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Vor 250 Jahren geboren
Samuel Taylor Coleridge - Mitbegründer der literarischen Moderne

Samuel Taylor Coleridge war ein neugierig-aufbrausender Kopf, der mit seiner Lyrik und seinen theoretischen Überlegungen die englische Romantik begründete. Er wurde zum großen Anreger der Moderne, dessen Einfluss bis heute weltweit nachwirkt.

Von Christian Linder | 21.10.2022
Zeitgenössisch Gravur  mit dem  Porträt des englischen Dichters der Romantik, Kritikers und Philosophen Samuel Taylor Coleridge
Zeitgenössisches Porträt des englischen Dichters Samuel Taylor Coleridge (picture alliance / World History Archive / -)
Manchmal, an unerwarteten Stellen, zum Beispiel in einem Popsong wie „Youth and age“, begegnet man einem Text von Samuel Taylor Coleridge. Dass der Drive der Musik von dem vorwärtsdrängenden inneren Rhythmus in den Sätzen des Dichters inspiriert wurde, darf man vermuten. Auch Robert Wilson, der große Theatermann, wusste genau, warum er sich bei einer Matinee zu seinem 80. Geburtstag einen im Original vorgetragenen Text von Coleridge wünschte – wegen der feinen Musikalität seiner Sprache: „The Rime of the Ancient Mariner“, „Der alte Matrose“ heißt die 1798 erschienene Ballade, in der Coleridge zum ersten Mal einen ihn selbst zufriedenstellenden Ausdruck für seine Imaginationen fand.

Stifter der englischen Romantik

Geboren am 21. Oktober 1772 in Ottery St. Mary in Devonshire als Sohn eines Geistlichen, phantasierte er früh von Aufbruch und Wegsein und fasste mit zwei Freunden den von Ideen der französischen Revolution inspirierten Plan, nach Amerika auszuwandern und dort eine kommunistische Gemeinschaft der Gleichen zu gründen. Die Realisierung solch einer Urgemeinde scheiterte, weil das Geld für die Reise fehlte, und so vertiefte sich Coleridge in die Traumarbeit seines Schreibens und begründete die englische Romantik.
"Was, wenn du schliefest? Und was, wenn du, in deinem Schlafe, träumtest? Und was, wenn du in deinem Traume, zum Himmel stiegest und dort eine seltsame und wunderschöne Blume pflücktest? Und was, wenn du, nachdem du erwachtest, die Blume in deiner Hand hieltest? Ah, was dann?“

Wenn Coleridge und John Keats spazieren gehen

Das metaphysische Gesamtkonzept des Universums zu erkennen und den geheimen Rhythmus, der für ihn den Lauf aller Dinge regelte, in seinen Sätzen abzubilden – auf nichts Geringeres lief Coleridges Schreibprojekt hinaus. Dieser mitreißende, alles Mögliche mit sich führende Rede-, Wahrnehmungs- und Gedankenstrom hat Coleridges Person auch im privaten Umgang überwältigend erscheinen lassen. Sein Schriftsteller-Kollege John Keats begegnete ihm einmal auf einem Sonntagsspaziergang und wanderte gut zwei Meilen mit ihm:

"In diesen zwei Meilen kam er auf tausend Dinge: Nachtigallen und Dichtung – über die poetische Wahrnehmung – Nachtmahre – von einem Traum mit dem deutlichen Gefühl körperlicher Berührung ... Erste und zweite Stufe des Bewusstseins ... Ich hörte seine Stimme noch, als er sich schon wieder entfernt hatte."

Coleridge in Moby Dick

Heute gilt Coleridge aufgrund seiner Lyrik und seiner theoretischen Überlegungen als einer der Begründer der Moderne und Anreger von zeitgenössischen wie späteren Weltautoren wie Byron, Poe, Baudelaire, Rimbaud, Heine, Conrad oder Melville. In Melvilles Roman "Moby Dick" ist der Einfluss durch Coleridges Ballade vom alten Matrosen natürlich sofort offensichtlich. Dieser Matrose ist auf großer, etwas zielloser Fahrt und gerät in die Antarktis. Als das Schiff im Eis stecken bleibt, in höchster Lebensgefahr, zeigt ein Albatros-Vogel den rettenden Ausweg. Ausgerechnet diesen Albatros tötet der alte Matrose kurz darauf mit seiner Armbrust – und muss fortan für diese Schuld und Sünde büßen, um als alter Mann – hier zu vernehmen in einer Hörspielfassung von „Die Albatros-Schuld“ aus dem Jahr 1996 – eine düstere Bilanz zu ziehen:
"Über mich hin ziehen die Wolken, die formlos grauen Töchter der Luft, die aus dem Meer im Nebel Eimer voller Wasser schöpfen und es mühsam schleppen und schleppen und es wieder verschütten ins Meer. Ein trübes, langweiliges Geschäft und nutzlos wie mein eigenes Leben"
Coleridges Schlusswort für sein Leben lautete: „Nach dem, was ich wirklich geleistet habe, sollen meine Mitmenschen mich beurteilen; was ich hätte leisten können, kann ich nur mit meinem Gewissen abmachen.“