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Syrische Flüchtlinge in der Türkei
Schutz ohne sichere Zukunft

Etwa vier Millionen Flüchtlinge aus Syrien hat die Türkei aufgenommen. Sie erhalten Schutz vor Abschiebung, Zugang zum Gesundheitswesen, zu Schulen, Universitäten und sozialen Diensten. Doch Aussicht auf legale Arbeit und Staatsbürgerschaft kann und will ihnen der türkische Staat nicht zugestehen.

Von Susanne Güsten |
Eine Nähwerkstatt in der türkischen Stadt Gaziantep, die von Syrern gegründet wurde, die auf der Suche nach Sicherheit aus ihrem vom Krieg zerrütteten Land flohen. Einige junge syrische Kinder arbeiten auch mit ihren Vätern in der kleinen Fabrik, die hochwertige Kleidungsstücke und Coronavirus-Schutzkittel für den Export in den Irak und andere arabische Länder herstellt. Syrer haben sehr unter dem Konflikt, der Vertreibung und dem Kampf ums Überleben in einem anderen Land gelitten, wobei Kinder oft arbeiten müssen und die Schule verpassen, um zum Einkommen ihrer Familie beizutragen.
Etwa 2,2 Millionen syrische Flüchtlinge im arbeitsfähigen Alter leben in der Türkei, davon arbeiten nur 140.000 in legalen Arbeitsverhältnissen. (imago images/ZUMA Wire)
Kakerlaken. Schimmel. Täglich zwölf Stunden auf Schwarzarbeit für ein paar Lira, die jeden Tag weniger wert sind. Heimweh, Ungewissheit, Zukunftsangst – und keine Aussicht, da jemals wieder herauszukommen. So leben Ahmet und Zahide Azkar mit ihren Kindern, seit sie sich vor acht Jahren vor den Bombenangriffen auf ihre syrische Heimatstadt Aleppo in die Türkei retten konnten. Beide wollen öffentlich nichts sagen, lieber im Hintergrund bleiben. In Istanbul stecken sie fest – es gibt kein Zurück nach Syrien, kein Vorwärts in ein neues Leben – keine Zukunftsperspektive in der Türkei.

"Millionen Flüchtlinge leben hier am Abgrund"

„Vorübergehender Schutz“ heißt der Status, den die Türkei für die syrischen Flüchtlinge im Land geschaffen hat. Für vier Millionen Menschen. Dieser Status sichert ihnen das Überleben, aber nicht viel mehr – und hindert sie zugleich daran, ein neues Leben aufzubauen. Der EU gelten sie in der Türkei als gut aufgehoben. Europa seinerseits hat inzwischen eine neue Flüchtlingskrise, doch auch diese alte,Krise dauert an.
Berkay Mandiraci von der Denkfabrik International Crisis Group in Istanbul: „Die syrischen Flüchtlinge sind in der Türkei in einer sehr prekären Lage. Millionen Flüchtlinge leben hier am Abgrund. Weil sie keine Beschäftigung auf dem legalen Arbeitsmarkt finden, arbeiten viele schwarz. Und selbst von den Schwarzarbeitern haben viele während der Pandemie den Job verloren. Insofern ist ihre Lage in den letzten ein, zwei Jahren noch prekärer geworden.“

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So verzweifelt sei seine Lage, sagt Familienvater Ahmet Azkar, dass er illegal über die Grenze nach Europa gehen würde, wenn er das Geld hätte. Doch wer würde seine Frau und Kinder in Istanbul über Wasser halten – bis er irgendwo ankommt und Arbeit findet? In Aleppo besaß Azkar eine Fabrik, Geschäfte, eine Wohnung und ein Auto, doch in Istanbul reichen seine Mittel und Kräfte heute nicht einmal mehr zur erneuten Flucht. Wie Azkar selbst habe auch in der Türkei niemand damit gerechnet, dass die Flüchtlinge ein Jahrzehnt nach Kriegsbeginn in Syrien noch immer hier sein würden, sagt die Migrationsexpertin Laura Batalla. Sie hat für die Denkfabrik Atlantic Council zu diesem Thema geforscht:
„Anfangs war das eine rein humanitäre Hilfsaktion der Türkei, die Flüchtlinge aus dem Nachbarland erstmal aufzunehmen. Aber dann zog sich der Krieg immer länger hin, und es kamen immer mehr Flüchtlinge – die türkische Regierung musste sich etwas überlegen. Das war eine gewaltige Anstrengung, die nötige Infrastruktur aufzubauen, nicht nur materiell, sondern auch den gesetzlichen Rahmen dafür zu schaffen. Der Aufenthaltstitel, der damals für die Flüchtlinge geschaffen wurde, war als Übergangslösung gedacht. Um ihre Grundbedürfnisse zu decken und ihnen den Zugang zu staatlichen Diensten zu gewährleisten. Aber inzwischen sind die Flüchtlinge schon zehn Jahre hier, und das reicht nicht mehr.“

Spezieller Aufenthaltstitel für Syrerinnen und Syrer

Die Türkei musste für die Syrerinnen und Syrer einen speziellen Aufenthaltstitel schaffen, weil sie bis zu deren Ankunft eigentlich keine Flüchtlinge aufgenommen hatte. Asyl gewähre die Türkei nur Antragstellern aus Europa – das ließ Ankara bei Unterzeichnung der Genfer Konvention 1951 in einer Ausnahmeklausel festhalten. Und diese Klausel gilt bis heute. Aufheben will Ankara die Beschränkung erst bei einem Beitritt zur Europäischen Union.
Den Flüchtlingen aus Syrien gewährt die Türkei daher seit 2014 den eigens für sie geschaffenen „vorübergehenden Schutz“ – und der bedeutet Schutz vor Abschiebung nach Syrien und den Zugang zu staatlichen Dienstleistungen: zum Gesundheitswesen, zu Schulen und Universitäten, zu sozialen Diensten. Damit stünden syrischen Flüchtlingen in der Türkei fast alle Rechte und Vorteile von Flüchtlingen zu, wie sie die Genfer Konvention vorschreibt – und das nicht nur auf dem Papier.
Das unterstreicht der syrische Migrationsexperte Omar Kadkoy von der Denkfabrik Tepav in Ankara: „Heute gehen 700.000 syrische Kinder an türkische Schulen, und an den Grundschulen hat die Türkei die höchsten Einschulungsquoten für Flüchtlingskinder in der ganzen Welt. Sehr zufrieden sind die Syrer auch mit der Gesundheitsversorgung. Sie bekommen sie kostenlos in den öffentlichen Krankenhäusern der Türkei und auch in den Flüchtlingszentren, die mit Unterstützung der EU aufgebaut wurden.“
Und das sei bei der zahlenmäßig größten Flüchtlingsbevölkerung der Welt ein gewaltiges Verdienst, sagt die Expertin Batalla: „Das meiste davon hat die Türkei aus eigener Kraft gestemmt. Die sechs Milliarden Euro, die die EU beigesteuert hat, sind wirklich nur ein Bruchteil dessen, was die Türkei hier geleistet hat – sowohl vom finanziellen Aufwand her als auch von der Kraftanstrengung, die das gekostet hat.“

Kein freier Zugang zum Arbeitsmarkt

Allerdings schreibt die Genfer Konvention weitere Rechte vor, die die syrischen Flüchtlinge in der Türkei unter dem „vorübergehenden Schutz“ nicht haben. Das eine ist der freie Zugang zum Arbeitsmarkt. Um eine geregelte Beschäftigung aufzunehmen, brauchen Syrer jeweils eine individuelle Arbeitsgenehmigung vom türkischen Staat. Deshalb haben auch nach zehn Jahren nur wenige syrische Flüchtlinge einen guten Arbeitsplatz, sagt Migrationsexperte Kadkoy. Wenn sie überhaupt Arbeit fänden, arbeiteten sie meistens schwarz:
„Rund 2,2 Millionen Syrer im arbeitsfähigen Alter leben hier, davon arbeiten etwa eine Million schwarz und nur 140.000 legal mit Arbeitsgenehmigung – also ein sehr kleiner Anteil. Das liegt zum Teil am türkischen Arbeitsmarkt, auf dem ja auch viele Türken schwarz beschäftigt sind. Aber auch daran, dass Syrer staatliche und europäische Unterstützungsgelder verlieren, wenn sie geregelt arbeiten, und dass ihnen die Sprachkenntnisse fehlen, um Arbeitsrechte auszuhandeln. Bürokratische Hürden beim Antragsverfahren spielen natürlich auch eine Rolle.“

Illegalität als einziger Wettbewerbsvorteil

So geht es auch Ahmet Azkar , dem früheren Fabrikanten aus Aleppo. Seit er mit seiner Familie nach Istanbul geflohen ist, arbeitet er als Meister in der Auto-Zulieferindustrie, wird aber lediglich als Hilfsarbeiter mit dem Mindestlohn bezahlt und ist nicht sozialversichert. Ohne Arbeitserlaubnis kann er keinen angemessenen Lohn und keine Sozialversicherung einfordern, doch mit Arbeitserlaubnis hätte er vermutlich gar keinen Job, befürchtet er.
Wie viele andere syrische Arbeitskräfte bemüht er sich deshalb gar nicht erst darum. Die Illegalität ist der einzige Wettbewerbsvorteil gegenüber legal beschäftigten, einheimischen Arbeitern und die einzige Chance auf Arbeit. Doch wegen der katastrophalen Inflation in der Türkei schmilzt auch Ahmed Azkars Lohn mit jedem Monat.
Und weil es auch vielen Türken immer schlechter gehe, gerieten die Syrer weiter unter Druck, sagt Omar Kadkoy: „Wenn die Wirtschaft schlecht läuft, gibt es weniger Jobs und mehr Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt, und das führt zu noch mehr Ausbeutung der Syrer. Und je härter die Wirtschaftslage ist, desto ablehnender wird die Haltung der Bevölkerung gegen die syrischen Flüchtlinge – das ist seit 2018 zu beobachten.“

Sündenböcke für Wirtschaftskrise

Die Türkei erlebt derzeit schon die zweite Wirtschaftskrise seit 2018. Nach Gewerkschaftsangaben haben nur 30 Prozent der arbeitsfähigen Bevölkerung noch eine sozialversicherte Beschäftigung, und selbst nach amtlichen Angaben sind vier Millionen Türken auf Jobsuche – das entspricht ungefähr der Zahl der syrischen Flüchtlinge im Land.
Das schaffe Missgunst und Groll, sagt Berkay Mandiraci von der Crisis Group: „Die meisten Flüchtlinge leben ja in wirtschaftlich schwachen Gemeinden und Gegenden der Türkei. Seit die Wirtschaft so schlecht dasteht, werden die Syrer dort zu Sündenböcken gemacht. Sie werden für die Krise verantwortlich gemacht, für die steigenden Mieten und den Mangel an Arbeitsplätzen.“
Immer öfter schlägt dieser Groll in Gewalt um. Eine wütende Menge griff kürzlich syrische Geschäfte im Istanbuler Arbeiterviertel Esenyurt an. Auch in Ankara gab es im vergangenen Sommer ausländerfeindliche Krawalle. Neuesten Umfragen zufolge wollen mehr als 80 Prozent der türkischen Bevölkerung, dass die syrischen Flüchtlinge so schnell wie möglich verschwinden. Ein Jahr vor den Wahlen zu Parlament und Präsidentenamt hat sich die Opposition das Thema zu eigen gemacht.
Oppositionschef Kemal Kilicdaroglu: „Wenn Gott und die Nation uns regieren lassen, dann werden wir als allererstes die Syrer heimschicken. Wir werden ihnen Häuser, Straßen und Krankenhäuser bauen, und die Europäische Union wird das bezahlen. Und dann werden wir sie mit Pauken und Trompeten verabschieden und in ihre Länder zurückschicken.“

"Die allermeisten wollen keinesfalls nach Syrien zurück"

Ein gefährliches Wahlversprechen sei das, findet Omar Kadkoy, der syrische Migrationsexperte – nicht nur für die Syrer: „Sollte die Opposition tatsächlich an die Regierung kommen und diese Ankündigung wahrmachen wollen, dann würde das bei den Syrern hier Panik auslösen. Denn die allermeisten wollen keinesfalls nach Syrien zurück. Die Panik und Verunsicherung könnten meiner Ansicht nach dazu führen, dass viele Syrer wieder nach Westen fliehen, dass sie versuchen, über die Ägäis oder sonst wie nach Europa zu kommen. Dann könnten wir wieder solche Bilder sehen wie 2015 und 2016, als hunderttausende Menschen über die Ägäis nach Europa kamen.“
Dabei würden die meisten Syrerinnen und Syrer nach zehn Jahren in der Türkei eigentlich lieber hierbleiben. Sie hätten die Sprache erlernt und sich niedergelassen: „Das war auch deutlich zu sehen, als die Türkei vor zwei Jahren die Grenze zu Griechenland geöffnet hat und mehr als 20.000 Menschen ins Grenzgebiet geströmt sind, um über die Grenze zu kommen. Die wenigsten waren Syrer, die meisten kamen aus Afghanistan, Irak und anderen Ländern. Die Syrer sind heute nicht mehr so erpicht darauf, nach Europa zu gehen.“

"Integration ist in der Türkei ein höchst sensibles Thema"

Rund 750.000 syrische Kinder wurden inzwischen in der Türkei geboren, und Syrer betreiben fast 15.000 Unternehmen in der Türkei. Irgendwann werde die türkische Gesellschaft einsehen müssen, dass die Gäste nicht mehr gehen werden, meint Berkay Mandiraci von der International Crisis Group – und je eher, desto besser für alle: „Man sollte realistisch sein und sehen, dass die meisten Flüchtlinge nicht vorübergehend hier sind, dass sie voraussichtlich auf Dauer bleiben werden. Das sollte sich in einer politischen Diskussion darüber niederschlagen, wie man sie in die Gesellschaft integrieren kann.“
Diese Diskussion gibt es in der Türkei aber nicht. Alleine der Begriff Integration sei ein politisches Tabu, sagt der syrische Experte Omar Kadkoy: „Integration ist in der Türkei ein höchst sensibles Thema, weil seit einem Jahrzehnt gesagt wird, die Syrer seien nur vorübergehend hier, nur bis der Krieg vorbei ist. Keiner hat damit gerechnet, dass der Krieg zehn Jahre und noch länger dauern würde – und noch immer ist ja kein Ende absehbar. Aber der vorläufige Status der Syrer in der Türkei erlaubt keine konstruktive Debatte darüber, wie sie integriert werden können – denn das würde ja ihren dauerhaften Verbleib im Land implizieren! Insofern erschwert dieser Status des ‚vorläufigen Schutzes‘ eine Diskussion über Integration.“

"Wir werden die Flüchtlinge weiter beherbergen"

Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan wagte sich kürzlich weit vor, als er den Forderungen nach einer Abschiebung der Flüchtlinge eine Absage erteilte: „Die Opposition will alle Flüchtlinge zurück in ihre Länder schicken, wenn sie die Wahl gewinnt. Aber wir werden sie nicht fortschicken, denn wir erinnern uns daran, dass unser Prophet einst selbst Flüchtling war. Wir werden die Flüchtlinge weiter beherbergen, und wir lassen uns darin nicht beirren.“
Wie es über den ‚vorläufigen Schutz‘ hinaus weitergehen soll für die syrischen Flüchtlinge, wie sie sich aus der Rolle der ungebetenen Gäste befreien und in die Gesellschaft integriert werden können – darüber will sich auch Erdogan nicht öffentlich äußern, von diesem heißen Eisen lässt seine Regierungspartei AKP die Finger.
Die könnte sie sich vor den Wahlen auch nur verbrennen, sagt Laura Batalla von der Denkfabrik „Atlantic Council“: „Für die AKP wäre es jetzt sehr gefährlich, irgendetwas vorzuschlagen, das in Richtung einer Integration der Syrer geht. Ihren vorläufigen Status zu ändern, sie aus diesem Limbus zu befreien und ihnen langfristige Perspektiven für eine Existenz in der Türkei zu geben – das wäre derzeit politischer Selbstmord.“

"Weitere Minderheit der Türkei"

Dabei wisse die Regierung sehr wohl, dass das notwendig sei. Und Ankara sei auch nicht untätig: „Den türkischen Behörden ist schon klar, dass das keine Gäste mehr sind. Die Syrer verändern schon jetzt die Bevölkerungsstruktur der Türkei, sie werden wahrscheinlich auf lange Sicht zu einer weiteren Minderheit der Türkei. Doch darüber wird nicht öffentlich gesprochen. Die Regierung fährt eine Doppelstrategie – sie spricht von einem vorübergehenden Aufenthalt der Syrer, aber de facto betreibt sie schon lange eine Integrationspolitik. Der Zugang zu den Schulen, zum Gesundheitswesen und so weiter, das ist ja alles Integration.“
Doch eines kann und will die türkische Regierung den syrischen Flüchtlingen bisher nicht in Aussicht stellen: Das Recht, sich um ein dauerhaftes Aufenthaltsrecht zu bemühen und irgendwann auch um die türkische Staatsbürgerschaft. Und das ist der zweite Pferdefuß von besagtem „vorübergehenden Schutz“ – im Unterschied zur Genfer Konvention: Die syrischen Flüchtlinge haben laut ihrem Status keine Aussicht auf eine Zukunft in der Türkei - selbst wenn sie schon zehn Jahre im Land sind und vielleicht noch viele Jahre bleiben werden.
Der Experte Omar Kadkoy verweist auf einen weiteren Umstand: „Unsicherheit, weil sie nie wissen können, ob und wann ihr ‚vorübergehender Schutz‘ enden wird – der kann von der Regierung jederzeit und über Nacht aufgehoben werden. Insofern sind sie völlig zu Recht verunsichert und besorgt um ihre Zukunft. Und angesichts dieser Unsicherheit können sie keine Bindung und keine Zugehörigkeitsgefühle entwickeln. Was man auch tut, um diese Menschen zu integrieren – solange sie rechtlich auf so unsicherem Boden stehen, wird das nicht klappen.“

Regierung setzt offenbar auf die Zeit

Einen gesetzlichen Weg zur Einbürgerung gibt es für Syrerinnen und Syrer nicht. Nur vereinzelt sucht sich der türkische Staat ein paar Ärzte und Akademiker heraus, um sie auf Einladung einzubürgern – rund 190.000 an der Zahl bisher. Die Türkei brauche ein faires und geregeltes Verfahren zur Einbürgerung, meint Kadkoy. Das wäre nicht nur im Interesse seiner syrischen Landsleute:
„Es wäre tatsächlich auch im Interesse der Türkei, eine Integrationspolitik zu schaffen, die zur Einbürgerung führt. Will die Türkei denn wirklich das verlieren, was sie in die Syrer investiert hat – indem sie sie fortschickt oder aus dem Land wirft? Das wäre doch eine Verschwendung von türkischen und auch europäischen Steuergeldern. Vernünftiger wäre es, für sie eine solide Zukunft in der Türkei zu planen und sie langfristig und vollständig zu integrieren.“

"Natürliche Integration"

Vernünftig mag das sein, doch angesichts der Stimmung im Land politisch kaum durchzusetzen. Selbst das politische Kapital von Staatspräsident Erdogan dürfte dafür nicht ausreichen, meint Berkay Mandiraci von der International Crisis Group. Weil die Regierung die Syrer aber auch nicht hinauswerfen wird, wie Staatspräsident Erdogan es versprochen hat, setzt sie offenbar auf die Zeit – und auf eine alte Tradition türkischer Politik.
Der deutsche Soziologe Friedrich Püttmann, der in Oxford über die Situation der syrischen Flüchtlinge in der Türkei forscht: „In einem Gespräch mit einem führenden Politiker der AKP wurde mir mal gesagt: Was wir hier machen, ist natürliche Integration, das heißt laissez faire. Das heißt, man macht nichts auf nationaler Ebene, man schaut einfach mal.“
Dorthin gehe die Reise, meint auch Berkay Mandiraci: „Ich denke, die Regierung rechnet damit, dass die Integration quasi von selbst geschehen wird, wenn es mal die zweite oder dritte Generation von Syrern gibt, die hier aufgewachsen ist und das türkische Bildungssystem durchlaufen hat. Und die Menschen dann vielleicht irgendwann türkische Staatsbürger werden. Die Türkei hat ja in der Vergangenheit schon viele Bevölkerungsgruppen aus unterschiedlichen Weltgegenden aufgenommen, und diese historische Erinnerung erzeugt eine hohe Belastbarkeit und Anpassungsfähigkeit. Vielleicht klappt das ja besser, als wir manchmal denken.“
Für Ahmet und Zahide Azkar aus Aleppo steckt wenig Trost in dieser historischen Perspektive. Sie stecken in Istanbul in der Sackgasse, können nicht vor noch zurück.