Montag, 13. Mai 2024

Archiv


Schlängelpfade der Menschwerdung

Spätestens mit den berühmten Funden der Australopithecinen um Lucy & Co. 1974 in Äthiopien wurde Paläoanthropologen klar, dass die Idee einer stringenten Menschwerdung als gerader Stammbaum vom Tisch ist. Seit einigen Jahren werden die Theorien zur Menschwerdung noch komplizierter, weil Ergebnisse aus der Genetik einfließen.

Von Michael Stang | 21.01.2013
    Kaum ein Wissenschaftszweig ist so voller Widersprüche wie die Paläoanthropologie. Grund ist in erster Linie der chronische Mangel an aussagekräftigen Fossilien. Die bisherigen Knochenfunde ermöglichen noch immer, nur ein schemenhaftes Bild der Menschheitsentwicklung zu vermitteln. Die Zeiten, in denen Forscher sich die Menschwerdung als direkte Entwicklung vorgestellt haben, seien aber längst vorbei, sagt Paläoanthropologe Chris Stringer vom Naturhistorischen Museum in London.

    "Tatsächlich ist die Sache weitaus komplexer. Die Geschichte der Menschwerdung ist ein reiner Schlängelpfad. Es gab so viele Zufälle, biologische und kulturelle Aspekte, die allesamt die menschliche Evolution geprägt und letztlich zu einem Ergebnis geführt haben, das man nicht einfach hätte vorhersehen können."

    Mit der Anzahl der neu entdeckten Fossilien stieg gleichzeitig auch die Zahl der Hypothesen, wie es zur Entstehung des Homo sapiens kam. Als mithilfe der Genetik vor knapp 20 Jahren erstmals das Erbgut von Frühmenschen anhand gut erhaltener Knochen untersucht werden konnte, erhofften sich viele Forscher Klarheit. Mittlerweile ist nicht nur das Genom der Neandertaler sequenziert, sondern seit kurzem ist auch das Erbgut der Denisova-Menschen entschlüsselt. Diese lebten vor rund 50.000 Jahren in Sibirien und gelten einigen Forschen zufolge ebenfalls als eigene Menschenart, auch wenn es von dieser Spezies kaum aussagekräftige Fossilien gibt. Beim Vergleich der Genome der ausgestorbenen Menschen mit dem heute lebender machten die Forscher jedoch eine erstaunliche Entdeckung, so Chris Stringer. Beide Menschenformen haben sich mit unseren Verfahren vermischt, und zwar nicht nur einmal, sondern mehrfach, denn diese Spuren sind im Erbgut heute lebender Vertreter des Homo sapiens nachweisbar.
    "Ich denke, dass man äußerlich keine Effekte ausmachen kann, die von der Vermischung herrühren. Es gibt aber erste Überlegungen, dass einige heutige Menschen außerhalb Afrikas den Neandertalern und Denisova-Menschen einen Teil ihres Immunsystems zu verdanken haben."

    Diese Vermischungen könnten auch der Grund sein, warum etwa manche Menschen in Südostasien malariaresistent sind. Damit stellt sich für die Forscher ein weiteres Problem: Wenn sich alleine diese drei Menschenformen auf ihren Schlängelpfaden im Laufe der Evolution mehrfach vermischt haben, ist es dann noch richtig, von verschiedenen Arten zu sprechen? Schließlich geht das biologische Artkonzept davon aus, dass sich Arten eben nicht kreuzen können. Chris Stringer mahnt zur Vorsicht und Offenheit.

    "Ich denke, hinsichtlich des Artkonzepts müssen wir uns vor rigiden Kategorisierungen hüten. Wir müssen flexibel und pragmatisch sein, wir brauchen also realistische Konzepte. Natürlich sind die Neandertaler eine eigene Art, das erkennt man an jedem ihrer Knochen. Das bedeutet aber nicht, dass sie sich nicht mit anderen Menschen kreuzen können. Von daher müssen wir flexibel und aufgeschlossen gegenüber neuen Erkenntnissen sein."

    Denn dieses Fach habe allein in den vergangenen Jahren derart viele Wendungen erfahren, dass eine Reihe von Hypothesen und Theorien plötzlich revidiert werden musste. Allein dies zeige, so Chris Stringer, wie sprunghaft und unvorhersehbar manche Entwicklungen in der Evolution sind. Aber genau das sei ja der Kern der Evolutionsbiologie.