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Rücktritt vor 70 Jahren
UNO-Generalsekretär Lie - der Hüne, der in Moskau in Ungnade fiel

Das Projekt einer Weltorganisation zur Erhaltung des Friedens geriet nach dem Zweiten Weltkrieg zwischen die Linien des Kalten Krieges. Dem ersten UNO-Generalsekretär Trygve Lie gelangen trotzdem Erfolge. Am 10. November 1952 trat er zurück.

Von Bert-Oliver Manig | 10.11.2022
Der UN-Generalsekretär Trygve Lie, aufgenommen am 20. Januar 1951 in London
Der UN-Generalsekretär Trygve Lie, aufgenommen am 20. Januar 1951 in London (picture-alliance / dpa / UPI)
Dem ersten Generalsekretär der Vereinten Nationen, dem Norweger Trygve Lie, wurden viele Schwächen nachgesagt. Man belächelte sein holpriges Englisch, kritisierte seinen hemdsärmeligen Stil, bezeichnete ihn als ein intellektuelles Leichtgewicht.
Doch einen Zauderer konnte man den hünenhaften Mann nicht nennen: Nachdem ihn in den Morgenstunden des 25. Oktober 1950 die Nachricht vom Einmarsch nordkoreanischer Truppen in Südkorea erreicht hatte, berief Lie noch am selben Tag den Weltsicherheitsrat in New York ein. In einer denkwürdigen Sitzung verurteilten neun Mitgliedsstaaten bei nur einer Enthaltung die Invasion und forderten den sofortigen Rückzug der Nordkoreaner. Am nächsten Morgen trat Lie vor die Weltpresse:
 
"Der Sicherheitsrat hat gestern mit großer Tatkraft und Schnelligkeit gehandelt, um seine Pflicht in der Koreakrise zu erfüllen. Ich habe dieses Vorgehen begrüßt. Aber wie Sie sehr gut wissen, mache ich mir zugleich Sorgen wegen der Weltlage: dem sogenannten Kalten Krieg, der Konfrontation in den Vereinten Nationen.“

Boykott der Sowjetunion

In der Koreakrise erwiesen sich die Vereinten Nationen als handlungsfähig. Bald sollte sogar noch ein robustes UN-Mandat an zwölf Nationen folgen, um unter Führung der USA die kommunistischen Nordkoreaner zurückzudrängen. Doch wirklich zufrieden konnte der Generalsekretär mit seinem Erfolg nicht sein.
Tatsächlich war die Resolution des Sicherheitsrates kein Ausdruck der Einigkeit der Welt, sondern ihrer Spaltung. Ihre Verabschiedung war nämlich nur möglich gewesen, weil die Sowjetunion zu diesem Zeitpunkt die Sitzungen des Sicherheitsrates boykottierte, um die Aufnahme der Volksrepublik China zu erzwingen.

Moskau warf Lie Willfährigkeit vor

Die sowjetische Führung hatte also einen kapitalen Fehler begangen. Um davon abzulenken, stellte sie die Legalität der Resolution in Abrede und warf Trygve Lie Willfährigkeit gegenüber den USA vor. Der Generalsekretär selbst sah sich als unparteiischen Vermittler: 

"Mehr denn je empfinde ich es als meine Pflicht, alles dafür zu tun, die volle Funktionsfähigkeit der Vereinten Nationen wiederherzustellen. Sie müssen wieder ein Ort werden, an dem beide Seiten ihre Streitigkeiten mit friedlichen Mitteln statt mit Gewalt beilegen können."

Auf Vorschlag der Sowjets gewählt

Ironischerweise war Lie 1946 auf Vorschlag der Sowjetunion an die Spitze der UNO gewählt worden. Stalin mochte den Sozialdemokraten für einen zugänglichen Mann gehalten haben, seit er in den 1930er Jahren als Justizminister den Intimfeind des sowjetischen Diktators, Leo Trotzki, aus Norwegen ausgewiesen hatte.
Obwohl er keinerlei Sympathien für den Kommunismus hatte, bemühte sich Lie als Generalsekretär tatsächlich von Beginn an um ein gutes Arbeitsverhältnis zur sowjetischen Regierung. So hatte er einen erheblichen Anteil daran, dass die Sowjetunion 1946 ihre Truppen aus Persien und von der Ostseeinsel Bornholm abzog. Auch als sich der Ost-West-Konflikt zusehends verschärfte, blieb Lie ein überzeugter Anhänger des Ausgleichs und ein Gegner konfrontativer Rhetorik.

"Einmalige Gelegenheit in der Geschichte"

In der Kooperation für Wohlstand und Weltfrieden über ideologische Grenzen hinweg sah er nach dem Zweiten Weltkrieg eine „heilige Aufgabe“. Der ersten Generalversammlung der Vereinten Nationen, die er als Weltparlament verstand, rief er zu: 

"Wenn wir den Menschen ein besseres Leben ermöglichen, werden wir mit der Schaffung eines wirklich dauerhaften Friedens weit vorankommen. Bei diesem Aufbauwerk sollten wir die Zusammenarbeit aller Staaten und Völker anführen. Diese Gelegenheit ist einmalig in der Geschichte. Wir müssen sie wahrnehmen!" 

Russen verweigern Lie die Zusammenarbeit

Die Euphorie des Neuanfangs war 1950 längst der Ernüchterung gewichen. Die Generalversammlung wählte Lie im November zwar für eine zweite Amtszeit, doch die Sowjetunion verweigerte die Zusammenarbeit mit dem Generalsekretär, der daher am 10. November 1952 seinen Rücktritt erklärte:

"Möge mein Rücktritt dazu beitragen, dass die Vereinten Nationen ihrer Aufgabe gerecht werden können, den Weltfrieden zu sichern!"

Lies Rücktritt half, die Krise der UNO zu überwinden. Doch sein Handeln in der Koreakrise verzieh man ihm in Moskau nie. Als Trygve Lie 1968 starb, hielten sich sowjetische Diplomaten von allen Trauerfeierlichkeiten für den ersten Generalsekretär der Vereinten Nationen demonstrativ fern.