Mittwoch, 08. Mai 2024

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Linkshänder-Geige
Eine natürliche Art zu spielen

Martial Gauthier spielt als Linkshänder die Geige „andersherum“: er hält sie mit der rechten Hand, den Bogen mit der linken. Im Interview erzählt er, warum diese Haltung für Linkshänder von Vorteil ist und warum es trotzdem nur wenige gibt, die so spielen.

Martial Gauthier im Interview mit Susann El Kassar | 22.08.2022
Martial Gauthier hält seine Geige als Linkshänder an die Schulter und lacht dabei in die Kamera im Kreise seiner Musikerkollegen.
Martial Gauthier, Geiger im Ensemble Les Siecles, traf glücklicherweise tolerante Lehrer, die ihm das Geigespielen "andersherum" erlaubten und ihn dabei unterstützten. (Les Siecles / La Rochelle)
Wenn man ein Konzert mit dem Orchester „Les Siècles“ sieht, wird man überrascht: einer der Geiger spielt sein Instrument in ungewohnter Art: Martial Gauthier hält im Gegensatz zu allen anderen den Bogen in der linken Hand und berührt die Saiten mit den Fingern der rechten Hand. Er ist Linkshänder und hat vom ersten Augenblick an die Geige so gespielt.
"Mein Vater hat mir, als ich klein war, eine Geige gegeben. Und ich habe sie ganz natürlich so genommen. Ich hatte das Glück, von Anfang an einen Lehrer zu finden, der bereit war, mich auf diese Weise spielen zu lassen." Bei einer kleinen Geige muss man nur wenige Dinge ändern. Zum Beispiel dreht man den Holzsteg, der die Saiten hält, einfach herum. Später sind überschaubare Umbauten nötig: Man muss die Position des Stegs, des Stimmstocks und der Wirbel verändern sowie die Position des Kinnhalters.

Auf toleranten Professor angewiesen

Bei der Bewerbung ans Conservatoire Supérieur de Paris stieß Gauthier zunächst auf Hindernisse: zwei Professoren weigerten sich, ihn zu unterrichten, weil er das Instrument anders hielt. Doch Gérard Jarry nahm ihn in seine Klasse auf. "Ich war stolz, das Studium mit einem ersten Preis abzuschließen, auch mit Blick auf die Lehrer, die sich geweigert hatten, mich zu unterrichten", erinnert sich Gauthier.
Ein Orchester. Im Vordergrund steht der Dirigent, er dreht sich zum Publikum um.
Der Dirigent Francois-Xavier Roth rief persönlich an, um den Geiger Martial Gauthier (ganz rechts im Bild) in das Ensemble „Les Siècles“ zu holen. (Christian Palm)
Seit 2005 ist er Mitglied der zweiten Geigen im Orchester „Les Siècles“. Dort ist er der einzige, der Geige und Bogen quasi spiegelverkehrt hält. "Am Anfang musste ich mich daran gewöhnen, in einem Orchester zu spielen. Ich saß hinter meinem Notenständer ganz allein, meine Nachbarin hatte ihren eigenen Notenständer." Doch nach einiger Zeit fanden sie einen Weg, gemeinsam an einem Pult zu sitzen und sich beim Spielen nicht zu stören. "Ich bin Stimmführer der zweiten Violinen, ich sitze am ersten Pult direkt am Bühnenrand. Meine Geige ist wirklich auf das Publikum gerichtet und eigentlich habe ich so genau den richtigen Platz für einen Linkshänder."

Vorteile für Linkshänder-Haltung

Tatsächlich, so Gauthier, sei es kein Zufall, dass Rechtshänder die Geige in der linken Hand halten und den Bogen mit der rechten Hand führen. "Das Schwierige an der Geige ist die Technik des Bogens. Es ist immer sehr beeindruckend, wenn ein Geiger sehr schnell spielt und eine sehr schnelle linke Hand hat. Aber eigentlich ist das nicht das Schwierigste. Der Bogen ist viel schwieriger, viel subtiler." Und so sei es für ihn ganz natürlich, als Linkshänder den sensibleren Part mit seiner "Arbeitshand" zu verrichten.

Linkshänder kaum sichtbar

Martial Gauthier vermutet, dass das Bewusstsein für die Belange von Linkshänders noch nicht in den Musikschulen angekommen ist. In der Regel werde einfach die Rechtshänder-Haltung beigebracht.
Bei einem Experiment in einer Schule bot er Kindern eine Geige ohne Kinnhalter an und fragte sie, wie sie die Geige spielen würden. "Das war sehr lustig, weil die ersten drei Kinder, die kamen, waren Linkshänder. Sie nahmen die Geige mit ihrer linken Hand. Sie legten sie auf die linke Seite des Körpers, sie schauten auf den Bogen, und hoben ihn auf und dann tauschten sie! Sie haben die Geige in die rechte Hand genommen und den Bogen mit der Linken und haben losgelegt. Und genau so war es ja bei mir auch, als ich ein Kind war."

Historische Vorbilder?

Der Schüler Arnold Schönbergs, Rudolf Kolisch, war berühmter Quartettgeiger, der infolge eines Unfalls in jungen Jahren wie ein Linkshänder spielte. Er hatte die Geige wie ein Rechtshänder erlernt und musste mit ungefähr zwölf Jahren umlernen. "Er ist der älteste Geiger, den ich kenne, der so gespielt hat und von ihm ausgehend denke ich, dass es in der Vergangenheit solche Geiger gegeben haben muss. Vor allem, weil die Geige im 16. und 17. Jahrhundert ein beliebtes Instrument war. Man spielte Volksmusik damit."
Noch gibt es kein regelmäßiges Angebot von Linkshänder-Instrumenten, aber Martial Gauthier ist hier hoffnungsvoll: "Vielleicht liegt die Zukunft der Linkshänder noch vor uns."