Dienstag, 21. Mai 2024

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25. Todestag des Neurologen
Viktor Emil Frankl - via Logotherapie zum automatischen Glück

Da jede Zeit ihre eigenen Neurosen habe, wollte der Nervenarzt Viktor E. Frankl die Theorien Siegmund Freuds überwinden und begründete eine „Logotherapie“ - die den Menschen „ganz automatisch“ glücklich machen könne. Vor 25 Jahren starb Frankl in Wien.

Von Martin Tschechne | 02.09.2022
Der österreichische Neurologe und Psychiater Viktor Emil Frankl hier im Juni 1997 in seinem Arbeitszimmer in Wien
Der österreichische Neurologe und Psychiater Viktor Emil Frankl 1997 in seinem Arbeitszimmer in Wien (picture alliance / ROBERT JAEGER / APA / picturedesk.com / ROBERT JAEGER)
„Da haben wir zunächst einmal einen Fragen-Einsender namens Josef Brunntaler, Wien 10, Neilreichgasse 99 …“
Es ist ein freundlicher Herr, der da im Studio des Österreichischen Fernsehens sitzt und Fragen entgegennimmt. Der Moderator trägt sie aus Briefen der Zuschauer vor; der Gast antwortet so frei und elegant, dass selbst komplexeste Zusammenhänge ganz leicht erscheinen.

Überlebender von Auschwitz und Dachau

Sein Name ist Viktor Emil Frankl, 1905 in Wien geboren, Neurologe, Psychotherapeut und begeisterter Bergsteiger; als Jude Überlebender der Konzentrationslager Auschwitz und Dachau – der einzige seiner Familie. Inzwischen ist er in ganz Europa und den USA gefragt als Hochschullehrer, überhäuft mit Ehrentiteln – denn Frankl, Menschenfreund und Nervenarzt, hat sich ausgerechnet in Wien aus dem engen Korsett der klassischen Psychoanalyse gelöst und eine Therapieform entwickelt, die den Patienten nicht nur aus dem Gefängnis seiner Neurosen befreit, sondern ihm viel Größeres in Aussicht stellt.
„Erst dort ist der Mensch ganz Mensch, wo er sich selbst vergisst und übersieht, und außer Acht lässt. Im Dienst an einer Sache oder aber in der Liebe zu einer Person. Wenn aber, wenn das der Fall ist, dann ist er nicht nur ganz Mensch, sondern wird auch glücklich. Und zwar: ungewollt, unbeabsichtigt, ganz automatisch.“

Frühe Briefwechsel mit Sigmund Freud

Am Anfang stand eine beinahe rührende Bewunderung des Schülers Frankl für den damals längst weltberühmten Sigmund Freud. Der Junge schickte Briefe, bekam auch Antwort, ließ sich zu den Schriften des Psychoanalytikers aus oder versuchte sich an eigenen Gedanken:

„Und eines Tages hab ich ihm einen Brief geschrieben und hab’ dann beigelegt …, anderthalb Seiten waren das, glaube ich, das Manuskript; ein ganz kurzes Manuskript. Also, immer so einen Einfall gehabt und niedergeschrieben, und ich schwöre ihnen: ohne geringste Ambition, nicht wahr. Mit 15 Jahren werde ich mich hin…, oder war ich 16, war ich damals, hinstellen und einen Artikel schreiben für Freud! Nein, aber so dahingeschrieben, und zwar wie ich mir vorstelle, dass die mimische Bejahung und Verneinung, wie das entstanden sein mag.“
Das ablehnende Kopfschütteln, so vermutete der hellwache Junge, sei ein Ausdruck der Verweigerung gegenüber unbekannter Nahrung. Und das zustimmende Nicken? Wusste er auch im Sinne des Meisters zu deuten:
„Das Gegenstück vom Nahrungs- ist der Sexual-, der Fortpflanzungs-, der Geschlechtstrieb, nicht wahr. Und die Bejahung ist im Sinne von Freud, Psychoanalyse, eine Verschiebung. Wissen Sie, Verschiebung der Koitus-Bewegungen nach oben, nicht? Und das ist dann zwei Jahre später erschienen, im Jahr 1924.“

"Jede Zeit hat ihre Neurose"

Da war Frankl 19 Jahre alt, hatte sich aber schon von Freud ab- und dessen Dissidenten Alfred Adler zugewandt – nur um wenig später seine eigene Schule der Psychotherapie zu begründen, nämlich die Logotherapie. „Logo“, weil nicht länger dunkle Triebe und Ängste allein für das Schicksal des Menschen verantwortlich gemacht werden sollten, sondern Vernunft und Einsicht, die dem Menschen Zutritt verschaffen zu dem, was sein Menschsein erst ausmacht: Sinn und Ziel, Gemeinschaft und Kultur, erfüllende Freude. Und die, andererseits, jene große Leere überwinden helfen, die Frankl bei so vielen seiner Zeitgenossen erlebte:
„Sie dürfen nicht vergessen: Jede Zeit hat ihre Neurose, und jede Zeit braucht ihre Psychotherapie. Und heute muss die Psychotherapie sich zuwenden jenen Zuständen, die es zur Zeit von Sigmund Freud und von Alfred Adler noch kaum gab – eben diesem Sinnlosigkeitsgefühl.“

Wie die Psychotherapie an die Moderne anschließen?

Der Einzug einer wachen und aktiven Vernunft in die Psychotherapie war Frankls Antwort auf die Bedrängnisse der Moderne. Schon als Schüler im Roten Wien der Zwanzigerjahre hatte er sich den Sozialisten angeschlossen – Entfremdung, die Verlorenheit des Einzelnen, die Flucht in Konsumismus oder gar in den Selbstmord erkannte und behandelte er als Symptome eines unmenschlichen, kapitalistischen Systems. Und wehrte sich später umso entschiedener dagegen, als Psychotherapeut reduziert zu werden auf seine persönlichen Erlebnisse im Konzentrationslager:
„Keine Spur! Das tun nur die amerikanischen Verleger von mir immer in die Ankündigungen meiner Bücher usw. hineinschmuggeln, nicht wahr: Viktor Frankl came out from Auschwitz with a brand new type of psychotherapy.“
Viktor E. Frankl starb am 2. September 1997 in Wien. Seine Logotherapie mag nicht aus der Erfahrung von Auschwitz hervorgegangen sein. Aber ganz sicher half sie ihm zu überleben.