Freitag, 29. März 2024

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Buch „Richard Wagners Amerika“
Die Nibelungen am Mississippi

Richard Wagner war ein Visionär, nicht nur was seine Opern-Ideen und Festspielhaus-Träume betrifft. Er spekulierte auch immer wieder auf Unternehmungen, die jedoch im Keim der Idee stecken blieben. Dazu zählte auch der Plan, nach Amerika auszuwandern.

Von Christoph Vratz | 20.06.2022
Auf dem Bild ist eine grüne Büste Richard Wagners zu sehen.
Der Komponist Richard Wagner liebäugelte offenbar mit dem Gedanken, nach Amerika auszuwandern. (IMAGO / Camera4)
Nach mehr als hundert Seiten folgt die entscheidende Frage: „Ist Amerika überhaupt ein legitimes Thema“ der Wagner-Forschung, „das unsere Aufmerksamkeit verdient“? Die Position des Autors Hans Rudolf Vaget ist eindeutig: 
„Die Frage ist mit einem emphatischen Ja zu beantworten. Wie alle nicht ausgeführten Werkpläne hat auch das Projekt Auswanderung einen eigenen, unverzichtbaren Erkenntniswert, der über den […] Zweck des Unterfangens weit hinausreicht.“

Wagner wollte allen Ernstes nach Amerika auswandern? Diese Frage wirkt umso überraschender als Wagner vom bayerischen König Ludwig II. ja mit märchenhafter Gönnergeste finanziell üppig ausgestattet worden ist und damit jeder Gedanke an eine Emigration aus Deutschland überflüssig.

Doch das genaue Gegenteil ist der Fall. Am Ende führte Wagners anhaltende Besessenheit von Amerika zu einer Art von Tauziehen mit seinem königlichen Gönner, das der „Parsifal“-Schöpfer nicht ohne Tücke für sich zu entscheiden verstand. 

Pläne für eine Auswanderung 

Der Musiker Wagner und der König Ludwig – das war ein Abhängigkeits- und Spannungsverhältnis gleichermaßen; gerade wegen dieser Spannungen erwog Wagner um 1880 (also rund drei Jahre vor seinem Tod) ernsthaft, nach Amerika überzusiedeln. Dabei sollte ein amerikanischer Zahnarzt mit Arbeitsplatz in Dresden als Mittler dienen: Dr. Newill Sill Jenkins. An ihn schreibt Wagner:
„Ich halte es nicht für unmöglich, dass ich mich noch entschließe, mit meiner ganzen Familie und meinem letzten Werke für immer nach Amerika auszuwandern. Da ich nicht mehr jung bin, bedürfte ich hierfür ein sehr bedeutendes Entgegenkommen von jenseits des Oceanes. Es müsste sich dort eine Association bilden, welche mir zu meiner Niederlassung und als einmalige Bezahlung aller meiner Bemühungen ein Vermögen von einer Million Dollars zur Verfügung stellte.“
Auch Cosima Wagners Tagebücher belegen Pläne für eine Auswanderung. Wagner hat sie mehrfach erwogen, besonders in Gesprächen mit Otto von Schrön, Direktor der Pathologie an der Universität Neapel.
Die Idee der Auswanderung ist für Wagner nicht vom Himmel gefallen. Bereits mehr als 20 Jahre zuvor, im Herbst 1859, hatte er eine Anfrage erhalten, ob er nicht für fünf Monate nach New York kommen und dort seine Opern sowie Konzerte dirigieren wolle. Wagner wusste damals schon um seine Position und sah sich in der Lage, Forderungen zu stellen:
„Ich fasse die Sache allmählich ernster auf und habe meine Bedingungen eingeschickt.“

Die Verlockungen der neuen Welt 

Auch wenn das Projekt nicht zustande kam: Wagner zeigte sich den Verlockungen der Neuen Welt gegenüber offen. Bereits 1851 – also nochmals acht Jahre vor der Einladung aus New York – schwärmte er: 
„Bald gedenke ich jetzt mit meiner großen Nibelungentrilogie zu beginnen. Aufführen werde ich sie aber erst an den Ufern des Mississippi.“ 
Zugegeben, diese Ideen waren meist idealistisch und unausgegoren. Dennoch gibt es für Hans Rudolf Vaget zwischen Wagners Ambitionen und der zentralen Botschaft aus dem „Ring des Nibelungen“ einen gemeinsamen Nenner: 
„Dieses radikale Bekenntnis zu Zerstörung und zu Neuanfang in einer Weltgegend fern der alten Zivilisation unterstreicht einmal mehr die Nachhaltigkeit seiner revolutionären Grundeinstellung.“ 
Hans Rudolf Vaget, der in Amerika lehrende Literaturwissenschaftler, stellt von Beginn seines Buches an die Frage, ob Wagner wirklich „der ‚deutscheste‘ Künstler“ war, „den es je gab“. So jedenfalls hatte sich Wagner selbst in einem Brief bezeichnet – allerdings ergänzt mit dem Wörtchen „vielleicht“.
Eine solche Behauptung lässt sich nicht verifizieren, stellt aber eine aufschlussreiche Aussage über sich selbst dar. Wir nehmen sie als Indiz, dass in dieser Etappe seiner Laufbahn es sein heimlicher Ehrgeiz war, als der deutscheste Künstler wahrgenommen und anerkannt zu werden. 
Das Interesse Wagners an Amerika fügt sich in einen allgemeinen historischen Kontext. Gerade nach dem Scheitern der Revolution 1848/49 sind viele Deutsche in die Neue Welt ausgewandert. Vaget spricht in diesem Zusammenhang von einem „zeittypischen Charakteristikum“. Beachtet wurde dieser Zusammenhang mit Wagners eigenen Plänen kaum.

Das Phantom der Deutschheit

Der wohl ausschlaggebende Grund dafür, dass der Amerika-Komplex immer noch eine der wenigen unterbelichteten Facetten in Wagners Existenz darstellt, ist nicht weit zu suchen. Es ist das lange Zeit alles erdrückende Argument von Wagners sogenannter „Deutschheit“. Dies war ein Glaubensartikel, den der Schöpfer der „Meistersinger von Nürnberg“ nicht müde wurde, mit Stolz und Pathos selbst zu verkünden. Doch schon vor den „Meistersingern“ galt Wagners Sorge dem Phantom der Deutschheit.
Hans Rudolf Vagets neues Buch liefert auf knapp 190 Seiten eine verblüffend neue Sichtweise auf ein bislang vernachlässigtes Thema. Mag man Wagners Amerika-Fantasien auf den ersten Blick als musikhistorische Fußnote betrachten – gerade in der Verbindung mit Gedanken über sein „Deutschtum“ ergeben sich aber viele interessante Diskussions-Ansätze. Vagets gründlich recherchiertes, in der Argumentation stringentes und überzeugendes Buch ist ganz gewiss mehr als nur die Aufarbeitung einer Marginalie. Es bietet eine Fülle von bislang wenig beachteten und hier stichhaltig belegten Argumenten.