Freitag, 26. April 2024

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Sehnsucht nach Bosnien (1/5)
Ein Sommer voller Sorgen

Fünf Jahre nach dem Ende des Kriegs in Bosnien hat Senija Lübke ihre Heimat verlassen. Sie sah dort keine Zukunft mehr. Die Sehnsucht aber ist geblieben, all die Jahre. Deswegen kehrt die 49-Jährige jeden Sommer zurück, um ihre Familie zu besuchen. Doch dieses Jahr ist die Wiedersehensfreude getrübt.

Von Elin Hinrichsen | 03.09.2018
    Senija Lübke und ihre Mutter vor dem Haus der Mutter in Banovići
    Senija Lübke und ihre Mutter vor dem Haus der Mutter in Banovići (Deutschlandradio/ Elin Hinrichsen)
    Planschen im See. Melissa und Larissa aalen sich im glasklaren Wasser. Endlich ein Hauch von Feriengefühl. Ihr ganzes Leben lang haben die beiden Schwestern die Sommer in Bosnien verbracht; mit ihrer Mutter. Und das hieß eigentlich immer nonstop spielen, toben, essen. Unbeschwerte Wochen. Aber in diesem Jahr ist alles anders.
    "Können wir jetzt gehen?"
    Senija Lübke, 49, die Mutter der Mädchen, steht am Rande des Sees und schaut nervös auf die Uhr. Auch ihr fehlt in diesem Jahr das Feriengefühl. Ihr großer Bruder ist schwerkrank und auch ihre Mutter braucht zunehmend Pflege. Beide leben hier in Bosnien, Senija seit langer Zeit in Deutschland.
    Dieser Beitrag gehört zu der fünfteiligen Reportagereihe "Sehnsucht nach Banovići - Ein Leben zwischen Deutschland und Bosnien" in der Sendung "Gesichter Europas".
    Das Auto voll mit Geschenken, Spielzeug, Medikamenten
    "Nach dem Krieg habe ich gedacht, ich bleibe nur kurz und dann ich bin wieder bei der Familie."
    Aber sie fand Arbeit, heiratete und blieb in Deutschland. Ein Teil von ihr aber sehnt sich jeden Tag nach Hause, hierhin, nach Banovići.
    "Irgendetwas habe ich verloren. Zusammen quatschen, zusammen genießen, zusammen essen. Das fehlt mir. Einmal im Jahr muss ich das wieder erleben."
    Sie steuert das Auto wie in Trance. Am Anfang des Sommers ist sie damit von Iserlohn nach Banovići gefahren, vollgepackt wie immer mit Geschenken für die Familie, mit Spielzeug für die Nichten und Neffen und mit Medikamenten für ihren Bruder.
    Nach dem Krieg fehlte es an allem
    Jetzt rast sie an grünen Wiesen vorbei, an Heuhaufen, die mehrere Meter hoch kunstvoll aufgeschichtet sind, an Obstbäumen, die sich unter der Last reifer Früchte biegen. Senija hat keinen Blick dafür. Dieses hier war der erste Ausflug ins Grüne, aber sie hat ein schlechtes Gewissen. Wie kann es ihr gut gehen, wenn die Mutter sie doch braucht? Sie fühlt sich verantwortlich, seit 1995, seit Ende des Bosnienkrieges.
    "Nach dem Krieg fehlt alles. Es ist alles zu, es gibt nichts zu essen, gar nichts. Ende. Alles, was Du gepflanzt hast, im Wald gesammelt hast, das kannst Du essen, sonst hast du nichts. Auf der kroatischen Seite war die Grenze zu, auf der serbischen auch und wir in der Mitte. In den fünf Jahren darauf ist alles, was die Leute gehabt haben, jede Reserve ... Fünf Jahre sind zu viel, alles ist weg. Deswegen wollten alle irgendwie raus, egal, in welches Land."
    Auch Senija verlässt das Land damals, fünf Jahre nach dem Krieg, mit zwei weiteren aus dem Dorf. 25 Tage und Nächte lang quer durch den Wald, von Banovići in der Bosnischen Föderation über die grüne Grenze der Republik Srpska und dann ohne Visum weiter bis nach Kroatien. Eine gefährliche Route: Der Wald ist bis heute vermint, es gab immer wieder Schießereien in den Wäldern, obwohl der Krieg zu diesem Zeitpunkt schon fünf Jahre vorbei ist.
    Angewiesen auf die Hilfe aus Deutschland
    Sie sind am Haus der Mutter angekommen.
    "Ich war 20, meinen Traum, zu Schule zu gehen, zu studieren, konnte ich nicht mehr realisieren. Im Krieg ist alles zerplatzt. Ich war irgendwie enttäuscht, deswegen habe ich gedacht: Alle hier haben schon Kinder zu Hause, ich gehe jetzt in die Welt, ich schicke euch Geld, damit wir alle überleben. Das habe ich gemacht. Die ersten zehn Jahre habe ich jeden Cent nach Hause geschickt, jeden Cent!"
    Mittagessen. Senija hat vorgekocht. Sie schickt bis heute jeden Cent, der übrig ist, nach Hause. Die Familie ist auch mehr als zwei Jahrzehnte nach Kriegsende noch auf sie angewiesen.
    Alles ist gut geworden - doch die Oma ist jetzt alt und pflegebedürftig
    Und sie optimiert bis heute das Haus der Mutter. Die Küche war vor ein paar Jahren dran: eine holzfarbene Küchenzeile, ein neuer Kühlschrank, ein neuer Backofen, selbst eine Mikrowelle - um alles hat sich Senija gekümmert. In diesem Jahr hat sie das Badezimmer umgekrempelt: alles eigenhändig neu gefliest und barrierefrei gestaltet, mit Griffen an den Wänden, damit die Mutter vielleicht noch eine Weile alleine zurechtkommen kann. Senija nennt ihre Mutter "Oma". Oma ist Mitte 70, beleibt, mit kräftigen Händen. Ihr Leben hat sie auf dem Feld verbracht und ihre Kinder und Enkel aufgezogen.
    "Sie hatte Angst um ihre Kinder! Die Männer mussten zum Militär, andere Kinder, die Enkelkinder, die Schwägerin, alle kamen hierher. Oma ist wie ein Bienchen, hat alles besorgt, sodass alle was zu essen kriegen. Und sie hatte auch Angst um mich, als ich nach Deutschland gegangen bin, alleine in die Welt. Das ist auch ein Punkt, an dem sie richtig gelitten hat, was alles passiert auf dem langen Weg…"
    Alles ist gut geworden. Nur ist die Oma jetzt alt. Und macht sich Sorgen um ihren kranken Sohn. Einen Schlaganfall hatte sie deswegen schon, und Senija hat sie in diesen Ferien Tag für Tag ins Krankenhaus gefahren, zur Infusion. Sowas zahlt hier nicht die Krankenkasse, auch nicht die Lungen-OP ihres Bruders.
    Senija würde gerne öfter hier sein, mehr tun. Aber Mann und Kinder in Iserlohn brauchen sie auch. Außerdem verdient Senija in einer Apotheke gutes Geld dazu, für die Familie hier in Bosnien.
    Senija steht auf und macht sich an den Abwasch.