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Protokoll eines Anschlags
Mutmaßlicher Halle-Attentäter Stephan B. vor Gericht

Oktober 2019: Am höchsten jüdischen Feiertag, Jom Kippur, scheitert ein Attentäter daran, in die Synagoge von Halle einzudringen. Danach tötete er zwei Passanten. Nun steht er vor Gericht. Wie konnte es zu dem Anschlag kommen und was sind die Lehren der Tat?

Von Niklas Ottersbach | 20.07.2020
Einschusslöcher an der Tür der Synagoge in Halle an der Saale.
Einschusslöcher an der Tür der Synagoge in Halle an der Saale. (picture alliance/dpa/Jan Woitas)
Halle an der Saale am 9. Oktober 2019: Ein schwer bewaffneter Mann versucht in die Synagoge der Stadt einzudringen. Es ist Jom Kippur, der höchste jüdische Feiertag. Während im Inneren der Synagoge etwa 50 Gemeindemitglieder feiern, schießt Stephan B. draußen auf die hölzerne Eingangstür. Durch die Überwachungskamera über der Holztür verfolgt der Vorsitzende der jüdischen Gemeinde Halle Max Privorozki, wie Stephan B. daran scheitert einzudringen.
"Also, ich werde diesen Tag niemals in meinem Leben vergessen, das auf jeden Fall. Und zwar nicht nur, weil der Attentäter versucht hat uns alle umzubringen, sondern auch weil zwei Menschen umgebracht wurden. Und zwar – den Namen werde ich nicht sagen – der Vornamen ist Jana. Sie wurde eigentlich vor der Synagoge ermordet und ich persönlich konnte sehen, wie das geschehen ist."
Nach den psychischen Verletzungen kommt Corona
Stephan B. erschießt die vorbeilaufende Passantin Jana L. aus Frust, als er es nicht schafft in die Synagoge zu gelangen. Dann fährt er mit seinen selbstgebauten Waffen 500 Meter weiter zu einem türkischen Imbiss. Dort tötet er den 20-jährigen Imbiss-Gast Kevin S. bei der Mittagspause. Ismet Tekin und sein Bruder Rifat überleben. Sie haben Glück. Heute aber hat der 36-jährige Ismet Tekin noch immer Alpträume vom 9. Oktober.
"Jemand kommt einfach und schießt auf uns. Und zwei Menschen sind gestorben. Viele sind dadurch psychisch kaputtgegangen. Und wir können das nicht richtig verarbeiten und dazu noch die finanzielle Krise."
Das Bild zeigt die Synagoge in Halle mit der Kuppel und einem Davidstern auf der Spitze.
Anschlag von Halle - "Kann ich hier in Ruhe weiterleben?"
Bald beginnt der Prozess gegen den mutmaßlichen Attentäter von Halle. Jüdinnen und Juden in Deutschland haben seit dem Anschlag das Gefühl, dass sie in Deutschland selbst für ihre Sicherheit sorgen müssen.
Denn Ismet Tekin hat Schulden. In der Corona-Zeit musste er mehrere Wochen schließen. Die Miete für den Laden kann er immer noch nicht zahlen. Inzwischen läuft das Geschäft zwar wieder etwas besser. Doch in den vergangenen Monaten verbrachte er viel Zeit mit Anwälten und dem Oberlandesgericht Naumburg. Tekin will an dem Prozess gegen Stephan B. als Nebenkläger teilnehmen; schließlich war der Tatort sein Döner-Laden. Das zuständige Oberlandesgericht Naumburg aber ließ ihn zunächst nicht zu. Begründung: Es sei nicht sicher, dass Stephan B. auch Ismet Tekin treffen wollte. Erst jetzt, kurz vor Prozessbeginn am 21. Juli, ließ die Richterin Ismet Tekin als einen von rund 50 Nebenklägern zu. Und dann wird er auch Stephan B. wiedersehen.
"Was er erzählt ist mir nicht wichtig, aber was im Urteil rauskommt ist wichtig für die Zukunft. Also dieser Prozess muss sehr schön umgehen damit, dass in der Zukunft solche Sachen nicht geschehen müssen."
Zweifacher Mord, 68-facher versuchter Mord, gefährliche Körperverletzung
Nicht nur die Liste der Nebenkläger ist lang. Auch die Anklageschrift ist umfassend. Auf 16 Seiten wird Stephan B. zur Last gelegt: Zweifacher Mord, 68-facher versuchter Mord, gefährliche Körperverletzung, räuberische Erpressung und Volksverhetzung. Wer ist der Mann, dem diese Taten vorgeworfen werden?
Stephan B. kommt aus Benndorf, einem kleinen Ort im Süden von Sachsen-Anhalt. Eine ehemalige Bergbauregion. Der 27-jährige Stephan B. hat hier bis zum Anschlag zusammen mit seiner Mutter gelebt. Einer Grundschullehrerin.

Am Tag des Anschlags sagte sie einem Kamerateam von Spiegel TV, ihr Sohn habe nichts gegen Juden, sondern nur etwas gegen Leute, die die finanzielle Macht hätten. "Wer habe das nicht?", fragte sie. Zitat Ende. Gegenüber den Ermittlern der Polizei soll Stephan B. offen erklärt haben, dass Juden das größte Problem für Leute wie ihn seien. Leute wie er, das seien, Zitat: "Unzufriedene weiße Männer."
Die Polizei versichert nach dem Anschlag am 9. Oktober in Halle ein Gebiet zwischen den Orten Wiedersdorf und Landsberg in der Nähe von Halle. Bei dem Angriff auf eine jüdische Synagoge waren zwei Menschen getötet worden.
Nach dem Anschlag sicherte die Polizei das Gebiet weitflächig ab (AFP / Ronny Hartmann)
Torsten Hahnel kennt solche Denkmuster seit langem. Seit knapp 20 Jahren arbeitet der Rechtsextremismus-Experte aus Halle für den Verein Miteinander e.V.
"In der ostdeutschen Provinz aufwachsen heißt eben auch mit wenig Widerspruchskultur gegen Rassismus und gegen Demokratiefeindschaft aufzuwachsen. Und das äußert sich mal in Apathie, vielleicht auch wirklich mit Demokratieferne, und bei manchen Leuten entwickelt sich eben dann so ein ausgeprägtes Weltbild und ein Handlungsdruck, der dann sicher wieder sehr stark mit der Online-Community und mit der Vernetzung mit anderen rechtsextremen Strukturen zu tun hat."
Izzet Cagac, Betreiber des Kiez-Döners, steht vor seinem Imbiss in Halle und telefoniert. Ministerpräsident Haseloff und der Opferbeauftragte der Bundesregierung haben den vom rechtsextremen Terroranschlag betroffenen Kiez-Döner besucht.
Imbiss-Eröffnung nach Anschlag in Halle
Der "Kiez-Döner" war beim Anschlag von Halle einer der Tatorte. 40 Tage später wurde der Imbiss wiedereröffnet. Die Rückkehr in den Alltag fällt aber weiter schwer.
Tat live im Netz gestreamt
So sei es auch bei Stephan B. gewesen. Im Internet trieb er sich vor allem auf so genannten Image Boards herum. Das sind Internet-Foren, auf denen anonym Bilder und Texte ausgetauscht werden - häufig mit extremistischen Inhalten: Die Anonymität der Foren erschwert die Strafverfolgung. Über so ein Forum streamte Stephan B. seine Tat live im Netz und präsentierte seine selbstgebauten Waffen.
"Das heißt, er hat sich da auf kriminelle Prozesse und Netzwerke eingelassen. Aber dieser Prozess kann im Grunde genommen bis in die Schlussphase weitgehend unauffällig und weitgehend übers Internet laufen", erklärt Thomas Kliche, warum mutmaßliche Attentäter wie Stephan B. häufig so lange unentdeckt bleiben. Kliche ist Professor an der Hochschule Magdeburg Stendal. Sein Forschungsschwerpunkt: Schwerpunkt politische Psychologie.
Aus dem Geständnis, das Stephan B. laut NDR, WDR und Süddeutscher Zeitung gegenüber den Ermittlern abgelegt haben soll, ergibt sich folgendes Bild: Stephan B.‘s Hass richtete sich einerseits gegen Juden, aber auch gegen muslimische Flüchtlinge. Dazu passt auch sein angebliches Vorbild: Der Attentäter von Christchurch, der im März 2019 51 Menschen in zwei Moscheen tötete. Auch er streamte die Tat live ins Netz.
"Das ist ein Attentäter-Typ mit starker Selbstüberschätzung. Einer Art Missionarsidee von sich selbst. Wir sind leuchtende, herausragende Helden, Vorreiter, die auch völlig individuell zu handeln und die schlimmsten Verbrechen zu begehen bereit sind, um ein Zeichen zu setzen. Also, sie sind so von ihrem Hass und ihrer Idee überzeugt, dass sie dafür buchstäblich über Leichen gehen. Und sie sind auch im Stande – schlau genug- so etwas individuell zu organisieren."
Zwei Mal hat Stephan B. die Synagoge von Halle im Vorfeld ausgespäht. Sie war an Jom Kippur, dem höchsten jüdischen Feiertag, nicht bewacht. Was zu einer der ersten Maßnahmen der Landesregierung nach dem Anschlag führte: Permanente Polizei-Bewachung aller Synagogen in Sachsen-Anhalt.
09.10.2019, Berlin: Ein Polizeibeamter läuft vor der Neuen Synagoge Berlin. 
Folge des Anschlags von Halle: Polizeischutz vor der Neuen Synagoge Berlin (picture alliance / dpa / Christoph Soeder)
Wurde der Schutz jüdischer Einrichtungen vernachlässigt?
Kommunikation zwischen der Gemeinde und der örtlichen Polizei gab es vor dem Anschlag kaum. Und wenn, dann war sie schwierig, erinnert sich der Vorsitzende der Gemeinde Max Privorozki. Zum Beispiel 2014, zu Zeiten des Gaza-Krieges zwischen Israelis und radikalen Palästinensern, da habe die Polizei die Synagoge strenger bewacht. Allerdings ohne, dass Max Privorozki darum gebeten habe.
"Und dann hat die Polizei uns mitgeteilt, dass es jetzt vorbei ist. Jetzt sehen die das anders und jetzt wird die Polizei nicht immer präsent bleiben. Und so war es immer. Also die Polizei hat selber entschieden, ob sie präsent sind oder nicht. Und wenn die entschieden haben nicht präsent zu sein, dann sind die nicht da."
Felix Klein, Beauftragter der Bundesregierung für jüdisches Leben in Deutschland und den Kampf gegen Antisemitismus, während der Bundespressekonferenz zum Thema Juedisches Leben in Deutschland - 21.01.2020
"Antisemitische Bedrohung kann nicht mehr verneint werden"
Der Verfassungsschutz habe den rechtsextremistischen Terror in der Vergangenheit unterschätzt, sagte Felix Klein, Antisemitismusbeauftragter der Bundesregierung im Dlf.
Dabei war der Schutz jüdischer Einrichtungen in Sachsen-Anhalt schon vor dem Anschlag von Halle im Fokus der Behörden. Im November 2018, also rund ein Jahr vor dem Anschlag, organisierte das Innenministerium in Magdeburg eine Veranstaltung. Thema: "Antisemitischen Hassverbrechen begegnen – jüdische Gemeinden schützen". Anwesend damals: Die Leiter der Polizeibehörden von Sachsen-Anhalt. Vertreter der OSZE, der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, stellten einen Leitfaden vor, der unter anderem empfahl jüdische Einrichtungen an Feiertagen besonders zu schützen. Auf Deutschlandradio-Anfrage schreibt das CDU-geführte Innenministerium von Sachsen-Anhalt:
"Soweit der Leitfaden Empfehlungen zum Schutz jüdischer Einrichtungen abbildet, sei darauf hingewiesen, dass die Polizeiinspektion Halle (Saale) eine der Lageeinschätzung angepasste Schutzmaßnahme durchgeführt hat und Polizeibedienstete das Objekt in ihre Streifentätigkeit einbezogen haben."
Warum die jüdische Gemeinde in Halle an Jom Kippur im vergangenen Jahr nicht besser geschützt wurde, das wird derzeit im Magdeburger Landtag in einem Untersuchungsausschuss aufgearbeitet. Die Revierleiterin aus Halle gab dort zu Protokoll: Sie wusste nichts von Jom Kippur, dem höchsten jüdischen Feiertag.
Offene Fragen gibt es auch zum Polizeieinsatz
Offene Fragen gibt es auch zum Polizeieinsatz am Tag des Anschlags: Warum konnte die Polizei Stephan B. erst nach 90 Minuten stellen?
Vorsitzender des Untersuchungsausschusses: Jüdische Gemeinde in Zukunft dauerhaft schützen
Es sei ein Versäumnis gewesen, die Synagoge an Jom Kippur nicht zu schützen, sagte Sebastian Striegel (Bündnis 90/Die Grünen) im Dlf. Das zu ändern, sei eine zentrale Erkenntnis des Untersuchungsausschusses.
Der Einsatzleiter räumte im parlamentarischen Untersuchungsausschuss zumindest Pannen ein: So sei der Schusswechsel zwischen Stephan B. und den vier Polizisten neben dem Döner-Imbiss von den Beamten nicht gemeldet worden. Nach der Schießerei konnte Stephan B. trotz plattem Reifen mit seinem Mietauto entkommen.
Warum der Antisemitismus nie weg war
Nach dem tödlichen Anschlag in Halle stellt sich erneut die Frage: Werden rechtsextremistischer Terror und Antisemitismus in Deutschland und andernorts unterschätzt?
Die Erklärung des Einsatzleiters im Untersuchungsausschuss: Nach einem Hinweis eines mutmaßlichen Zeugen, bogen die Beamten in eine falsche Richtung ab. Innenpolitiker Sebastian Striegel von den Grünen ist der Vorsitzende des parlamentarischen Untersuchungsausschusses.
"Wir haben bislang festgestellt, dass der Einsatz entsprechend den polizeilichen Regularien geführt wurde und entsprechend stattfand. Wir haben aber auch festgestellt, dass zum Beispiel das Wissen um jüdische Feiertage noch innerhalb der sachsen-anhaltischen Landespolizei nicht ausreichend vorhanden war. Das aber auch zum Beispiel die Frage der Informationsübermittlung zwischen Betroffenen und der Polizei noch Optimierungspotenzial hatte, jedenfalls vor dem 9. Oktober 2019. Das heißt, es gibt eine ganze Reihe von Fragen, über die noch zu sprechen ist und der Ausschuss wird einen abschließenden Bericht vorlegen, in dem auch diese Frage beantwortet werden kann."
Thomas Kliche bei der Aufzeichnung der ZDF-Talkshow Markus Lanz im Studio Stahltwiete. Hamburg, 24.05.2016 Foto:xgbrcix/xFuturexImage Thomas at the Recording the ZDF Talk show Markus Lanz in Studio Stahltwiete Hamburg 24 05 2016 Photo xgbrcix xFuturexImage
Der Psychologe Thomas Kliche (imago stock&people)
"Die AfD hat drei große strategische Vorteile"
Fragen, die im Untersuchungsausschuss auch von der AfD gestellt werden. Sie war es, die im Landtag den Untersuchungsausschuss überhaupt erst eingesetzt hat. Zusammen mit dem ehemaligen AfD-Politiker und inzwischen fraktionslosen André Poggenburg. Dahinter stecke Taktik und Kalkül, sagt Thomas Kliche, Politikpsychologe von der Hochschule Magdeburg-Stendal.
"Die AfD hat da ja drei große strategische Vorteile, wenn sie diese Themen besetzt. Erstens, sie kann sich als Partei der Sicherheit von Recht und Ordnung darstellen, sie kümmert sich eben um Unterdrückung von Verbrechen. Das ist die eine Botschaft. Die zweite Botschaft ist, sie schreit ganz laut: "Haltet den Dieb, wir sind nicht antisemitisch, wir bekämpfen den Antisemitismus, ganz gleich was da unsere Mitglieder mal gesagt haben mögen. Und der Dritte Effekt ist: Sie zeigen, dass sie was tun. Also, sie zeigen, dass sie im Landtag nicht eine lächerliche Dilettantentruppe sind, die nichts auf die Reihe kriegt, keine Gesetze einbringt, sondern, dass sie irgendwie Staub aufwirbelt und dass sie den Leuten das Leben schwer macht und insofern eine wirkungsvolle Opposition ist."
Dabei gibt es genug Beispiele für antisemitische Tendenzen auch innerhalb der AfD in Sachsen-Anhalt. Der AfD-Stadtrat in Halle, Donatus Schmidt, hat den Verschwörungsmythos verbreitet, beim Anschlag auf das World Trade Center 2001 habe es einen sogenannten "Jew Call" gegeben. Also eine Vorwarnung an Jüdinnen und Juden, sich nicht in das Gebäude zu begeben.
Der Präsident des AfD-Landesschiedsgericht Peter Günther, verbreitet bei Facebook die Erzählung Angela Merkel sei eine Jüdin, die das deutsche Volk austauschen möchte.
Nach Angriff in Halle (Saale) legen Menschen Blumen und Kerzen an der Tür der Synagoge nieder
"Einen Einzeltäter gibt es im Internet-Zeitalter nicht"
Die Einzeltäter-These zum antisemitischen Anschlag in Halle hält David Begrich von der Arbeitsstelle Rechtsextremismus in Sachsen-Anhalt für problematisch, sagte er im Dlf.
Mario Lehmann, von Beruf Kriminalhauptkomissar und AfD- Innenpolitiker im Magdeburger Landtag, sieht darin keinen Widerspruch.
"Weil das ein Anliegen der AfD-Fraktion im Landtag Sachsen-Anhalt ist, das mal aufzuklären. Ja, weil wir hier einfach strukturelle Probleme auch feststellen. Und das es ja so nicht weitergehen kann. Es hätte auch jede andere Synagoge treffen können. Es hätte auch eine Moschee treffen können. Es hätte auch einen christlichen Feiertag treffen können. Das ist ein Problem der inneren Sicherheit. Und das ist mein Thema."
"Die AfD hat sich relativ schnell am Gedenkort inszeniert"
Auffällig im Untersuchungsausschuss: Während die anderen Parteien Fragen zum Polizeieinsatz stellen, interessiert sich die AfD kaum für die Polizeiarbeit. Ihr Fokus: Der fehlende Schutz der Synagoge im Vorfeld. Ihre Kritik: Der Innenminister von der CDU, Holger Stahlknecht, habe seinen Laden nicht im Griff. Torsten Hahnel, Rechtsextremismus-Experte vom Verein Miteinander e.V., spricht von einem instrumentellen Verhältnis der AfD zum Judentum.
"Das hat man auch hier in Halle gesehen. Die AfD war relativ schnell hier am Gedenkort, hat sich da inszeniert mit einem Kranz, hat angeblich der Opfer gedacht. Hat aber im gleichen Atemzug die Tat verharmlost, also den Täter sozusagen als psychisch krank und deshalb nicht rechtsextrem und sowas eingestuft. Hat sich nur zwei Tage später, die Hallesche Fraktion, mit dem Landesvorsitzenden auf den Markt gestellt und ein Bild zum Beispiel veröffentlicht bei Facebook, wo die Pogrom-Stimmung gegen die AfD thematisiert wurde."
Halles Einwohner und Gäste der Stadt trauern seit dem Anschlag auf die Synagoge öffentlich auf dem Marktplatz, zünden tausende Kerzen an und legen Blumen nieder
Halles Einwohner und Gäste der Stadt trauern öffentlich auf dem Marktplatz (Imago)
Worauf sich Hahnel bezieht: Kurz nach dem Anschlag warf Sachsen-Anhalts Innenminister Holger Stahlknecht der AfD vor, sie sei die geistige Brandstifterin dieser Tat.
Eine grundsätzlichere Frage aber wird die parlamentarische Aufarbeitung im Untersuchungsausschuss nicht klären können: Wie groß ist der Nährboden für Rechtsextreme in Sachsen-Anhalt?
Laut jüngstem Bundesverfassungsschutzbericht gab es im vergangenen Jahr in Sachsen-Anhalt mehr rechtsextreme Gewalttaten als im Nachbarland Sachsen – obwohl in Sachsen mehr als doppelt so viele Menschen leben.
Prominentes Beispiel: Sven Liebich, ein rechtsextremer Blogger. Früher aktiv bei der inzwischen verbotenen Organisation "Blood and Honour". Seit dem Corona-Ausbruch verbreitet er regelmäßig auf dem Marktplatz von Halle Verschwörungsmythen. In seinem Online-Shop vertreibt er T-Shirts mit gelbem Davidsstern mit der Aufschrift "ungeimpft". Andere T-Shirts bewirbt er mit, Zitat: "Der Dieselfahrer ist der neue Jude." Zitat Ende. Ein Mitglied der jüdischen Gemeinde Halle hat ihn daraufhin angezeigt. Die Staatsanwaltschaft Halle hat die Anzeige eingestellt.
"In Halle gibt es ein Problem mit Rechtsextremismus"
"Und diese antisemitischen Übergriffe haben auch eine ganz taktische Funktion. Man testet damit, ob man nicht eben doch Mehrheit für sich gewinnen kann. Wenigstens im Wegsehen. Also, die Leute werden im Mitlaufen trainiert", erklärt Thomas Kliche, Politikpsychologe von der Hochschule Magdeburg-Stendal. Sebastian Striegel, Innenpolitiker der Grünen aus Halle an der Saale:
"Ganz klar ist, in Halle gibt es ein Problem mit Rechtsextremismus. In Halle gibt es ein Problem mit politisch rechts motivierten Straftaten. Und alle, Staat und Bürgergesellschaft, sind gefordert, hier klare Kante zu zeigen. Wir brauchen nicht nur den Aufstand der Anständigen auf Seiten der Zivilgesellschaft. Wir brauchen aber auch den Anstand der Zuständigen. Wir brauchen eine Strafverfolgung, die genau hinschaut."
Josef Schuster, Präsident des Zentralrates der Juden in Deutschland äußert sich in der Würzburger Synagoge zu den Vorfällen in Halle
"Ich hoffe, dass man jetzt auch in Sachsen-Anhalt verstanden hat"
Der Präsident des Zentralrats der Juden, Josef Schuster, hat im Dlf fehlende Schutzmaßnahmen für Synagogen in Sachsen-Anhalt kritisiert.
Aufgehört haben die Angriffe auch nach dem Anschlag nicht, erklärt der Vorsitzende der jüdischen Gemeinde Max Privorozki. Erst vor ein paar Wochen formte ein 64-jähriger Tatverdächtiger vor dem Haus der jüdischen Gemeinde in Halle Hakenkreuze aus Papier. Was dieses Mal bemerkenswert gewesen sei: Der Polizist, der den Straftatbestand aufnehmen sollte, habe versucht, das Papier zu vernichten.
"Er hat nicht nur versucht, er hat es vernichtet. Und Überreste von diesem Papierstück hat er zur Seite geschoben. Und zwar so, dass der zweite Polizist es nicht sehen konnte. Also, das sieht man ganz offensichtlich auf der Aufnahme. Und wenn so was passiert, dann verliert die Polizei die Glaubwürdigkeit."
Inzwischen ermittelt die Staatsanwaltschaft Halle gegen den Polizisten wegen Strafvereitelung im Amt. Max Privorozkis Vertrauen in die Behörden ist erneut erschüttert worden.
Dem mutmaßlichen Attentäter gelang fast ein Fluchtversuch
Dazu gehört auch, dass es dem mutmaßlichen Attentäter Stephan B. im Gefängnis gelang unbewacht über eine drei Meter hohe Gefängnismauer zu klettern. Der Vorfall wurde nicht gemeldet. Erst Tage später kam der Ausbruchsversuch raus, als Konsequenz wurde der Staatssekretär im Justizministerium in den vorzeitigen Ruhestand versetzt. Die zuständige Ministerin ist noch im Amt.
Erst die ungeschützte Synagoge am höchsten jüdischen Feiertag, dann der misslungene Umgang mit dem mutmaßlichen Täter. Für Rechtsextremismus-Experte Torsten Hahnel vom Verein Miteinander e.V. ein doppeltes Versagen.
"Nun ist die Tat passiert, wir haben den Täter. Und er wird wieder so behandelt, als wäre er eben nicht ein Schwerverbrecher, der hier versucht hat ein Massaker an der jüdischen Gemeinde anzurichten und so ganz nebenbei zwei Menschen ermordet hat, sondern, als wäre er ein ganz normaler Strafgefangener. Das kann ich nur als Fahrlässigkeit bezeichnen. Und das dann auch wieder die Aufarbeitung eher so schleppend wirkt, und es wenig Zuständigkeiten gibt, die sagen, ja, da habe ich einfach einen Fehler gemacht und es ist unverzeihlich. Das zeigt natürlich aus meiner Sicht, dass die politische Kultur sich relativ wenig verändert hat."
Einsatzkräfte vom SEK sichern die Umgebung. Bei Schüssen sind nach ersten Erkenntnissen zwei Menschen getötet worden.
Terrorexperte: "Das war kein typischer Neonazi"
Der Attentäter von Halle habe sich klar am Norweger Anders Breivik und dem Attentat von Christchurch in Neuseeland orientiert, sagte der Sicherheitsexperte Peter Neumann im Dlf.
So ähnlich sieht es auch Max Privorozki. Der Vorsitzende der jüdischen Gemeinde fragt sich vor allem: Wie entsteht Antisemitismus in einem Menschen, der keine Juden kennt? Unter anderem deshalb wird auch der Vorsitzende der jüdischen Gemeinde als Nebenkläger vor Gericht auftreten.
"Insgesamt ist das ein Tag, was wahrscheinlich auch für die Stadt Halle und insgesamt für die jüdische Gemeinschaft in der Geschichte bleibt. Es gibt bestimmte Ereignisse in der Geschichte, die mit einem Wort "Zäsur" benannt werden. Also etwas wird jetzt anders als vorher. Und bestimmt dieser Tag ist so."
Wenn nun der Prozess gegen Stephan B. in Magdeburg beginnt, wird der 9. Oktober 2019 Max Privorozki wieder einholen. Ein Tag, der alles verändert hat. An dem Prozess teilnehmen will Max Privorozki aber nur, wenn er als Zeuge geladen ist. Er muss in diesen Tagen Prioritäten setzen: Und die heißt für ihn nicht Stephan B., der mutmaßliche Attentäter von Halle, sondern: Seine jüdische Gemeinde durch die Corona-Zeit begleiten.