Dienstag, 19. März 2024

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Warschauer Historiker Borodziej
"Polen hat Reparationsansprüche teils erhalten, teils verwirkt"

Der polnische Historiker Włodzimierz Borodziej hält die Forderungen Warschaus nach deutschen Reparationszahlungen für juristisch unbegründet. Der moralischen Verantwortung könne man auch anders gerecht werden, sagte Borodziej im Dlf.

Włodzimierz Borodziej im Gespräch mit Sabine Adler | 01.09.2019
Eroberung Polens durch die Deutsche Wehrmacht. 1939. |
Die deutsche Wehrmacht hinterließ beim Überfall auf Polen 1939 auch unter Zivilisten Tod und Verwüstung (picture alliance / IMAGNO/Votava)
Sabine Adler: Herr Professor Borodziej, vor 80 Jahren hat Deutschland Polen überfallen, das zu jener Zeit gerade mal 21 Jahre wieder ein eigenständiger Nationalstaat war. Mit dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht begann der Zweite Weltkrieg, in dem 60 Millionen Menschen getötet wurden, in Ihrem Heimatland, in Polen, allein sechs Millionen. An diesem Sonntag wird dieses Ereignisses vielerorts gedacht, nach Warschau kommen unter anderem der Bundespräsident Deutschlands, Frank-Walter Steinmeier, US-Präsident Trump wird wegen eines Hurricans nicht nach Europa fliegen, er hat Vizepräsident Mike Pence entsandt. Nicht dabei sein wird der russische Präsident, Wladimir Putin. Halten Sie es für richtig, gerade ihn auszuladen?
Włodzimierz Borodziej: Ich glaube, von Ausladung direkt sollte man nicht sprechen. Ich glaube, eingeladen waren die Präsidenten der Staaten der Europäischen Union und der US-amerikanische. Insofern ist ja eine ganze Reihe von europäischen Staatspräsidenten nicht mit dabei. Nur, es hat so einen halben Reset gegeben in den polnisch-russischen Beziehungen 2009, also vor exakt zehn Jahren, wo Putin ausdrücklich eingeladen wurde. Er ist dann nach Danzig gekommen und hat sich so halbherzig für den, was in Deutschland als Hitler-Stalin-Pakt bekannt ist, entschuldigt. Allerdings auch sehr betont, dass im Grunde genommen die westlichen Alliierten schuld gewesen seien, weil sie ja in München die Sowjetunion ausgeklammert hätten und die Tschechoslowakei verraten. Stimmt ja auch. Und seit der Zeit, also seit 2010, seit dem Flugzeugabsturz in Smolensk und all den polnischen Verschwörungstheorien, die damit zusammenhängen, ist dieser Reset nur noch archäologische Vergangenheit. Insofern könnte ich mir nur schwer vorstellen, dass die heutige polnische Regierung eine solche Geste, wie sie vor zehn Jahren noch normal war, wiederholt.
Adler: Hätte eine Regierung Tusk Wladimir Putin eingeladen?
Borodziej: Das könnte sein. Das ist natürlich ein Konjunktivus Irrealis. Tusk regiert ja nicht mehr. Es könnte sein, dass sie versuchen, hier einen neuen Anfang zu machen, aber die Geschichte der deutsch-polnisch-sowjetischen und polnisch-russischen Beziehung ist ohnehin derart belastet, dass es viel praktischer ist, den amerikanischen Staatspräsidenten als den des benachbarten Landes Russische Föderation – Russländischer Föderation – einzuladen.
"Wahlen in Brandenburg und Sachsen von Polen unterschätzt"
Adler: An diesem Tag ist nicht nur der 80. Jahrestag des Überfalls Deutschlands auf Polen, es ist auch in Deutschland ein wichtiger Wahlsonntag. Wie schauen die Polen über die Grenze, unmittelbar nach Brandenburg beziehungsweise nach Sachsen?
Borodziej: Das ist eine sehr gute Frage, auf die es keine gute Antwort gibt. Einige Polen haben sich ja westlich der Staatsgrenze niedergelassen. Und sie haben dort die unterschiedlichsten, in der Regel positiven Erlebnisse. Sie haben die Gemeinden verjüngt. Sie tragen zum Steueraufkommen bei und so weiter. Andere finden Ostdeutschland weiterhin, das heutige Ostdeutschland, weiterhin nicht attraktiv. Und ich glaube, insgesamt werden die Wahlen in Brandenburg und Sachsen polnischerseits unterschätzt. Das heißt, wenn man in einem zentralistischen Staat lebt, weiß man nicht, welche Bedeutung die Wahl für die Landtage hat, die sich ja einer ganz erheblichen Autonomie in Deutschland erfreuen. Und insofern wird das, wenn die AfD einen großen Erfolg feiern kann, dann wird das vielleicht auf Seite 1 kommen, aber so eher auf Seite 3 oder 4, wenn es nichts Sensationelles, Neues zu berichten gibt.
Ich glaube, meine Landsleute unterschätzen eben die Bedeutung ihrer direkten beiden Nachbarn, was natürlich auf Gegenseitigkeit beruht. Ein Gespräch, das ich vor zehn Jahren mit dem damals noch sehr agilen ersten Parteisekretär in Dresden, also mit Modrow geführt habe, der war ja die ganzen 80er-Jahre prominent in Dresden. Also, ich habe ihn gefragt: "Na ja, haben sich dann Sie als… sozusagen bekannt als Reformer, haben Sie sich denn mal überlegt, zu ihrem polnischen Kollegen rüberzufahren nach Zielona Góra?" Das war damals eine Woiwodschaft, also entsprach dem Rang her dem Modrow hatte in der DDR. "Und sich bei dem mal zu erkundigen, wie läuft das denn eigentlich so, wenn man einen Feind im eigenen Lager hat, wie geht man damit um?" Modrow hat gesagt: "Wir sind auf die Idee nicht gekommen." Und ich glaube, das ist bis heute so, dass man in Deutschland, jetzt egal, welche Partei, nicht darauf kommt, dass in Polen einige Entwicklungen auch hinsichtlich des Populismus eigentlich früher gegriffen haben als in der Bundesrepublik.
Adler: Ich möchte mal zurückkommen zu diesem Tag heute. Er wird anders als in den Jahren zuvor nicht in Danzig begangen, sondern die Gäste sind nach Warschau eingeladen und nach Wieluń, dem kleinen Ort, der zu allererst überfallen worden ist von den Deutschen. Ist das eine Instrumentalisierung oder ist es eigentlich überfällig, weil in der historischen Wahrheit tatsächlich eben Wieluń der Ort ist, der zuerst dran war?
Borodziej: Sagen wir mal, das werden wir nie wissen. Es gibt die unterschiedlichsten Theorien. Aber der Unterschied von zehn Minuten macht wirklich keinen Unterschied aus.
PiS will "ewige Erinnerung an die deutsche Aggression"
Adler: Aber es ist, wenn ich das ein bisschen so aus Ihrer Antwort heraushöre, es ist ein politisches Signal, nicht in Danzig zu feiern, also in der Stadt an der Westerplatte, die man damit verbunden hat, die bisher eigentlich der übliche Ort war, weil – so ist es jedenfalls die Frage, meine Interpretation – dort kein Bürgermeister von der Partei Recht und Gerechtigkeit herrscht, sondern eine unabhängige Bürgermeisterin. Ist so viel Parteipolitik an so einem Tag eigentlich… wird das goutiert von den Polen?
Borodziej: Selbstverständlich wird das diskutiert. Ihre Vermutung…
Adler: Goutiert.
Borodziej: Goutiert wird das überhaupt nicht von Menschen wie mir. Ihre Vermutung trifft höchstwahrscheinlich zu. Das wird schon so sein. Andererseits hat natürlich der Staat ja schon einmal sozusagen eine feindliche Übernahme der Westerplatte gemanaged. Ich glaube vor zwei Jahren, wo die örtlichen Selbstverwaltungsorgane ausgeschlossen worden sind aus den offiziellen Feiern. Das hätten die hier ruhig wiederholen können. Aber ich denke, Ihre Vermutung, wie gesagt, dass mit dieser mächtigen Frau, die aus dem Nichts gekommen ist und die Nachfolgerin des ermordeten Stadtpräsidenten von Danzig ist und sich sehr profiliert als Liberale, dass sie damit eigentlich lieber nichts zu tun haben wollen. Dann fahren sie lieber nach Wieluń und…
Adler: Wie gegenwärtig ist der Krieg eigentlich heute noch in Polen?
Borodziej: Das ist auch eine schwierige Frage. Ich würde sagen, einerseits ist meine Generation zum Beispiel aufgewachsen damit, dass das das Trauma der Polen ist. Der 17. September wurde ja in Volkspolen, also bis 1989, systematisch verschwiegen. Andererseits gibt es ja auch den schönen englischen Begriff von "self-inflicted or self-induced trauma", also ein Trauma, das man aufrechterhält. Und ich denke, in diesem Fall kommt beides zusammen. Einerseits authentische Emotionen, die ja mittlerweile die Generation von Enkeln und Großenkeln betreffen und die sich intergenerationell fortgepflanzt haben. Andererseits gibt es die sehr sichtbare Bemühung der heutigen Regierung, das sozusagen als Mahnmal, als ewige Erinnerung an die deutsche Aggression wachzuhalten.
Wann fängt der Krieg im Bewusstsein der Deutschen an?
Adler: Herr Borodziej, Sie haben ein Datum genannt, nämlich den 17. September. Das ist ein Datum, was man nicht ungenannt lassen kann, wenn man auch über den Hitler-Stalin-Pakt spricht, das heißt, das Abkommen, dessen 80. Jahrestag in der vorigen Woche war. Dieser Hitler-Stalin-Pakt ist in Deutschland so merkwürdig unbekannt, wie zum Beispiel der Warschauer Aufstand 1944 kaum wirklich gewusst wird. Haben Sie manchmal den Eindruck, dass die Deutschen, denen ja immer ihr Schuldkomplex so quasi vorgeworfen wird vom Ausland – oder doch zumindest nachgesagt wird – dass sie das in den historischen Details dann doch nicht so genau wissen wollen?
Borodziej: Ja, das mag durchaus sein. Und das ist auch insofern emotional verständlich. Für die Deutschen fängt ja der Krieg im Osten mit dem Angriff auf die Sowjetunion an, am 22. Juni 1941. Polen ist ebenso ein kurzes Zwischenspiel wie Frankreich im Frühjahr/Sommer 1940, wie Jugoslawien und Griechenland ein Jahr später.
Adler: Das müssen Sie erklären, Herr Professor Borodziej. Das hat sich ja nun wirklich im deutschen Gedächtnis eingemeißelt, der 1. September 1939 war der Kriegsbeginn.
Borodziej: Ja, aber dass die Sowjetunion dabei irgendeine Rolle gespielt hat, das interessiert die Deutschen, glaube ich, überhaupt nicht. Das ist das Erste. Und das andere, dass der Weltkrieg wirklich anfängt mit dem Vernichtungsfeldzug im Osten, wo es sich nach einem halben Jahr herausstellt, Hitler und Göbbels tauschen sich aus, unmittelbar vor diesem Ereignis. Und beide sagen, na ja, vier Monate oder weniger. Hat sich herausgestellt, das geht nicht. Die Wehrmacht erringt erstmals große Siege, dann große Verluste. Bleibt vor Moskau stehen. Und dann kommt das deutsche Trauma Stalingrad. Und mit diesem Trauma ist, glaube ich, im deutschen kollektiven Gedächtnis kein einziges Ereignis des Zweiten Weltkriegs vergleichbar. Wobei das zahlenmäßig überhaupt nicht stimmt. Die Kapitulation des Afrikakorps 1942, da sind auch 300.000 gefangene Deutsche und Italiener. Die Zerschlagung der deutschen Heeresgruppe Mitte im Juni 1944, die aufhört zu existieren. Sind auch 300.000 Menschen, die weg sind. Das sind Zahlen, die durchaus neben denen von Stalingrad vergleichbar sind. Aber im deutschen kollektiven Gedächtnis, darüber haben meine gelehrten Kollegen, deutschen Kollegen schon mehrmals geschrieben, Stalingrad ist das Symbol des Augenblicks, in dem der Weltkrieg verloren gegangen ist.
Polen "gehört zum Westen, Russland nicht"
Adler: Wenn man von solch gewalttätigen Nachbarn, Ost und West, so eingeklemmt ist, bleibt da im kollektiven Bewusstsein der Polen die Lehre übrig, sei vorsichtig, vertraue nie, sei misstrauisch, und was heißt das eigentlich für das heutige Verhältnis zu Deutschland beziehungsweise Russland?
Borodziej: Ja, ich würde sagen, genauso, wie es die Deutschen nicht gibt, gibt es auch die Polen nicht. Es gibt viele, die genau das bestätigen würden, was Sie soeben gesagt haben. Zwischen zwei solchen Nachbarn ist nie genug an Vorsicht. Und das ist geschichtlich verständlich. Andererseits, ich meine, viele Polen kommen individuell mit Russen sehr gut klar, genauso wie mit Deutschen. Alle leben natürlich in dem Gefühl, es eben mit zwei übermächtigen Nachbarn zu tun zu haben. Der eine wirtschaftlich extrem potent, der andere etwa drei- bis viermal so groß wie Polen von der Bevölkerung her und vom Territorium ganz zu schweigen. Das sind halt übermächtige Nachbarn. Nur hat sich, glaube ich, das Ganze, und das ist der Fortschritt, den ich in den letzten 30 Jahren seit 1989 herausstellen würde: Wir liegen noch immer, also wir Polen, liegen noch immer geografisch zwischen Russland und Deutschland. Nur hat sich unsere Lage gegenüber dem Datum, über das wir sprechen, dem 1. September 1939 grundlegend verändert. Wir gehören zum Westen. Wie gehören zum selben militärischen Bündnis, zur Europäischen Union, wie die Bundesrepublik Deutschland. Und Russland gehört eben nicht dazu. Und insofern, Geografie verändert sich nicht, aber Geopolitik durchaus. Und die sollte das Denken beeinflussen.
Der polnische Historiker Prof. Dr. Wlodzimierz Borodziej gibt am Dienstag (04.05.2010) im Rathaus von Oldenburg eine Pressekonferenz zu seiner Auszeichnung mit dem Carl-von-Ossietzky-Preis für Zeitgeschichte und Politik.
Der polnische Historiker Wlodzimierz Borodziej (picture-alliance/ dpa / Ingo Wagner)
Adler: Jetzt gibt es gerade im Zusammenhang auch mit den Wahlen in Ostdeutschland die Forderung von ostdeutschen Ministerpräsidenten, dass man eine deutsch-russische Annäherung nun endlich mal wieder einleiten könnte. Es sei genug mit den Sanktionen. Läuten da die Alarmglocken in Polen?
Borodziej: Das ist, glaube ich, übertrieben. Also, die Alarmglocken, die gelten bei den Russlandverstehern seit immer und die hat es in Deutschland auch immer gegeben. Das ist ja keine Neuigkeit, was jetzt wieder erzählt worden ist. Insgesamt hat sich, ich würde jetzt mal von der politischen Klasse Polens sprechen, so allmählich herumgesprochen: Mit Merkel waren oder sind wir so gut bedient wie mit niemand anderem, die ja konsequent die Sanktionen gegen Russland gefördert und aufrechterhalten hat, und dass es in Deutschland immer wieder Russlandversteher geben wird, das gehört irgendwie zur Natur der Geografie und Geopolitik. Aber ich habe nicht das Gefühl, dass das in Deutschland jetzt wirklich dominant wäre mit dieser Bundeskanzlerin, mit diesem Außenminister und mit diesem Bundespräsidenten.
"Zentrum exklusiv für polnische Opfer wenig zielführend"
Adler: Herr Borodziej, Sie haben es gesagt, dass Polen jetzt im Unterschied zu vor 80 Jahren dem westlichen Bündnis angehört. Es gibt Kritik von Polen, dass Deutschland der Bündnisverpflichtung, die sich aus der Mitgliedschaft in der NATO ergibt, nicht vollumfänglich stellt, ihr nicht nachkommt, sprich die zwei Prozent Verteidigungsausgaben, die nicht erreicht werden von der Bundesregierung. Würden Sie sagen, dass der CDU-Generalsekretär Paul Ziemiak, der ja ein gebürtiger Pole ist, dass er Recht hat, wenn er sagt, dass diese Verantwortung auf Kosten der Sicherheit auch der Polen geht, diese Verantwortung, die nicht wahrgenommen wird?
Borodziej: Da stimme ich völlig überein, also zunächst einmal diese Kritik wird ja nicht nur von den Polen geäußert, sondern sehr vehement auch vom amerikanischen Botschafter in Berlin und von Trump und von allen Möglichen.
Adler: Und wir werden es am 1. September wieder zu hören bekommen, ganz sicher.
Borodziej: Ja, auf jeden Fall und insofern ist es völlig berechtigt zu sagen, ja, Moment, ihr seid eine Verpflichtung eingegangen, die ihr nicht einlöst. Was machen wir damit? Das ist verhandelbar. Wir können ja den Deutschen kaum ein Ultimatum stellen, aber es gibt zum Beispiel eine Idee, die natürlich nicht verwirklicht werden wird, die ich aber für extrem einfallsreich halte. Wenn die Deutschen sozusagen ihre eigenen Soldaten nicht ausrüsten wollen, ich meine, der Zustand der Bundeswehr ist genauso wie der der polnischen Armee. Jeder fünfte Panzer rollt, jedes fünfte Flugzeug fliegt und so weiter und so fort, wir sind in einem ähnlich desolaten Zustand, obwohl wir zwei Prozent ausgeben von einem wesentlich niedrigerem Bruttosozialprodukt, aber dieser Vorschlag, der, wie gesagt, keine Chance auf Verwirklichung hat und den ich für eine gute Idee halte, basically, als Ausgang für eine Diskussion, ist ja, dass wenn Deutschland nicht aufrüsten will, dann soll es diese fehlenden 0,8 Prozent für die Aufrüstung der östlichen Nachbarn verwenden. Dann braucht Deutschland keine neuen Soldaten, keine neuen Kasernen, keinen neuen Panzer. Das geht alles in den Osten, und wir garantieren die Sicherheit.
Adler: Das heißt, Sie wüssten, wie man das Geld ausgeben könnte?
Borodziej: Ja, aber ich ja weder Außen- noch Verteidigungsminister.
Denkmal des polnischen Soldaten und des deutschen Antifaschisten im Volkspark Friedrichshain, Berlin, Deutschland, Europa | Verwendung weltweit, Keine Weitergabe an Wiederverkäufer.
Markus Meckel (SPD) zur Erinnerungskultur - "Denkmäler nach Nationalität sind sehr problematisch"
Ein gesondertes Denkmal für polnische Opfer des Nazi-Regimes? Markus Meckel (SPD) hält eine solche Nationalisierung für "eine Falle". Ein Dokumentationszentrum würde seiner Ansicht nach "weit mehr deutlich machen, dass wir uns dieser Geschichte stellen", sagte er im Dlf.
Adler: Aber vielleicht werden Sie gehört. Herr Professor Borodziej, in Deutschland wird gerade jetzt zu diesem Jahrestag über ein Denkmal diskutiert, das der sechs Millionen polnischen Opfer gewidmet werden soll. Es gibt ganz prominente Unterstützer, unter anderem die Bundestagspräsidenten, Wolfgang Schäuble, oder auch den Außenminister, Heiko Maas. Ist so ein Denkmal tatsächlich ein Zeichen, das als Geste der Versöhnung oder Geste der Bitte um Vergebung verstanden werden könnte?
Borodziej: Sie bringen mich mit dieser Frage in eine schwierige Lage, weil einerseits sollte ich das ja unterstützen. Anderseits halte ich die Idee, sozusagen ein Zentrum exklusiv für polnische Opfer, das heißt polnische und jüdische, sechs Millionen polnische Staatsbürger, zu errichten, für wenig zielführend. In der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" vom Donnerstag, glaube ich, ist ein sehr schöner Beitrag erschienen von Felix Ackermann. Der spricht da eben nicht von einer Inflation der Denkmäler, sondern von einem Dokumentationszentrum, so ähnlich wie die "Topographie des Terrors".
Adler: Das soll ja angeblich ja noch zusätzlich entstehen.
Borodziej: Ja, die Frage des Denkmals wäre damit für mich gegessen gewissermaßen und ich glaube, die Polen brauchen das nicht. Ich meine, ich mache mich natürlich bei der Regierung wieder einmal furchtbar unbeliebt, aber die Polen brauchen das im Grunde genommen gar nicht. Wir hatten mal am Historischen Institut der Universität Warschau eine vergleichende Arbeit über das Schicksal der russischen Denkmäler in Warschau und in Berlin. In Warschau werden sie natürlich erhalten, genauso wie in Deutschland, aufgrund einer zwischenstaatlichen Vereinbarung. Polen ist dazu verpflichtet, es ist alles okay, nur in Warschau sind die leer. Es gibt keine nennenswerte russische Gemeinde in Warschau. In Berlin zum 9. Mai kommen massenhaft die Russlanddeutschen. Das ist ein durchaus lebendiger Erinnerungsort. Hier in Berlin wäre er, glaube ich, etwas für Staatsbesuche und da wäre es mir eigentlich um das Geld schade. Ein Dokumentationszentrum, wo man sich wirklich auseinandersetzen, informieren kann darüber, was die Deutschen zwischen 1939 und 1945 in Polen angerichtet haben, schien mir wesentlich sinnvoller.
"Polen hat Reparationsansprüche teils erhalten, teils verwirkt"
Adler: Im vorherigen Jahr wurde zum 100. Jahrestag des Bestehens Polens als Nationalstaat eine Rede ganz besonders beachtet, die der polnische Botschafter hier in Berlin gehalten hat, der von katastrophalen Beziehungen zwischen den beiden Ländern gesprochen hat. Sind die wirklich so schlecht oder sind sie in der Politik schlechter als im Zusammenleben? Sie haben gerade erwähnt, es gibt so viele Polen, die unter anderem eben auch in Berlin wohnen, die man kaum merkt. Es gibt kaum irgendwelche bemerkenswerten Zwischenfälle. Also, was hat es mit diesen sogenannten katastrophalen Beziehungen zwischen Deutschland und Polen auf sich?
Borodziej: Überhaupt nichts, der Botschafter fantasiert. Die Beziehungen zwischen Polen und Deutschland waren nie so gut wie im 21. Jahrhundert, seit der Teilung Polens Ende des 18. Jahrhundert. Im Prinzip, wenn man nicht darauf besteht, Probleme zu schaffen, sondern sie zu lösen, ist alles verhandelbar und das ist ein Riesenfortschritt. Einer der wichtigsten Streitpunkte, die es zwischen Berlin und Warschau gibt, ist ja Nord Stream 1 und 2. Da gibt es durchaus praktische Lösungen, die denkbar wären, dass es eine Abzweigung dieser Pipeline gibt, die direkt nach Stettin führt und sollte uns Russland eines Tages die Gas- und Öllieferungen abschneiden, dann wird das eben zu uns durchgepumpt aus dem Westen, das russische Öl und Gas. Also, es ist alles verhandelbar, es ist alles machbar, nur braucht man guten Willen dazu. Wenn man anfängt, die deutsch-polnischen Beziehungen als Katastrophe darzustellen, dann zeugt das von einem Mangel an gutem Willen.
Zerstörte Altstadt Warschaus
Reparationsforderungen an Deutschland - "Moralisch hat Polen einen Anspruch darauf"
Polen habe 1990 nicht die Möglichkeit gehabt, einen echten Friedensvertrag mit Reparationszahlungen durchzusetzen, sagte die Journalistin Aleksandra Rybinska im Dlf. Das Land sei damals wirtschaftlich und politisch zu schwach gewesen. Die heutigen Reparationsforderungen hätten dabei mehrere Funktionen.
Adler: Jetzt habe ich ein bisschen damit gerechnet, dass Sie als Problem die Reparationszahlungen nennen. Man hat ja das Gefühl, dass vor jedem Jahrestag oder, vielleicht ist die Beobachtung sogar genauer, vor jeder Wahl in Polen diese Reparationsforderungen wieder auf den Tisch kommen und die werden auch mit jedem Mal, mit dem irgendwelche offiziellen Äußerungen getätigt werden, höher. Im Moment ist der Stand, dass sie im Abschlussbericht von der Parlamentskommission auf höher als 750 Milliarden Euro geschätzt werden. Was ist das? Ist das ein echtes Problem zwischen unseren Ländern, ein ungelöstes Problem?
Borodziej: Nein, im rechtlichen Sinn auf keinen Fall. Da hat Polen die Reparationsansprüche, das ist jetzt eine lange Geschichte, auf die wir nicht eingehen können, teils erhalten, teils verwirkt. Im moralischen Sinne natürlich wird es immer ein Problem bleiben gewissermaßen, aber das kann man ja auch mit Quoten, die weniger Nullen haben als 700 Milliarden, lösen. Ich halte auch von diesem Gutachten des Parlamentarischen Ausschusses überhaupt nichts aus Gründen, die ich jetzt nicht auszuführen brauche: Natürlich, man kann sich alles hochrechnen und vorstellen, was da möglicherweise kommen würde, aber dann kämen wir doch in eine absolut paradoxe Lage, dass die Kinder meiner Freunde in Deutschland Steuern zahlen, deren Teil verwendet wird für polnische Reparationsforderungen, die kommen meiner Tochter zugute. Die Kinder meiner Freunde in Deutschland haben damit so wenig zu tun wie meine Tochter. That's it.
Geschichtspolitische Interessen der PiS-Regierung
Adler: Ich möchte ein Datum unbedingt erwähnen, über das wir reden müssen in diesem Jahr, nämlich den 4. Juni 1989. Da gab es die ersten freien Wahlen überhaupt im Ostblock, nämlich in Polen. Das ist ein Datum, das aus meiner Wahrnehmung ähnlich, ich sage es jetzt mal unverblümt, zerredet, runtergeredet wird, wie der Mauerfall von denen, die sagen, nach dem Fall der Mauer ist in Deutschland alles den Bach heruntergegangen. Was ist in Polen los? Ist das etwas Vergleichbares? Sie kennen beide Länder ja gut.
Borodziej: Ich glaube, das ist durchaus vergleichbar mit dem Unterschied, dass es, glaube ich, in den fünf sogenannten neuen Bundesländern eher von unten kommt und zuerst von der Linken und jetzt von der AfD instrumentalisiert wird als ein Topos gerade vor den Landtagswahlen, über die wir gesprochen haben. Das ist der eine Unterschied. In Polen wird das von oben oktroyiert in dem Sinne, dass der 4. Juni als Erfolg einer sogenannten Refolution. Also ich habe das immer als Vortragstitel angekündigt, in Deutschland und die deutsche Sekretärin hat mir durchgestrichen, der blöde Ausländer weiß natürlich nicht, dass man Revolution mit v schreibt. Nein, Refolution, das ist ein Begriff, den Timothy Garton Ash eingeführt hat, und er meinte damit exakt den 4. Juni und auch den 9. November, dass es da revolutionäre Veränderungen infolge von Reformen gegeben hat.
In Polen gibt es das Bestreben, diesen 4. Juni so klein zu halten wie möglich, von der Regierung her, weil das natürlich untrennbar verbunden ist mit dem Erzfeind der Regierung, mit Lech Wałęsa, den diese Regierung ja wirklich nicht ausstehen kann, und der zweite Grund liegt noch tiefer. Genauso wie bei den Ostdeutschen, dieses Gefühl, abhängt zu sein, ja auch nicht so viel mit materieller Lage zu tun hat. Ich meine, wenn man vergleicht, wie es den Ostdeutschen geht mit Tschechen, Polen, also vom Kosovaren ganz zu schweigen oder Bulgaren oder Ukrainern, dann geht es denen doch relativ gut. Es geht eher um die Erfindung eines Master-Narratives, einer mehrheitsfähigen Erzählung über sich selbst, die man ungeachtet des materiellen Zustandes verwerten kann, sagen wir es mal so. In Polen ist es wiederum die Vorstellung der Rechten, dass ein echter Sieg, das muss eine echte Niederlage sein mit vielen blutigen Opfern, und dann ist es wirklich schön.
Adler: Aber so können wir jetzt nicht in diesen 1. September gehen.
Borodziej: Ich glaube, ein paar Tatsachen, die wir hier angesprochen haben, sind durchaus diskussionsfähig. Dass das natürlich mit dem ganzen Pathos, der uns erwartet, nicht unbedingt kompatibel sein wird, das ist ja nicht mein Problem.
Adler: Herr Professor Borodziej, ich danke Ihnen für das Gespräch.
Borodziej: Vielen Dank.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.