„Es ging im Wesentlichen im Ärzteprozess um folgende, medizinisch etikettierte Maßnahmen, nämlich Höhenversuche, Kälteexperimente und Malariaexperimente im
KZ Dachau, dann Senfgasexperimente und anderes im KZ Sachsenhausen, dann ging es um Sulfonamidexperimente im KZ Ravensbrück, dann Fleckfieber- und Giftgasexperimente im KZ Buchenwald und dann das ganze Euthanasieprogramm und einiges mehr."
So fasste 1997 der damalige Richter am Oberlandesgericht, Klaus Kastner, die verhandelten Verbrechen im Nürnberger Ärzteprozess zusammen. Die von ihm gewählte Formulierung „und einiges mehr“ umfasste die Morde an 86 jüdischen KZ-Häftlingen, deren Skelette für eine anthropologische Sammlung angeblich benötigt wurden, sowie die Ermordung tuberkulosekranker Polen. Die Verantwortlichen für diese Verbrechen sollten im Ärzteprozess vor einem US-Militärtribunal zur Rechenschaft gezogen werden.
Ein perfekter "Volkskörper" als Forschungziel
Der Prozess wurde am 9. Dezember 1946 im Schwurgerichtssaal 600 des Nürnberger Justizpalastes eröffnet. Angeklagt waren 19 Ärzte, eine Ärztin, ein Jurist und zwei hohe Verwaltungsbeamte. Sie waren in Konzentrationslagern oder obskuren, scheinwissenschaftlichen Instituten beschäftigt und experimentierten zumeist im Auftrag der Pharma- und Rüstungsindustrie. Sie alle hatten sich die verbrecherischen, biopolitischen Ziele des NS-Staates zu Eigen gemacht. Der Medizinhistoriker Hans-Walter Schmuhl in einem Aufsatz zur Eugenik:
„In letzter Konsequenz strebte das ‚Dritte Reich‘ nach der Beherrschung des Lebens an sich. Es zielte darauf ab, die Kontrolle über Geburt und Tod, Sexualität und Fortpflanzung, Variabilität und Evolution an sich zu bringen, und auf diese Weise einen perfekten ´Volkskörper' zu schaffen.“
Die Opfer kamen aus den Konzentrationslagern
Kaum ein Wort des Bedauerns kam über die Lippen der Täter. Manche traten gar arrogant, geradezu herrisch auf. Die meisten erklärten ihre Handlungen als Resultat von Befehl und Gehorsam. Wenige standen zu dem, was sie getan hatten, wie etwa der Arzt und Generalmajor der Waffen-SS, Karl Brandt, einer der Hauptverantwortlichen für die Euthanasiemorde:
„Wie maßlos sind die Konflikte, die hinter dem Gehorchen sich verstecken. Ich habe den Menschenversuch nie als eine Selbstverständlichkeit angesehen. Auch nicht dort, wo er ungefährlich ist. Aber ich bejahe aus Gründen der Vernunft seine Notwendigkeit.“
Historiker: "per saldo sadistische Spielereien"
Das war natürlich kompletter Unfug. Und konnte schon deshalb nicht stimmen, weil die Opfer, zumeist aus den zahllosen Konzentrationslagern stammend, zu den sogenannten Experimenten gezwungen wurden. Zu „Experimenten“, die nichts anderes als barbarische, inhumane Akte waren, die zum Tode führten oder lebenslanges Leiden verursachten. Der Historiker Wolfgang Benz:
„Diese Experimente waren per saldo sadistische Spielereien. Die schrecklichsten Versuche, die Unterkühlungsversuche, es kann gar keinen Sinn haben, Menschen mithilfe von Eiswasser so stark zu unterkühlen, um hinterher festzustellen, dass sie daran sterben müssen.“
Knochentransplantations- und Infektions-Versuche
Die 2008 gestorbene Alice Ricciardi, geborene von Platen-Hallermund, beobachtete und dokumentierte als junge Ärztin gemeinsam mit Alexander Mitscherlich und Fred Mielke den Nürnberger Ärzteprozess. Sie zeigte sich noch Jahre später erschüttert über die sogenannten Experimente des führenden SS-Arztes Karl Gebhardt im KZ Ravensbrück:
„Das Schlimmste war eben Konzentrationslager Ravensbrück, von Professor Gebhardt aus Hohenlychen, ein Chirurg und Orthopäde, der schauerliche Knochentransplantations- und Infektionsversuche an den Beinen von polnischen Ärztinnen durchführte, aber auch sonst Knochentransplantations- und ähnliche Versuche.“
Einige Ärzte setzten ihre Karrieren fort
Gebhardt gehörte zu den sieben Angeklagten, die am 20. August 1947 zum Tode verurteilt und im Juni 1948 auch hingerichtet wurden. Neun Haftstrafen, darunter fünf Mal lebenslänglich, verhängte das Gericht. Sieben Angeklagte kamen frei. Bis Mitte der 50er-Jahre waren alle wieder in Freiheit, einige setzten ihre Arztkarrieren fort, fast alle erhielten Pensionen.