darauf hinweisen, dass wir vor 2015 fast 150 Jahre einen verfassungsrechtlich beziehungsweise überhaupt einen rechtlichen Zustand hatten, in dem Sterbehilfe überhaupt nicht geregelt war, und trotzdem gab es keine Verwirrungen, gab es keine exzessiven Sterbehilfeprozesse und dergleichen mehr, was darauf hindeutet, dass jene, denen Suizidbeihilfe wichtig ist, die es brauchen, die es in Anspruch nehmen wollen, einen langen Prozess hinter sich haben des Nachdenkens, teilweise des Leidens. Deshalb ist die Frage vom Bundesverfassungsgericht ganz offenkundig und sehr, sehr klar beantwortet worden. Das Selbstbestimmungsrecht am Lebensende darf nicht beschnitten werden. Es hat aber umgekehrt durchaus die Möglichkeit eröffnet, Regelungen zu treffen, und zwar, um dieses Selbstbestimmungsrecht am Lebensende umsetzen zu können.
Heckmann: Okay, Frau Sitte. – Was konkret möchten Sie aber jetzt ändern?
Sitte: Wir haben uns das Urteil des Bundesverfassungsgerichts natürlich sehr genau angesehen und vor dem Hintergrund noch mal zurückgedacht an 2015. Anlass war, dass es in der Bundesrepublik Deutschland einen, wohl gemerkt einen einzigen Sterbehilfeverein gab, der den Eindruck hinterließ, dass es ihm auch um kommerzielle Interessen ging. Das heißt, man bekam über diesen Sterbehilfeverein schneller das Medikament, wenn man seinen Beitrag, wenn man seine Gebühr höher entrichtete.

"Kommerzialisierung zu verhindern"

Heckmann: Das war dieser umstrittene Sterbehilfeverein von Roger Kusch in Hamburg.
Sitte: Genau. Dann hat der Bundestag gemeint, okay, wir beenden jetzt den Zustand von fast 150 Jahren Verfassungsgeschichte und regeln das, und es wurde direkt eingegriffen, um diese Kommerzialisierung zu verhindern. Allerdings wie gesagt wurde dabei das Selbstbestimmungsrecht am Ende des Lebens beschnitten. Wir haben deshalb gesagt, wie muss man dieses Gesetz so gestalten, dass derartige Vereine keine Möglichkeit haben, und darauf haben wir schon mit unserem Antrag in der Verhandlung 2015 hingewiesen, dass es notwendig sei, Beratung anzubieten. Nun kann Beratung über Sterbehilfevereine gegeben werden - dann kann man diese Entwicklung nicht zu 100 Prozent ausschließen -, oder über Beratungsstellen. Wir haben uns in unserem Gesetzentwurf entschieden, genau diese Institution, diese Struktur Beratungsstellen stark zu machen, das mit bestimmten Bedingungen zu versehen, um den Menschen Hilfe zu leisten.

Die vier Voraussetzungen für Sterbehilfe

Heckmann: Okay, Frau Sitte. Ich verstehe Sie richtig, Sie möchten den Menschen die Möglichkeit eröffnen, Suizid zu begehen, assistierten Suizid, wie sich das nennt.
Sitte: Ja.
Heckmann: Aber unter welchen Voraussetzungen?
Sitte: Die Voraussetzungen dafür sind, da ist das Bundesverfassungsgericht auch sehr klar, dass es eine freie Suizidentscheidung gab, Fähigkeit und Willen, frei und unbeeinflusst von akuten oder psychischen Störungen. Man musste auch handlungsfähig nach dieser Einsicht sein.
Der zweite Punkt, den das Bundesverfassungsgericht damals gegeben hat, war Kenntnis aller entscheidungserheblichen Gesichtspunkte, notwendige Aufklärung, was über diese Beratungsstellen durchaus auch geleistet werden soll und muss. Drittens das Fehlen unzulässiger äußerer Einflussnahme oder auch äußeren Drucks. Und schließlich viertens muss dokumentiert werden auch in diesen Gesprächen und in den Gesprächen bei Ärzten die Dauerhaftigkeit und die innere Festigkeit des Entschlusses. Das sind die vier Bedingungen, die auch in den Beratungsgesprächen geklärt werden müssen.

"In Gesprächen Alternativen aufzeigen"

Heckmann: Darauf komme ich gleich noch mal zurück. Aber ich möchte gerne noch mal grundsätzlicher vielleicht fragen, Frau Sitte. Die Palliativmedizin hat sich ja enorm entwickelt in den letzten Jahren und Jahrzehnten. Viele Expertinnen und Experten sagen ja, man muss heute keine Schmerzen mehr haben, wenn man eine schlimme Krankheit hat. Jetzt mal jenseits der Frage, ob das so zutrifft in jedem Fall oder auch nicht. Da gibt es ja auch andere Meinungen und Erfahrungen dazu. Ist der Suizid denn die richtige Antwort für Menschen, die sterben wollen, denen aber mit Palliativmedizin und zum Beispiel auch seelischer Zuwendung geholfen wäre?
Sitte: Ja. Deshalb sind die Gespräche zunächst ergebnisoffen anzulegen. Das heißt, es wird nicht von vornherein davon ausgegangen, dass der Wille unumstößlich ist, sondern es ist notwendig, in diesen Gesprächen – das haben wir auch in unserem Gesetzentwurf drin -, Alternativen aufzuzeigen. Dazu gehören medizinische, psychologische, dazu gehören auch palliativmedizinische Optionen, die aufgezeigt werden müssen.
Ich bin keine Medizinerin. Ich bin auch keine Juristin. Ich habe immer versucht, die Situation der Betroffenen nachzuvollziehen. In den palliativmedizinischen Einrichtungen wird eine wertvolle Hilfe geleistet, würdevoll die letzte Phase seines Lebens zu verbringen. Aber nicht in jedem Falle, sagen mir Mediziner aus diesem Bereich, ist es dann so, dass man diese Phase bewusst wahrnehmen kann. Das heißt, wenn man medikamentös behandelt wird, beispielsweise bei sehr schmerzhaften Erkrankungen, dann bedeutet das auch eine Bewusstseinstrübung, und manchen Menschen ist das nicht akzeptabel und diese bleiben dann auch nach intensiven Gesprächen mit Palliativmedizinern bei ihrem Vorsatz. Das ist keine riesige Gruppe. Wir reden hier nicht über hunderte, sondern wir reden über vergleichsweise wenige Fälle, denen die Möglichkeit eingeräumt werden muss.

Die Kirchen und die Sterbehilfe

Heckmann: Die Katholische Kirche sagt dazu, es gibt auch noch andere Möglichkeiten in diesen Grenzbereichen, nämlich zum Beispiel Behandlungen einzustellen oder zum Beispiel die Nahrungsaufnahme zu beenden.
Sitte: Ja, das stimmt. Die Katholische Kirche wie überhaupt die Kirchen haben, wie Sie sich vorstellen können, ein sehr distanziertes Verhältnis zum Suizid.
Eine Patientin liegt in einem Krankenbett, Medikament und Wasserglas auf dem Nachttisch im Bildvordergrund
Die evangelische Pluralität - "Die Zeit der Eindeutigkeit ist vorbei"
Die Spitze der evangelischen Kirche hat das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum assistierten Suizid scharf kritisiert. Doch es gibt auch Stimmen, die die Entscheidung begrüßen.
Wasserglas, Kreuz, Tabletten und Spritze auf einem schwarz-weißen Foto.
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Der frühere Bundestagspräsident Wolfgang Thierse ist engagierter Katholik und kritisiert das Urteil des Bundesverfassungsgericht zum Paragrafen 217 scharf.
Heckmann: In der Evangelischen Kirche gibt es ja Diskussionen darüber.
Sitte: Da gibt es sehr heftige Diskussionen darüber. Ich weiß, das haben mir auch Kollegen erzählt, die konfessionell gebunden sind. Aber selbstverständlich leben wir in unserem Land unterschiedliche Konzepte. Wenn man aber darauf abhebt, dass immer bei jeder Befragung etwa zwei Drittel der Bevölkerung sagen, ich möchte das selbst entscheiden, dann muss man das auch seitens des Gesetzgebers berücksichtigen und in Rechnung stellen, und das haben wir auch versucht, in unserem Gesetzentwurf zu tun. Und im Übrigen: Auch bei konfessionell gebundenen Menschen, sowohl bei Katholiken als auch evangelisch gebundenen Menschen, liegt die Quote immer noch bei durchschnittlich 66 Prozent in diesen Befragungen. Auch dort besteht der Wunsch, das selbstbestimmt zu entscheiden.

Beratungsstellen und fachliche Kompetenz

Heckmann: Pardon, wenn ich da kurz noch einhaken darf, weil wir gar nicht mehr so viel Zeit haben. Wir könnten darüber endlos, glaube ich, reden. Das ist natürlich auch ein wichtiges Thema und die Diskussion ist auch mit dem heutigen Tag nicht beendet. Ganz im Gegenteil! – Sie haben gerade gesagt, Frau Sitte, der Patient muss dann auch schon versichern als Voraussetzung, dass seine Entscheidung ohne Druck von außen getroffen worden ist. Aber wenn es Druck von außen gibt, von Seiten der Familie beispielsweise, wie wollen Sie das denn feststellen? Denn wenn es Druck von außen gibt, dann ist der betroffene Mensch ja so unter Druck gesetzt, dass er das möglicherweise gar nicht mitteilen kann, oder?
Sitte: Das ist das eine. Deshalb sind ja die Beratungsstellen auch ein neutraler Boden, auf dem das diskutiert werden kann. Es zu diskutieren mit Angehörigen, ist natürlich noch viel schwieriger, insbesondere dann, wenn Angehörige entweder denjenigen oder diejenige betreut haben. Aber umgekehrt: Genau der Gesetzentwurf von 2015 gibt Angehörigen die Möglichkeit, diese Hilfestellung zu leisten, ohne dass irgendjemand nachfragt, mit welcher Motivation, mit welchem Hintergrund, unter welcher Drucksituation, und das wollen wir klären durch die Beratungsgespräche, durch diese Beratungsstellen und umgekehrt natürlich auch durch die Gespräche.
Heckmann: Und Sie meinen, das kann geklärt werden?
Sitte: Es ist wie vieles, wenn man mit Menschen umgeht, psychosozial schwierig zu erörtern. Aber man muss den Menschen eine Chance geben, sich zu öffnen, und da bieten die Beratungsstellen mit kompetenten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern eine größere Gewähr als eine unmittelbare Bezugsperson. Selbstverständlich kann der oder diejenige auch in seiner Familie darüber reden, aber manchen fällt das schwer und deshalb würde diese Möglichkeit für sie ein offeneres Gesprächsklima bieten und dort würde es geklärt. In dem Moment, wo wir in unserem Gesetzentwurf beispielsweise dafür sorgen, dass Kompetenzen gebildet werden, dass das ausgebildete Menschen sind, ist die Gewähr dafür, glaube ich jedenfalls, größer.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.