Montag, 29. April 2024

Migration
Wer darf kommen, wer soll bleiben, wer muss gehen?

In der Migrationspolitik ist jede Menge Bewegung. Bund und Länder ziehen nun an einem Strang, um die irreguläre Migration zu begrenzen. Die Union fordert einen härteren Kurs, Sozialverbände sind entsetzt. Ein Überblick über die Debatte.

11.11.2023
    Eine Flüchtlingsfamilie geht durch eine zu einer Massenunterkunft umfunktionierten Messehalle in Frankfurt. In der Halle sind seit einigen Wochen mehrere hundert Migranten und Asylsuchende aus unterschiedlichen Herkunftsländern untergebracht.
    Geflüchtete in Frankfurter Massenunterkunft: Sozialverbände kritisieren den Kurs der Bundesregierung scharf. (picture alliance / dpa / Boris Roessler)
    Migration und Asyl sind in Deutschland wie auch in anderen europäischen Ländern Dauerbrenner in der politischen Debatte. Denn bisher ist es nicht gelungen, die Migration nach Europa zu steuern. Bundeskanzler Olaf Scholz hat einen härteren Kurs angekündigt, die CDU/CSU will es noch restriktiver. Bund und Länder haben sich auf Maßnahmen zur Begrenzung der irregulären Migration geeinigt - doch die Debatte ist noch lange nicht zu Ende.

    Was haben Bund und Länder beschlossen, um die irreguläre Migration zu begrenzen?

    Auf einem Gipfel am 7.11.23 im Kanzleramt haben sich Bund und Länder auf neue Wege in der Migrationspolitik verständigt – im Kern geht es um eine Verschärfung der Asylpolitik und ein neues Finanzierungsmodell. Bundeskanzler Olaf Scholz sagte, das gemeinsame Ziel sei, die irreguläre Migration zurückzudrängen. Hessens Ministerpräsident Boris Rhein (CDU) sprach als Vorsitzender der Ministerpräsidentenkonferenz (MPK) von einem wichtigen Schritt in der Migrationspolitik. Es sei aber nur der erste.
    Laut den Beschlüssen wird der Bund ab 2024 pro Schutzsuchendem künftig eine Pauschale von 7.500 Euro im Jahr zahlen. Zudem sollen die Sozialleistungen für Flüchtlinge reduziert werden. Asylbewerber im laufenden Verfahren, die bislang nach 18 Monaten Anspruch auf Bürgergeld haben, sollen künftig doppelt so lange nur die niedrigeren Asylbewerberleistungen erhalten. Bund und Länder einigten sich darüber hinaus auf die Einführung einer Bezahlkarte für geflüchtete Menschen, die Bargeld-Auszahlungen einschränken soll.
    Außerdem sagte der Bund zu, die Möglichkeit von Asylverfahren in Transit- oder Drittstaaten zu prüfen. Teil des Maßnahmenpakets sind auch Verfahrensbeschleunigungen bei Asylanträgen, schnellere Abschiebungen und der Abschluss von Migrationsabkommen mit Herkunftsländern. Der Schutz der EU-Außengrenzen soll durch EU-Beschlüsse verstärkt und zugleich eine solidarische Verteilung von Geflüchteten in der Union erreicht werden. Bis dahin sollen die Binnengrenzen Deutschlands besser geschützt werden.

    Wie bewerten Union und Sozialverbände die Migrationspolitik der Bundesregierung?

    Für die Union ist das Maßnahmenpaket von Bund und Ländern zur Reduzierung der Flüchtlingszahlen unzureichend. Gespräche mit der Bundesregierung über die Migrationspolitik legte CDU-Chef Friedrich Merz deswegen auf Eis. Ein „Deutschlandpakt“ zum Thema Migration sei aus seiner Sicht erledigt, sagte Merz. Bundeskanzler Scholz und Merz hatten sich zuvor zwei Mal getroffen, um sich auszutauschen. In den Bund-Länder-Beschlüssen fehlen der Union unter anderem eine Ausweitung der Liste sicherer Herkunftsstaaten, die Begrenzung des Familiennachzugs sowie ein Verbot von Mehrfachanträgen auf Asyl.
    Sozialverbände betrachten den Kurs von Bund und Ländern aus der genau entgegengesetzten Richtung. Der Paritätische Wohlfahrtsverband bezeichnete die Kürzungen der Leistungen für Asylbewerber und die Pläne für schnellere Abschiebungen als inhuman. Pro Asyl zeigte sich über die geplanten Maßnahmen "entsetzt". Wer Integration erwarte, tue sich keinen Gefallen damit, Geflüchtete erst einmal vor den Kopf zu stoßen und ihnen zu signalisieren, dass sie nicht erwünscht seien. Die Diakonie betonte, es sei ein Trugschluss, das niedrigere Leistungen oder Bezahlkarten Menschen davon abhielten, Schutz zu suchen. In der Debatte komme zu kurz, dass Deutschland Zuwanderung brauche.

    Was hat die Bundesregierung bereits unternommen, um die irreguläre Migration zu vermindern?

    Das Bundeskabinett hat ein Gesetzespaket verabschiedet, das mehr und schnellere Rückführungen ermöglichen soll. Ob das allerdings die Asylbewerber-Zahlen substanziell senkt, ist fraglich. Ende September waren laut Bundesinnenministerium 255.330 Menschen ausreisepflichtig. Allerdings hatten 205.196 davon eine Duldung. Damit war die Abschiebung in vier von fünf Fällen vorerst ausgesetzt.
    Gründe dafür können die Sicherheitslage im Herkunftsland, Kinder mit Aufenthaltserlaubnis, eine Krankheit oder das Fehlen von Pass- und Reisedokumenten sein. Im ersten Halbjahr 2023 wurden laut Bundesregierung nur 7861 Menschen abgeschoben. 2022 gab es insgesamt 12.945 Abschiebungen.
    Die Rückführung von abgelehnten Asylbewerbern ist ein mühsames Geschäft – auch weil viele Länder ihre Bürger nicht umstandslos zurücknehmen. Deswegen will die Bundesregierung mehr Rückführungsabkommen mit Herkunftsländern abschließen. Im Gegenzug gibt es das Angebot, legale Wege für eine Arbeitsaufnahme in Deutschland auszubauen.
    Schließlich gibt es auf Anordnung des Bundesinnenministeriums inzwischen stationäre Kontrollen an den Grenzen zu Polen, Tschechien und der Schweiz, bei denen Schleuser aufgegriffen und illegale Grenzübertritte verhindert werden sollen. Aus Sicht von Bundespolizeipräsident Dieter Romann wirken die ausgeweiteten Kontrollen gegen irreguläre Migration. In drei Wochen habe die Bundespolizei 9622 unerlaubte Einreisen festgestellt, in 3900 Fällen seien Betroffene zurückgewiesen oder zurückgeschoben worden. 236 Schleuser seien in dem Zeitraum vorläufig festgenommen worden.

    Welche weiteren Vorschläge gibt es, um die Einwanderung zu steuern?

    Um Zuwanderung zu begrenzen, werden in der Migrationsdebatte die verschiedensten Forderungen erhoben. Eine davon ist die faktische Abschaffung des individuellen Rechts auf Asyl. Hierfür tritt vor allem die AfD schon länger ein. Doch auch in der Union gibt es inzwischen Stimmen, die das Recht auf Asyl zur Disposition stellen, so beispielsweise Brandenburgs Innenminister Michael Stübgen (CDU).
    Ebenfalls im Gespräch sind Obergrenzen. CDU-Präsidiumsmitglied Jens Spahn favorisiert eine Kontingentlösung, wonach die Europäische Union 300.000 bis 500.000 Flüchtlinge im Jahr aufnehmen soll. Unbeantwortet bleibt dabei aber die Frage, was passiert, wenn mehr Menschen um Schutz bitten als das Kontingent vorsieht.
    Die Idee für eine Obergrenze kursiert nicht nur für den gesamteuropäischen Raum, sondern auch für Deutschland. So will CSU-Chef Markus Söder höchstens 200.000 Asylbewerber pro Jahr in der Bundesrepublik aufnehmen. Weitere Vorschläge sind Transitzonen und Rückkehrzentren an den Landesgrenzen und die Ausweitung der Liste sicherer Herkunftsstaaten.

    Wie viele Flüchtlinge kommen jährlich nach Deutschland?

    Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hat 2023 bis einschließlich September 233.744 Erstanträge auf Asyl registriert - das ist eine Zunahme um rund 73 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum. Hinzu kommen momentan rund 1,1 Millionen ukrainische Kriegsflüchtlinge, die in Deutschland leben und keinen Asylantrag stellen müssen.
    Anzahl der Asylanträge (insgesamt) in Deutschland von 1995 bis 2023
    Anzahl der Asylanträge (insgesamt) in Deutschland von 1995 bis 2023 (Statista)
    In der Zu- oder Abnahme von Asylanträgen spiegelt sich in der Regel die weltpolitische Lage. Vor allem wegen des Bürgerkriegs in Syrien kamen 2015 und 2016 besonders viele Flüchtende nach Deutschland. 2015 wurden 476.649, ein Jahr später sogar 745.545 Erstanträge auf Asyl gestellt. In anderen Jahren wiederum kamen sehr viel weniger Schutzsuchende – zwischen 2006 und 2009 pendelte ihre Zahl um die 30.000.

    Gibt es Probleme bei der Unterbringung der Geflüchteten?

    Laut Städte- und Gemeindebund stoßen die Kommunen bei der Aufnahme von Geflüchteten an ihre Leistungsgrenze. Der Grund: akuter Wohnraummangel, fehlende Kitaplätze und ein ausgelastetes Bildungssystem. Auch die Integrationskurse seien überlastet: „Gelingende Integration ist unter solchen Rahmenbedingungen nicht möglich.“ Für den brandenburgischen Ministerpräsidenten Dietmar Woidke (SPD) sind die Kommunen „nicht nur an einer Belastungsgrenze, sie sind schon darüber hinaus“.
    Doch die einzelnen Kommunen selbst scheinen die Situation einer Untersuchung zufolge zumindest zum Teil entspannter zu sehen. Eine Umfrage des Mediendienstes Integration in Zusammenarbeit mit der Forschungsgruppe Migrationspolitik der Universität Hildesheim ist nicht repräsentativ, kann aber zumindest Anhaltspunkte für die Stimmung vor Ort liefern. Rund 600 Kommunen wurden befragt, und knapp 60 Prozent beschrieben die Lage als „herausfordernd, aber (noch) machbar“. 40 Prozent sprechen von „Überlastung“ oder einem „Notfallmodus“.
    Caritas-Präsidentin Eva Maria Welskop-Deffaa beschreibt die Situation ähnlich. Viele Kommunen klagten zu Recht, betont sie. Doch insgesamt stelle sich die Lage nicht so dramatisch dar, wie sie oft beschrieben werde. Und Annette Kurschus, Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), sagte der FAZ, Deutschland habe die Grenze bei der Aufnahme von Geflüchteten „noch lange nicht erreicht“.

    Was wird auf europäischer Ebene getan, um die irreguläre Migration zu begrenzen?

    Die Asyldebatte in Deutschland findet vor dem Hintergrund von grundlegenden Änderungen in der europäischen Migrationspolitik statt. Die EU-Staaten hatten sich im Juni 2023 auf eine deutliche Verschärfung des Asylverfahrens geeinigt. Vorgesehen ist unter anderem ein restriktiverer Umgang mit Migranten ohne Bleibeperspektive.
    Ein Kern der Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) sind Asylverfahren bereits an den EU-Außengrenzen. Dazu sollen Asylzentren in Grenznähe entstehen, in denen die Identität von Schutzsuchenden überprüft wird. Damit soll erreicht werden, dass Migranten mit geringen Aufnahmechancen erst gar nicht in die EU gelangen. Gleichzeitig sollen die Kriterien für sogenannte sichere Drittstaaten geändert und ausgeweitet werden. Damit gibt es dann mehr Länder, die als sicher eingestuft werden.

    ahe