Sonntag, 28. April 2024

Tote Geflüchtete im Mittelmeer
"Wir müssen aufhören, so zu tun, als wäre das ein Unglück"

Bei der Flucht übers Mittelmeer und seinen tödlichen Folgen ist häufig die Rede vom blinden Fleck Europas. Dabei berichten Medien regelmäßig über das Thema. Auf der Strecke bleiben hierbei allerdings häufig die Zusammenhänge.

Text: Michael Borgers | Viola Funk im Gespräch mit Benedikt Schulz | 10.07.2023
Reifenschläuche, die als improvisierte Rettungsringe verwendet wurden, liegen in einem ansonsten leeren Boot, das Migranten von der Nordküste Afrikas benutzt haben, um zur italienischen Insel Lampedusa zu gelangen, und das nun im Mittelmeer treibt.
Von Tunesien aus setzen immer mehr afrikanische Flüchtlinge nach Italien über. Viele Migranten zahlen für die Reise nicht nur finanziell einen hohen Preis. (picture alliance / dpa / Oliver Weiken)
Mehr als 600 Tote, nur gut 100 Menschen, die überlebt haben. Das Kentern eines Schiffskutters in der Nacht vom 13. auf den 14. Juni gilt als eines der schwersten Unglücke im Mittelmeer. Seit Bekanntwerden der Katastrophe haben zahlreiche Medien versucht, die Nacht und ihre Ereignisse zu rekonstruieren.
Welche Rolle spielten etwa griechische Beamte dabei? Dieser Frage gingen etwa die Tageszeitung „Welt“ oder zuletzt ein Verbund aus NDR, „Guardian“ sowie Journalisten der griechischen NGO Solomon und der Agentur Forensis nach.

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Die Recherchen legen einige Ungereimtheiten offen. Im Kern geht es um einen Abschleppversuch der griechischen Küstenwache und den Vorwurf, nach dem Kentern nicht alles getan zu haben, um die Ertrinkenden schnellstmöglich zu retten.
Inzwischen hat die EU-Grenzschutzagentur Frontex die Behörden in Athen aufgefordert, Stellung zu nehmen. Im Raum steht der Vorwurf sogenannter Pushbacks, also das Zurückdrängen von Flüchtlingsbooten. Eine illegale Praxis, die nicht neu ist – und die in der Vergangenheit auch schon Frontex selbst vorgeworfen wurde.

"taz"-Journalist Jakob: Gewöhnungseffekt, aber viel Berichterstattung

Die EU-Flüchtlingspolitik sorgt seit Jahren für Schlagzeilen. In der "Tageszeitung" (taz) kümmert sich unter anderem Christian Jakob schon lange um das Thema.
Dass insgesamt zu wenig über die Mittelmeerflucht und ihre Folgen berichtet wird, sieht er nicht. Diese Kritik war wieder laut geworden, als die Suche nach dem U-Boot "Titan" einige Tage lang im medialen Fokus gestanden hatte - und das nur kurz nach dem Kentern des Schiffskutters im Mittelmeer.
Über die Jahre sei zwar inzwischen eine Art Gewöhnungseffekt eingetreten, stellt Jakob gegenüber dem Deutschlandfunk fest. Aber gleichzeitig gebe es aber auch ein konstantes Level an Berichterstattung. Der "taz"-Journalist spricht von einem "ganzen Ökosystem von NGOs und Recherche-Initiativen", die inzwischen mit großen Medien zusammenarbeiten würden.

"Man kann nicht sagen, das interessiert keinen mehr"

Die Bereitschaft, das Thema dauerhaft zu begleiten, sei in den vergangenen Jahren gewachsen und immer noch hoch. "Ob das hoch genug ist im Verhältnis zu dem moralischen Unrecht, das muss jeder selbst beantworten", so Jakob. "Aber ich finde nicht, dass man sagen kann, das interessiert keinen mehr." Dieser Vorwurf treffe bei anderen Themen viel mehr zu – wie beispielsweise bei der Bekämpfung des weltweiten Hungers oder dem Umgang mit eigentlich behandelbaren Krankheiten.
Und warum ändert sich trotz der andauernden Berichterstattung so wenig an den Zuständen? Warum sterben seit Jahren und weiterhin Jahr für Jahr Menschen auf dem Mittelmeer? Jakob sieht eine wesentliche Ursache hierfür in einer politischen Dynamik. Die EU habe der Ur-Agenda von Rechtspopulisten recht gegeben, die illegale Migration zum Ursprung aller möglichen Probleme erklären würden. Doch genau darüber berichtet werde sehr wohl, betont der Journalist.

"Memento Moria"-Macherin Funk: Zusammenhänge erklären

Medien müssten noch mehr die politischen Zusammenhänge erklären, findet die Journalistin Viola Funk. Mit den "immer gleichen Bildern zur gleichen Geschichte" werde Ohnmacht erzeugt und der Glaube, "das ist ein Unglück", sagte Funk im Deutschlandfunk. "Aber ich glaube, dass wir aufhören müssen, so zu tun, als wäre das einfach ein Unglück, das passiert."
Denn am Ende gehe es um politische Entscheidungen, so wie etwa die gegen eine Seenotrettung. Wenn jetzt ein Boot mit Hunderten Menschen kentere, hänge das auch mit Entscheidungen der vergangenen Jahre zusammen.
Viola Funk war an dem Podcast "Memento Moria" beteiligt, der vor einem Jahr auf Spotify erschienen ist. In acht Teilen setzt sich diese Dokumentation kritisch mit der europäischen Migrationspolitik auseinander, gut zwei Jahre nach dem Brand des Aufnahmelagers Moria auf der griechischen Insel Lesbos. Der Podcast war für den Grimme-Online-Award 2023 nominiert.

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"Das ist natürlich alles sehr komplex", so Funk. Aber Medien könnten auch einiges anders und besser machen, ist die Journalistin überzeugt.
So werde beispielsweise noch immer sehr anonym über Geflüchtete berichtet. Und zu selten werde erklärt, warum jemand auf Flucht ist. "Was macht er oder sie eigentlich? Warum macht sie sich überhaupt auf diesen Weg?" Auch darum müsse es gehen.