Stockholm im Mai 2022: Dichter Rauch umhüllt die alte Regeringsgatan-Brücke. Hinter der grauen Dunstwand leuchtet es neon-rot: Zwei Menschen stehen auf der Brücke und schwenken Bengalos. Als sich der Rauch etwas verzieht, kommt eine riesige rote Fahne mit rotem Stern auf gelbem Kreis mit grüner Umrandung zum Vorschein: Die Flagge der PKK, einer revolutionären kurdischen Organisation, weht mitten in Stockholm. Die türkischen Fernsehsender zeigen ein Amateurvideo dieser Straßenszene, zuerst in Social Media veröffentlicht:
Die Polizei sehe zu, wie die PKK Propaganda verbreite, heißt es bei einigen Sendern. Dass die Organisation in Schweden, wie in der gesamten EU auf der Liste der Terrororganisationen steht, solche Kundgebungen aber von der Versammlungs- und Meinungsäußerungsfreiheit gedeckt sind, wird in den türkischen Medien nicht gesagt. In den Tagen danach schafft es auch dieses Amateurvideo aus Schweden ins türkische Fernsehen: Es zeigt Menschen, die auf den Straßen der schwedischen Hauptstadt für die PKK demonstrieren. Auf ihren Plakaten stehen Parolen wie "Nein zur NATO".
Erdogan: Schweden ist "Brutstätte des Terrorismus"
Mit Russlands Angriffskrieg auf die Ukraine hat in Schweden und Finnland ein Umdenken stattgefunden: Beide Länder wollen dem Militärbündnis beitreten. Nur die Türkei denkt wie die PKK-Demonstranten auf Stockholms Straßen: Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan legte ein Veto ein. Für ihn ist vor allem Schweden wortwörtlich eine „Brutstätte des Terrorismus“. Bei einer Fraktionsrede im Parlament wiederholte Erdogan Mitte Juni: "Wir werden unsere Haltung in der NATO-Frage niemals ändern, bis Schweden und Finnland klare Schritte im Kampf gegen den Terror unternehmen."
Mit der Türkei und Schweden stehen sich zwei Staaten gegenüber, die unterschiedlicher kaum sein könnten: So wie es zur schwedischen Staatsräson gehört, Minderheiten jeder Art zu fördern – darunter auch kurdische Kulturvereine, die der PKK nahestehen sollen – ist der Kampf gegen die PKK Teil der türkischen Staatsräson. Das zeigt sich jedes Jahr auch im Nordirak, wo die Türkei – meistens im Frühling – militärisch gegen in den Bergen verschanzte PKK-Kämpfer vorgeht.
Bei der aktuellen Offensive namens “Klauen-Verschluss" sind die türkische Luftwaffe und Bodentruppen im Einsatz. Der türkische Verteidigungsminister Hulusi Akar sprach den Truppen zu Beginn des Einsatzes Mut zu: „Ich hoffe, dass diese Operation wie geplant erfolgreich abgeschlossen wird. Wir sind entschlossen, unsere edle Nation vor der Geißel des Terrors zu retten, die das Land seit 40 Jahren heimsucht. Unser Kampf wird fortgesetzt, bis der letzte Terrorist neutralisiert ist.“
Die pro-kurdische HDP in der Türkei, die Demokratische Partei der Völker, verurteilt die Offensive Ankaras. Nicht nur, weil sie völkerrechtswidrig sei, sagt Azad Baris, einst im Vorstand der HDP, heute ihr strategischer Berater, auch: „Weil sie möglicherweise Frieden in seinem Kern ersticken wird. Wir sind grundsätzlich dagegen, dass militärisch gehandelt wird. Also man sollte zum Tisch zurückkehren und Friedensverhandlungen führen. Das wollen wir durch unseren demokratischen Kampf und Friedenspolitik. Ob uns das gelingt oder nicht, werden wir am Ende des Tages sehen.“
Unterstützt wird die türkische Seite dagegen von den irakisch-kurdischen Peschmerga. Sie sind der Autonomieverwaltung in der nordirakischen Stadt Erbil unterstellt. Deren Ministerpräsident ist Masrour Barzani. Seine Familie stellt die Regierung in der Region Kurdistan-Irak und fordert die PKK seit Jahren zum Verlassen der Region auf, die Barzani-Regierung geht gegen die PKK vor, jetzt offensichtlich auch militärisch.
Es gibt keinen einheitlichen Kurdenstaat
Das Beispiel zeigt, dass mancherorts Kurden auch gegen Kurden kämpfen: In der Türkei, im Nordirak, in Nordostsyrien und in Iran ist das nicht unüblich. In den Grenzregionen dieser und anderer Länder leben Kurden seit vermutlich mehreren tausend Jahren: Organisiert in Großfamilien, Klans und Stämmen, von denen viele seit ihrem Bestehen untereinander konkurrieren.
Einen einheitlichen, international anerkannten Kurdenstaat hat es nie gegeben, so wie es auch nicht die einheitliche kurdische Sprache gibt. Daneben bestehen religiöse Unterschiede: Die meisten Kurden sind Sunniten, manche Schiiten und andere Alewiten – Anhänger einer unabhängigen Strömung im Islam, die viele Gemeinsamkeiten mit dem Christentum hat. Daneben gibt es – wenn auch in einer Minderheit – jesidische und assyrisch-christliche Kurden. Diesen Unterschieden zum Trotz sieht sich die PKK als Führerin aller Kurden.
Der HDP-Berater und Soziologe Baris ist einer der wenigen jesidischen Kurden in der Türkei. Die Unterschiede sieht er als gemeinsamen, kulturellen Reichtum. Von einer Führungsrolle der PKK für alle Kurden möchte er nicht sprechen: „Keine Partei der Welt kann eine bestimmte Volksgruppe allein für sich in Anspruch nehmen. Aber wenn wir uns die Beteiligung bei der PKK und die Partizipation von jungen Menschen, die dann auch bereit sind, zu kämpfen oder mitzuwirken, ist schon ein Zeichen dafür, dass diese Partei in der kurdischen Gesellschaft sehr verankert ist.“
Für die PKK gilt: Die Voraussetzung für einen kurdischen Staat, eine national-ethnische Einheit, habe es gegeben, doch sie sei zerstört worden. Das gehe auf das Jahr 1923 zurück, als die Alliierten und die Türkei durch den Vertrag von Lausanne die Gebiete, in denen Kurden lebten, auf die vier Staaten Iran, Irak, Türkei und Syrien aufteilten. Die Aussicht auf eine autonome Region sei damit vorbei gewesen.
Für den Turkologen Walter Posch vom Institut für Friedenssicherung und Konfliktmanagement der Landesverteidigungsakademie in Wien, ist das ein Baustein, mit dem PKK-Gründer Abdullah Öcalan den Mythos einer von außen zerstörten kurdischen Einheit kreierte: „So ein bisschen sieht das Öcalan auch: ‚Wir als Kurden waren ja eigentlich wirklich eine Solidargemeinschaft. Und dann sind irgendwelche Fremdlinge gekommen und haben das Land aufgeteilt in vier Teile.‘ Es stimmt hinten und vorne nicht und beantwortet auch nicht den Unterschied in den kurdischen Sprachen und in den Religionen und so weiter.“
PKK - in Europa, USA und Türkei auf Terrorlisten
Die PKK ist erst lange nach dem Vertrag von Lausanne gegründet worden. Sie entstand im Jahr 1978 als Gegenreaktion zu der damals kurdisch-feindlichen Politik in der Türkei. Von Anfang an steht bei der Terrorgruppe nach außen der Kampf gegen kulturelle Unterdrückung der Kurden im Vordergrund. In einem Interview Anfang der 90er-Jahre, ein paar Jahre vor seiner Inhaftierung, betonte Öcalan, worum es ihm beim Widerstand geht: „Der bewaffnete Kampf bedeutet nicht nur, dass Schüsse fallen, sondern er ist das höchste Verstehen der Ideologie – auch politisch. Ich glaube, für die Kurden ist der Kampf die einzige Möglichkeit, sie zusammen zu bringen.“
Diese Ideologie, von der Öcalan spricht, wird bei der PKK als radikale Demokratie mit Gleichberechtigung für Frauen und einem Sinn für Ökologie propagiert. Posch, der die PKK-Statuten untersucht hat, schüttelt den Kopf: „Das ist so demokratisch wie die DDR, weil die Wörter Kommunismus und Demokratie sind in der türkischen Linken synonym. Also, wenn die sagen, wir wollen eine demokratische Gesellschaft, fallen die naiven Westler darauf rein. Was sie wollen, ist eine kommunistische Gesellschaft.“
Die PKK – dazu gehören auch viele Untergruppierungen. Laut Posch will die PKK weniger eine kulturelle Koexistenz der verschiedenen kurdischen Gruppen als ihre eigene Macht über alle Kurden legitimeren: „Das erste Ziel dieser Gruppen ist, jetzt einmal zu überleben, nicht nur territorial. Und das zweite Ziel ist, den großen Verband aller PKK definierten Gruppen und Organisationen zu legitimieren, dass sie von den Terrorlisten wegkommen.“
In Ländern wie China, Iran oder Russland steht die PKK nicht auf Terrorlisten, in Europa, in den USA und in der Türkei dagegen schon. Laut einem aktuellen Europol-Bericht arbeitet ein Apparat der PKK in Europa: „hauptsächlich unter dem Deckmantel legal anerkannter Organisationen, wie kurdischer Vereinigungen“. Die PKK nutze Europa, um finanzielle Mittel zu generieren, auf legale und illegale Weise: zum Beispiel „durch Spendenaktionen, sowie auch durch Erpressung und organisierte Kriminalität“.
In einem anderen Europol-Bericht heißt es auszugsweise: „Zu den Einnahmequellen der PKK gehören die sogenannte Besteuerung von illegalen Drogen beim Transport in die Türkei, bevor sie den EU-Markt erreichen, Schutz- und ‚Schiedssteuern‘, Menschenhandel und Zigarettenschmuggel.“
Dabei existiert die Gruppe streng genommen nicht mehr als „PKK“, sondern hat sich 2007 in die „Gesellschaft Union Kurdistans“, kurz „KCK“, umbenannt. Sie wirbt damit, föderalistisch sein.
Posch bleibt skeptisch: „Das beruht auf einem konföderalistischen System, das im Endeffekt die zentrale Führung und den eigentlichen stalinistischen Aufbau der Organisation mit vielen föderalistischen Elementen kaschiert, nicht überwindet. Die Organisation schreibt in ihrer Verfassung auch, dass die Gedanken und das Erbe der PKK zentral sind. Und wenn man die Organisation genauer anschaut, dann bleibt die Guerilla-Führung.“
PKK-Kampf forderte mehr als 40.000 Tote
Der Kampf mit der PKK hat in ihrem mehr als 40-jährigen Bestehen viel Zerstörung und mehr als 40.000 Tote gefordert – auf beiden Seiten. Das sind umgerechnet etwa drei Menschenleben pro Tag. Die Gewalt, die den Kurden einst als einziges Mittel gegen die Unterdrückung schien, ist zum tödlichen Trauma geworden, das heute viele der schätzungsweise 14 Millionen Kurden in der Türkei von der PKK trennt. Die Terrorgruppe schien nur so lange legitim, wie Kurden massiv unterdrückt und verfolgt wurden. Doch seitdem sie in den vergangenen Jahren unter der Erdogan-Regierung wieder mehr kulturelle Rechte bekommen haben, wie, dass sie ihre Sprachen sprechen und unterrichten dürfen, wollen die meisten Kurden in der Türkei keinen Krieg mehr mit dem türkischen Militär.
Einen autonomen Staat möchten laut einer Umfrage der Istanbuler Kadir-Has-Universität aus dem Jahr 2020 auch nur noch gut 17 Prozent der befragten Kurden in der Türkei. Laut HDP-Berater Baris gibt es aber immer noch viel Unterdrückung gegen Kurden in der Türkei. Mehr als 15.000 HDP-Mitglieder würden im Gefängnis sitzen.
„Ankaras Politik ist immer noch unverändert monistisch, totalitär und der türkische Nationalismus ist nach wie vor sehr immanent. Dabei geht es nicht nur um Erdogan. Es ist die Gründungsphilosophie der Republik selbst. Deshalb zielen sie auf uns, also auf die HDP, auf Oppositionelle, auf Intellektuelle, auf Querdenker, Feministinnen und so weiter und so fort.“
Der ehemalige General und Terrorberater des türkischen Militärs mit Schwerpunkt PKK, Ercan Citlioglu, sieht das anders. Mit den Kurden habe der Staat kein Problem, einige hätten sogar hochrangige, politische Posten wie Ministerämter inne und innegehabt. Das Problem sei die PKK, nicht die Kurden an sich. Nach den Vertreibungen der 1990er-Jahre aus dem eher kurdischen Südosten des Landes seien viele Kurden in Metropolen wie Istanbul gezogen. Dort, weit weg von dem Konflikt mit der PKK, würden sie gut leben, sagt Citlioglu.
Viele Kurden würden sogar die Partei von Erdogan, die AKP, unterstützen. Zum besseren Verständnis, wie sich Kurden in der Türkei positionieren, führt der Terrorexperte die Metapher der Zwiebel an: „Die Zwiebel sieht ganz aus, aber schälen Sie mal Schicht für Schicht ab. Zuerst die Schicht, die die PKK nicht unterstützt, dann die, die für Erdogans AKP gestimmt haben, und dann die Schicht der Kurden, die für andere Parteien gestimmt haben. Dann die, die mit der PKK sympathisieren, sich aber in keiner Weise an ihren Aktionen beteiligen. Am Ende haben Sie noch einen sehr kleinen Teil der Zwiebel übrig. Was ist das? Die PKK.“
Drogen- und Menschenhandel als illegale Einnahmequellen der PKK
Bedrohlich sei die PKK der Türkei vor allem aus den Nachbarländern Syrien und Nordirak. Dort liegt laut angeführten Berichten von Europol auch ihre Haupteinnahmequelle: PKK-Einheiten und Verbündete kontrollieren wichtige Straßen und regionale Grenzübergänge. Um die Lage zu verstehen, rät der Geoanalyst Michaël Tanchum aus Washington DC vom Economics and Energy Program of the Middle East Institute sich zuerst den Irak auf der Landkarte anzuschauen.
Startpunkt: die nordirakische Universitätsstadt Kirkuk: „Von dort aus geht man weiter nach Süden und Osten, zur iranischen Grenze. Diagonal parallel zum kurdischen Gebiet im Nordirak gibt es auch Kurden, bis nach Sindschar. Und das ergibt einen Korridor, der von der Grenze Irans durch den Irak bis zur Grenze Syriens direkt entlang der Südgrenze der Türkei verläuft.“
Dieser Korridor sei eine wichtige Schwachstelle für Ankara, da darüber direkte Hilfe aus Iran für PKK-Fraktionen sowohl im Irak als auch in Syrien kommen könne. „Die Türkei hat sehr ernsthafte Interessen in Bezug auf die PKK und ihre angegliederte Organisation. Und die werden meines Erachtens von Europa und anderen Seiten unterschätzt.“ Um diesen Korridor zu zerschlagen, arbeite Ankara eng mit Iraks kurdisch-irakischer Autonomiebewegung von Ministerpräsident Barzani zusammen.
Die habe wiederum eigene Interessen an der Kooperation: Konkurrierende PKK-Kurden und damit verbundene Unruhen im eigenen Gebiet verhindern, sich gegen Einfluss aus Iran schützen und ein gutes Verhältnis mit der Türkei aufrechterhalten. Diese ist für Barzani das einzige, sichere Tor in die Welt, um nordirakisches Gas und Öl zu verkaufen. Außerdem können die Barzani-Kurden sich so auch international einen Namen machen, als kurdischer Gegenpart zur PKK, der mit der Terrororganisation nichts zu tun hat.
YPG und PYD - Terrororganisationen oder Verbündete im Kampf gegen den IS?
Mit kurdischen Terroristen zu kooperieren, das wirft die Türkei vor allem den USA vor. Washington unterstützt zwar nicht die PKK im Nordirak, dafür aber ihre Schwesterorganisation YPG in Nordostsyrien. Deren politischer Arm, die PYD, sieht sich laut eigener Satzung als Teil der PKK und kontrolliert seit etwa zehn Jahren ein de facto autonomes Gebiet an der Grenze zur Türkei: Rojava. Neben Kurden leben dort Araber und Assyrer.
Für den HDP-Mann Baris ist Rojava ein erfolgreiches Projekt:
„Auch, wenn natürlich Rojavas Gesellschaftsmodell heutzutage nach Öcalans Vorstellungen orientiert ist, ist es auf jeden Fall nicht nach dem marxistisch-leninistischen Gedankenmodell (aufgebaut), sondern eher ein demokratisches Modell. Inspiriert wurde natürlich Öcalans Idee von libertären Theoretikern, amerikanischen Theoretikern, wie Bookchin, der sich als Öko-Marxist versteht, und eigentlich dann versucht, alle gesellschaftlichen Schichten in neue Strukturen dieses Gesellschaftsmodell zu integrieren.“
„Auch, wenn natürlich Rojavas Gesellschaftsmodell heutzutage nach Öcalans Vorstellungen orientiert ist, ist es auf jeden Fall nicht nach dem marxistisch-leninistischen Gedankenmodell (aufgebaut), sondern eher ein demokratisches Modell. Inspiriert wurde natürlich Öcalans Idee von libertären Theoretikern, amerikanischen Theoretikern, wie Bookchin, der sich als Öko-Marxist versteht, und eigentlich dann versucht, alle gesellschaftlichen Schichten in neue Strukturen dieses Gesellschaftsmodell zu integrieren.“
Rojava genießt weltweit viel Zuspruch – nur der Türkei ist das Projekt ein Dorn im Auge. Für Ankara sind YPG und PYD wie die PKK: Terrororganisation. Andere Länder sehen die syrisch-kurdischen Einheiten dagegen als wichtigen Verbündeten im Kampf gegen die Terrororganisation „Islamischer Staat“.
Am Rande der Internationalen Sicherheitskonferenz der Konrad-Adenauer-Stiftung in Istanbul Ende Mai gibt der frühere US-Botschafter im Irak und in Syrien, James Jeffrey, aber zu: „Das Problem ist, dass die USA als Verbündete in Nordostsyrien seit 2014 mit einer Organisation mit Verbindungen zur PKK zusammengearbeitet hat: Das ist die YPG und umbenannt bei uns Amerikanern in Syrische Demokratische Kräfte - SDF. Aber sie sind assoziiert mit der PKK, sie sind mehr oder weniger die PKK-Abteilung für Syrien seit langem.“
Jeffrey hat selbst mit dem Ableger der PKK in Syrien gearbeitet. Die Kurden seien sehr gut im Kampf gegen den sogenannten „Islamischen Staat“ gewesen, deswegen habe Washington keine eigenen Truppen geschickt. „Dass wir mit der YPG operieren, verlangt gewisse Spielregeln. Aber das Problem ist, dass es in der YPG viele tausende Soldaten gibt, die mit der PKK verbunden sind und auch von ihr kontrolliert werden. Und: Niemand weiß, ob wir mit unseren Soldaten in der Gegend bleiben werden.“
Die Rolle der PKK und YPG im Stellvertreterkrieg
Die PKK sei jetzt ein Staat innerhalb eines Staates im Nordirak und in Teilen Syriens und damit eine ernstzunehmende Bedrohung für die Türkei, sagt Jeffrey, denn: „Das ist auch ein Spielzug für die Russen, Assad-Regierung und Iraner, um Druck auf Ankara auszuüben. Die PKK hat in der Vergangenheit diese Rolle gespielt und ist durchaus fähig, diese Rolle in Zukunft auch zu spielen.“ Jeffrey spielt auf die Rolle der PKK und den mit ihr verbundenen Gruppen als Truppen in einem Proxy-War an – also einem Stellvertreterkrieg.
Der türkische Militärexperte Citlioglu nennt das eine neuere Kriegs-Mode: „Gewaltanwendung eines Staates gegen einen Staat wird nicht akzeptiert. Was ist also zu tun? Die Staaten müssen zurücktreten und eine Marionettenorganisation auf die Bühne bringen. Daher benutzen die USA oder auch Frankreich die PKK und die YPG. Ebenso ist die von der Türkei in Syrien gebildete syrische Nationalarmee Protagonist eines Stellvertreterkriegs. Und der hat für die Staaten keine Kosten. Es gibt keine völkerrechtliche Sanktion, wenn ein Kriegsverbrechen begangen wird.“
Auf dem Feld seien auch Deutsche, Franzosen und andere Europäer. Sie stünden als Kämpfer, Ärzte oder Ingenieure auf der Seite der PKK und der YPG. Die deutschen Behörden wüssten das. Offiziell halten sie sich bisher aus dem Konflikt mit der PKK und der YPG, soweit es geht, heraus. Die Türkei findet das falsch, weil der Westen damit Terror dulde. Die pro-kurdische HDP etwa findet die deutsche Zurückhaltung dagegen falsch, weil Berlin so die Gewaltanwendung der Türkei legitimiere.
Der Vorsitzende der Münchener Sicherheitskonferenz, Christoph Heusgen, findet, dass es aktuell dringendere, außenpolitische Themen gibt. Außerdem sei das Selbstverständnis deutscher Außenpolitik allgemein eher zurückhaltend. Ein aktives Einmischen in Syrien oder im Irak dürfte auch nicht ganz ohne Kosten für die Sicherheitslage in Deutschland kommen.
Die Zurückhaltung Berlins sei daher auch der komplexen Interessenlage geschuldet, analysiert der Experte für Sicherheitspolitik: „Weil es immer wieder das Potenzial hat, dass diese Streitigkeiten dann auch in Deutschland auf deutsche Straßen geholt werden. Sollen wir uns da einmischen? In etwas, wo wir Gefahr laufen, dass wir uns entweder PKK-Terroristen zum Feinde machen oder dass wir Ankara gegen uns aufbringen?“
Europäische Zurückhaltung in der Kurdenfrage
Wenn es um die PKK geht, hat Deutschland das schon längst getan. Präsident Erdogan warf zuletzt auch Berlin Terrorunterstützung vor: Etwa wegen PKK-Demonstrationen und nicht ausgelieferten mutmaßlichen PKK-Sympathisanten. Der CDU-Außenpolitiker und Oberst a.D. Roderich Kiesewetter verteidigt das mit den Regeln des deutschen Rechtsstaates. Außerdem wirke die türkische Regierung im Umgang mit kurdischen Belangen oft rücksichtslos.
Was die YPG angeht, hat er eine ganz andere Meinung: „Für uns ist sie jemand, der die Freiheitsrechte in Nordsyrien noch aufrechterhält gegen das brutale Assad-Regime. Also hier müssen wir uns vielleicht auch selber noch einmal intensiv auseinandersetzen, wie die wirklichen Verflechtungen sind. Aber grundsätzlich Freiheitsbewegungen der Kurden auch in Syrien als Terrorgruppen zu bezeichnen, halte ich für falsch.“
Wenn es um eine Gesamtbetrachtung aller Kurden-Organisationen geht, dann kommen der Westen und die Türkei in der PKK-Frage nicht zusammen: In der EU und in den USA sind die Grenzen zwischen Terror, militärischem Pragmatismus und dem Gedanken eines Freiheitskampfes für alle Kurden weltweit fließend.
Für den Turkologen Posch ist es deshalb eine mehrfache Katastrophe, dass ausländische Kräfte im Kampf gegen die Terrororganisation „Islamischer Staat“ aus Mangel an eigenen Truppen auf die YPG zurückgreifen. Sie würden dabei vergessen, dass sie auch den ideologischen Akteur – die PKK – legitimierten: Einmal diplomatisch, was die Türken so wütend mache. Aber auch das Völkerrecht werde ad absurdum geführt, weil die YPG Teil einer verbotenen Terrororganisation sei. Und schließlich wirke sich die Kooperation militärisch auf die Region aus, da die YPG vom Westen gut ausgerüstet werde: „In den politischen Eliten sollte mal die Erkenntnis reifen, dass die Kurdenfrage weg ist von der Fußnotenproblematik. Zweitens: Aufhören, das ganze romantisch zu sehen. Es ist eine extrem brutale Angelegenheit in einem extrem brutalen Umfeld. Die militärisch schlagfertigsten Gruppen sind aber nicht immer die nettesten. Und da muss man mal die eigenen Wertigkeiten zurechtrücken.“
Konflikt über Umgang mit PKK wird komplizierter
Ansonsten werde der Westen auch den Kurden nicht gerecht, die sich von der PKK distanzieren. Andererseits kann Posch die europäische Zurückhaltung zu diesem Zeitpunkt nachvollziehen: Wenn der Westen jetzt die kurdische YPG fallen lasse, drohten nicht nur Unruhen von PKK-Sympathisanten in europäischen Metropolen, sondern in Syrien und im Irak könnten sich die Machtverhältnisse derart verschieben, dass Europa mit vielen Flüchtlingen rechnen müsse.
Der ehemalige General Citlioglu sagt, dass die Türkei die politische wie gesellschaftliche Unterstützung aus dem Ausland brauche. Aus 40 Jahren Kampf gegen die PKK habe er gelernt, dass Staaten an sich zu schwerfällig seien und der militärische Kampf alleine nicht ausreiche: „Die Kriegstaktiken konventioneller Armeen und die Taktiken terroristischer Organisationen sind völlig verschieden. Wir vergleichen Staaten mit einem Tanker von 300 Metern Länge. Schiffe dieser Größe können kaum ihren Kurs ändern, terroristische Organisationen aber sind wie Schnellboote. Sie können sich jederzeit anpassen. Es gibt auch Regeln, die Staaten binden, aber keine, die terroristische Organisationen binden. Denn sie kämpfen ja gegen diese Regeln.“
Citlioglu findet, dass die PKK wohl erst dann überflüssig werden könne, wenn es für Kurden in all ihren Gebieten mehr Gleichberechtigung und Freiheiten gibt. Dafür sollte allerdings politisch gestritten werden und nicht mit Waffengewalt, so, wie es die PKK tue.
Der HDP-Berater Baris sagt: „Gewalt wird produziert, wird provoziert. Deswegen sollte man auf jeden Fall auf eine Friedenspolitik setzen. Auch das ist unsere Forderung, an die Europäische Union, an Deutschland, an die Weltöffentlichkeit. Wir glauben, dass dieser Konflikt erst dann beendet werden kann, wenn Verhandlungen zwischen Herrn Öcalan und dem Staat aufgenommen werden.“
Die Frage nach PKK und YPG ist längst keine mehr, die die Türkei alleine beantworten kann – egal, wie oft ihre Armee noch gegen sie in den Kampf zieht. Die PKK wird wohl erst einmal bleiben. In der Zwischenzeit aber dürfte der Konflikt über den Umgang mit der Terrorgruppe nur komplizierter werden – was eine friedliche Lösung ohne Folgeprobleme unwahrscheinlicher macht.
Redaktioneller Hinweis: Wir haben zum Beitrag vom 22.6. zahlreiche Rückmeldungen erhalten. Die Redaktion hat den Text erneut geprüft. Einzelne Passagen wurden überarbeitet, geschärft beziehungsweise ergänzt. Außerdem wurde der Beitrag um eine bisher fehlende Perspektive ergänzt. Zu Wort kommt nun zusätzlich Azad Baris, ehemals im Vorstand der pro-kurdischen HDP in der Türkei (Demokratische Partei der Völker), heute ihr strategischer Berater. Der Beitrag erscheint nun unter dem Titel „Die Türkei, das Ausland und die PKK“