
Am 14. Mai finden in der Türkei Parlaments- und Präsidentschaftswahlen statt. Der Urnengang erfolgt damit nur drei Monate nach dem verheerenden Erdbeben, das allein in der Türkei mehr als 47.000 Menschen getötet und Hunderttausende vertrieben und obdachlos gemacht hat. Der amtierende Präsident Recep Tayyip Erdogan tritt mit seiner islamisch-konservativen AKP im Bündnis mit der ultranationalistischen MHP und der kleinen nationalistisch-religiösen BBP an. Ein Großteil der Opposition hat sich zu einem Sechser-Bündnis formiert, das von der sozialdemokratischen CHP angeführt wird.
- Wie ist die Bilanz des türkischen Präsidenten Erdogan?
- Was sind die größten aktuellen Probleme der Türkei?
- Wer fordert Erdogan bei der Präsidentschaftswahl heraus?
- Wer ist Kemal Kilicdaroglu?
- Welche Chancen hat die Opposition bei der Wahl in der Türkei?
- Was passiert, wenn die Opposition die Wahl in der Türkei gewinnt?
Wie ist die Bilanz des türkischen Präsidenten Erdogan?
Der amtierende Recep Tayyip Erdogan ist seit zwei Jahrzehnten in der Türkei an der Macht. Sein Regierungsstil hat im Laufe der Jahre zunehmend autoritäre Züge angenommen. Massenproteste gegen die Regierung im Sommer 2013 ließ er blutig niederschlagen, nach einem Putschversuch 2016 wurde der Ausnahmezustand verhängt. Zwei Jahre später folgte die Abschaffung der parlamentarischen Demokratie zugunsten eines Präsidialsystems, in dem der Staatspräsident durchregieren kann.
Inzwischen hat Erdogan, 69, nahezu alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens, die Verwaltung und den Staatsapparat in seine Hand gebracht, wichtige Posten mit Günstlingen besetzt. Auch ein Großteil der Medien des Landes ist unter seiner Kontrolle, außerdem die Justiz, das Militär und die Polizei. Widerspruch und Kritik werden unterdrückt. Erdogan ist ein Populist mit Hang zum Nationalismus und ohne viel Skrupel - wird aber zumindest von einem Teil der Bevölkerung noch immer als starker Mann betrachtet, der die Interessen der Türkei international mit Nachdruck vertritt.
Hoffnungen und Machterhalt
Betrachtet man die derzeitige politische Verfassung der Türkei, ist nur noch schwer nachvollziehbar, dass Erdogans Partei, die AKP, einst bei ihrem Wahlsieg 2002 große Hoffnungen auf demokratische Reformen, einen EU-Beitritt, friedliche Beziehungen zu den Nachbarländern und mehr Wohlstand weckte.

Das kam gut an in einem Land, das von einem grausamen Krieg gegen die Kurden, grassierender Korruption, instabilen Koalitionsregierungen und der Vorherrschaft des Militärs geprägt war. Doch im Laufe der Zeit kippten die guten Vorsätze ins Gegenteil, zentral für Erdogans Denken wurde der eigene Machterhalt. Von den anfänglichen Errungenschaften - offizielle Beitrittsverhandlungen mit der EU, Friedensprozess im Kurdenkonflikt, drastische Steigerung des durchschnittlichen Pro-Kopf-Einkommens - ist nicht viel übriggeblieben.
Was sind die aktuell größten Probleme der Türkei?
Momentan hat die Türkei vor allem mit den Folgen des verheerenden Erdbebens zu kämpfen. Nach Schätzungen der Europäischen Investitionsbank werden für den Wiederaufbau von zerstörten Gebäuden und der Infrastruktur mindestens hundert Milliarden Euro benötigt – Geld, das Ankara ohne fremde Hilfe kaum aufbringen kann. Das Land trauert um rund 47.000 Tote – nach Angaben der türkischen Regierung sahen sich bislang 3,3 Millionen Menschen gezwungen, das Erdbebengebiet zu verlassen.
Die Türkei befand sich schon vor dem Beben in einer wirtschaftlich schwierigen Lage. Ein Grund dafür ist die massive Inflation, die das Leben immer weiter verteuert. Laut Angaben der staatliche Statistikbehörde TÜIK lag die Inflationsrate im Februar bei 55,1 Prozent. Unabhängige Wirtschaftsforscher sehen die Realinflation gar bei über 120 Prozent. Hinzu kommt eine hohe Arbeitslosigkeit, viele junge Menschen sehen keine Perspektiven für sich.
Daneben beherbergt die Türkei so viele Flüchtlinge wie kein anderes Land der Welt. Aktuell leben dort nach Angaben des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen (UNHCR) mehr als 3,6 Millionen Vertriebene des syrischen Bürgerkriegs sowie knapp 320.000 Schutzsuchende aus anderen Ländern, hauptsächlich aus Afghanistan und dem Irak.
Wer fordert Erdogan bei der Präsidentschaftswahl heraus?
Ein Oppositionsbündnis aus sechs Parteien fordert Erdogan bei den Wahlen heraus. Dieses hat sich auf einen Herausforderer geeinigt: Kemal Kilicdaroglu. Der zurückhaltende Intellektuelle ist Vorsitzender der größten türkischen Oppositionspartei, der sozialdemokratischen CHP. Neben der CHP und der nationalkonservativen Iyi-Partei gehören vier kleinere Parteien zum Sechser-Bündnis, darunter auch die Gelecek Partisi (Zukunftspartei) des ehemalige Weggefährten Erdogans und Ex-Ministerpräsidenten Ahmet Davutoglu.

Kilicdaroglu gilt als guter Vermittler mit diplomatischem Geschick - zugleich aber auch als schlechter Wahlkämpfer. Dieser Umstand hätte fast zum Bruch des Oppositionsbündnisses geführt: Die Chefin der Iyi-Partei, Meral Aksener, kündigte vor kurzem plötzlich und überraschend die Zusammenarbeit auf. Aksener hätte lieber andere CHP-Politiker, wie den beliebten Istanbuler Bürgermeister Ekrem Imamoglu oder den Bürgermeister von Ankara, Mansur Yavas, als Herausforderer gesehen. Doch dann ruderte sie wieder zurück und die Opposition einigte sich schließlich auf einen Kompromiss: Die beiden Bürgermeister sollen bei einem Wahlerfolg Vizepräsidenten werden.
Wer ist Kemal Kilicdaroglu?
Der Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu ist ein Gegenbild zu Erdogan: hier der bedächtige Intellektuelle mit randloser Brille, dort der polternde und beständig austeilende Populist. Kilicdaroglu steht an der Spitze der sozialdemokratischen CHP - der Partei von Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk. Unter Kilicdaroglus Führung hat sich die einst streng säkulare Volkspartei auch konservativen Kreisen und den marginalisierten Kurden geöffnet.
Der studierte Ökonom, der lange Jahre die türkische Sozialversicherungsbehörde leitete, sieht sich selbst als "stille Kraft". Auch von der Statur her eher zierlich, brauchte Kilicdaroglu einige Zeit, den richtigen Ton in seinen Reden zu finden, die viele als nicht entschlossen genug empfanden. Kritiker sagen, dass ihm schlicht Charisma fehlt. Doch im Laufe der Jahre gelang es dem Oppositionspolitiker nach und nach, sich in der öffentlichen Debatte Gehör zu verschaffen.
Im repressiven Klima nach dem Putschversuch 2016 unternahm Kilicdaroglu 2017 einen 420 Kilometer langen Marsch von Ankara nach Istanbul, um gegen die Inhaftierung eines CHP-Abgeordneten zu protestieren. 2019 eroberte die CHP die Bürgermeisterämter in mehreren Großstädten, darunter Istanbul und Ankara, und beendete dort die jahrelange Herrschaft von Erdogans AKP.
"Dies ist mein Kampf für eure Rechte"
Gestärkt durch diese Siege, verschärfte der Erdogan-Herausforderer den Ton. "Dies ist mein Kampf für eure Rechte. Die Reichen sind reicher geworden und die Armen ärmer", sagte er 2022 - und zeigte sich dabei in seiner dunklen Wohnung. Dort war der Strom abgestellt worden, weil Kilicdaroglu aus Protest gegen die stark gestiegenen Tarife seine Rechnung nicht bezahlt hatte. Auch ein Auftritt beim türkischen Statistikamt, dem er vorwirft, die Inflationszahlen zu schönen, oder seine Kritik an Unternehmern, sich durch ihre Nähe zur Macht zu bereichern versuchen, trugen zu seinem Image als redlicher Politiker bei.

Offen ist, ob er damit gegen den Populismus Erdogans ankommt. Kilicdaroglu, 74, stammt aus der historisch rebellischen Provinz Dersim (heute Tunceli), in der hauptsächlich Kurden und Aleviten leben. Auch er selbst gehört der islamischen Glaubensrichtung der Aleviten an. Einige politische Beobachter sehen in seiner Herkunft einen Nachteil, was die Wahl angeht, andere einen Vorteil – könnte er doch deswegen Zugang zu kurdischen Wählerinnen und Wählern finden. Bei einem Wahlsieg wäre Kilicdaroglu der erste alevitische Präsident der Türkei.
Welche Chancen hat die Opposition bei der Wahl in der Türkei?
Im Vergleich mit früheren Wahlen hat die Opposition dieses Mal sehr gute Chancen, Erdogan zu besiegen. Wegen der hohen Lebenshaltungskosten im Land und einem schlechten Management der Rettungs- und Hilfsmaßnahmen nach dem Erdbeben hat Erdogan mit sinkenden Zustimmungswerten zu kämpfen. Auch Korruptionsvorwürfe machen ihm zu schaffen.
Umfragen zufolge ist das Rennen zwischen AKP und der ultranationalistischen MHP auf der einen Seite und dem Oppositionsbündnis auf der anderen offen. Erdogan selbst spricht von einer „Schicksalswahl“.
Das Zünglein an der Waage könnte die pro-kurdische HDP spielen, die zehn bis 15 Prozent der Wähler hinter sich vereinen kann. Sie hat bereits angekündigt, Oppositionsführer Kilicdaroglu unter bestimmten Bedingungen zu unterstützen und verzichtet darauf, einen eigenen Kandidaten aufzustellen, was das Oppositionsbündnis stärkt.
Was passiert, wenn die Opposition die Wahl in der Türkei gewinnt?
Das Ziel des Oppositionsbündnisses ist es, das Land wieder in eine parlamentarische Demokratie zu überführen und das Präsidialsystem abzuschaffen. Es hat sich mehr Demokratie, mehr Freiheit und mehr Gerechtigkeit auf die Fahnen geschrieben. Der türkische Politikwissenschaftler Cengiz Aktar warnt allerdings vor zu vielen Hoffnungen auf einen Machtwechsel. Besonders die Beteiligung von nationalistischen Kräften am Oppositionsbündnis sei ein Risiko, betont er.
Beobachter haben zudem Zweifel, ob die Wahlen frei und fair von statten gehen werden, und ob Erdogan eine mögliche Niederlage überhaupt anerkennt. Sollte er die Wahl verlieren, drohen ihm und seiner Familie vermutlich Anklagen wegen Korruption. „Dieses Regime wird alles daransetzen, die Wahlen zu gewinnen. Und selbst wenn es verlieren sollte, wird es die Macht nicht friedlich übergeben - an welche Nachfolger auch immer“, sagt Aktar.
Erdogan könne es sich gar nicht leisten, das Amt abzugeben, meint auch der Politikwissenschaftler Dimitar Bechev, der in Oxford lehrt: „Wenn er geht, gibt es für ihn zwei Optionen: Exil oder Gefängnis. Für ihn steht also alles auf dem Spiel, und er wird versuchen, an der Macht festzuhalten, gleich was passiert und was es kostet.“
Auf längere Sicht werde es für die AKP aber schwer, an der Macht zu bleiben, sagt Bechev. Denn Erdogan habe keinen Nachfolger. Seine Herrschaft beruhe auf einem personalisierten System.
Die türkische Zivilgesellschaft gibt nicht auf
Für die Zukunft ist Bechev deshalb optimistisch und verweist auf die kommunalen Wahlsiege der türkischen Opposition in den größten Städten des Landes vor drei Jahren: „Wir haben in den letzten Jahren viel Widerstandskraft gesehen.“ Die türkische Zivilgesellschaft habe trotz aller Repressionen nicht aufgegeben: „Und sie hat eine Opposition, die das Spiel inzwischen auch gelernt hat.“
Der amerikanische Türkei-Experte Nicholas Danforth ist in seiner Einschätzung hingegen deutlich weniger optimistisch: Der Weg zurück zur Demokratie werde weit sein, betont er. Selbst im besten Fall, der Ablösung Erdogans, werde das vom Präsidenten erzeugte „ultra-nationalistische und antiwestliche“ Klima das Land weiterhin plagen.
Quellen: Susanne Güsten, Gunnar Köhne, AFP, dpa, ahe