Freitag, 19. April 2024

Archiv

Vor 80 Jahren erschienen
Stefan Zweigs "Schachnovelle": erzählt mit leichter - und lebensmüder Hand

Von den Nationalsozialisten in die Emigration getrieben, nahm sich Stefan Zweig, der damals berühmteste deutschsprachige Schriftsteller, 1942 das Leben. Im gleichen Jahr erschien posthum sein für viele bester und heute millionenfach gedruckter Text.

Von Christian Linder | 07.12.2022
Das undatierte Handout zeigt Schriftsteller Stefan Zweig (l) und seine zweite Frau Lotte auf einem Bild von etwa 1940.
Stefan Zweig mit seiner zweiten Frau (Lotte) um 1940 (picture alliance / dpa / Casa Zweig)
An entlegener Stelle und fast unter Ausschluss der Öffentlichkeit, in einem kleinen Verlag in Buenos Aires und als "Liebhaberdruck" in einer Auflage von knapp 300 Exemplaren, erschien am 7. Dezember 1942 posthum die deutsche Erstausgabe von Stefan Zweigs "Schachnovelle". Es war sein letzter Text – und ist heute sein berühmtester. Die verfilmte und als Hörspiel eingerichtete Geschichte beginnt in New York, von wo der Erzähler sich per Schiff auf den Weg nach Südamerika macht. Mit an Bord: der Schach-Weltmeister Mirko Czentovic, gegen den ein Millionär unbedingt spielen will und dafür viel Geld zahlt. Czentovic macht kurzen Prozess und lässt sich anschließend noch auf eine Simultan-Partie gegen mehrere Reisende ein. Die wittern plötzlich eine Chance, eine Hand ist schon an der Figur, da greift im Hörspiel ein unbekannter Beobachter vom Spielfeld-Rand ein.
"Tun Sie es nicht: Wenn Sie jetzt eine Dame machen, verlieren Sie und sind nach neun Zügen erledigt. Es ist beinahe dieselbe Konstellation, wie sie Aljechin gegen Bogoljubow 1922 im Großturnier von Pystyan initiiert hat."

Spiel im Österreich der Zwischenkriegszeit

Die Amateur-Spieler verstehen kein Wort des Unbekannten, folgen aber seinen weiteren Ratschlägen, so dass der Weltmeister ein Remis erklären muss - und den als seinen wahren Gegner erkannten Fremden fragt:
"Wünscht der Herr noch eine Partie?"
Der geheimnisvolle Herr, in der Novelle abgekürzt nur "Dr. B." genannt, will auf keinen Fall allein gegen den Weltmeister spielen, entschuldigt sich und entfernt sich schnell. Der Erzähler geht ihm nach und erfährt seine Geschichte. Sie spielt in Österreich in einer Zeit, die Zweig als 1881 in Wien geborener Sohn einer jüdischen Industriellen-Familie und 1934 von den Nationalsozialisten ins Exil getriebener, weltberühmter Schriftsteller aus eigener Erfahrung kannte. Nach dem sogenannten Anschluss des Landes an Hitler-Deutschland wird Dr. B., ein Wiener Anwalt und Verwalter kirchlicher Güter, verhaftet und in ein berüchtigtes Hotel-Gefängnis gesperrt – um herauszubekommen, wo er das Vermögen untergebracht hat. Das Zimmer mit vergittertem Fenster: "Eine zeitlose, raumlose, totale Leere: das vollkommenste Nichts."
Die psychische Folter durch monatelange Isolationshaft mit ständigen Verhören übersteht Dr. B. nur, weil er in einem Warteraum aus einem Mantel ein Buch entwenden und in seiner Zelle unter der Matratze verstecken kann. Ein Buch ohne Text, wie er im Hörspiel berichtet: nur mit Abbildungen von 150 berühmten Schach-Partien, die er bald auswendig kennt.
"Da erfinde ich etwas, was völlig absurd, einfach widersinnig ist: Ich denke mir neue Partien aus, und spiele gegen mich selbst. Es ist die ausgeklügelste und konstruierteste Bewusstseins-Spaltung, die ich da an mir selbst in Szene setze."
Diese Ich-Spaltung führt zu einem körperlichen Zusammenbruch – und gleichzeitig zu einer Revolte: Dr. B. greift einen Wärter an, kann durch die offen gebliebene Zellen-Tür auf den Gang laufen, schlägt ein unvergittertes Fenster ein und verletzt sich schwer. Als er wie aus einem dunklen Traum aufwacht, findet er sich im Zimmer eines Krankenhauses wieder. Ein wohlmeinender Arzt stellt ihm ein Attest aus, Dr. B. kann Österreich verlassen, kommt nach New York und schifft sich nach Buenos Aires ein. Ein psychologischer Thriller, den Stefan Zweig inszeniert hat und der seinen Höhepunkt findet in dem Schachspiel gegen den Weltmeister, zu dem der Erzähler Dr. B. doch noch überreden kann. Er gewinnt das Spiel auch. Aber in einer zweiten Partie meldet sich seine Gespaltenheit wieder, er verliert den Überblick und sein ganzer Körper zittert.
"Was ist los? Sagen Sie, bin ich am Ende wieder ...?"

"Nein, nein, nein, nein, aber Sie müssen sofort die Partie abbrechen, hören Sie, es ist höchste, allerhöchste Zeit."

"Ja."
Trotz der leichten Hand, mit der die Novelle geschrieben wurde – im letzten Exil-Land Brasilien war Stefan Zweig ein völlig erschöpfter und resignierter Mann, der seine Arbeit für beendet hielt. Zwei Tage bevor er sich das Leben nahm, brachte er drei prall gefüllte Brief-Couverts auf den Postweg. Ein Empfänger war Alfredo Cahn, ein in Buenos Aires lebender Übersetzer, der nach Zweigs Tod das ihm zugeschickte Typoskript der "Schachnovelle" dem kleinen argentinischen Verlag Pigmalion übergab.