Für wohl viele Menschen ist das eigentlich Unvorstellbare in der letzten Februarwoche eingetreten. Etwas, von dem zahlreiche geglaubt hatten, dass die Nachkriegsordnung von 1945 – oder spätestens die von 1990 – ein derart stabiles Gerüst sei, das einen Angriffskrieg eines Landes auf einen europäischen Nachbarstaat verhindern würde. Ein Irrglaube.
„Wir sind heute in einer anderen Welt aufgewacht“ - lautete die viel zitierte Einschätzung der deutschen Außenministerin Annalena Baerbock am 24. Februar, dem Tag des Angriffs Russlands auf die Ukraine.
Und auch zahlreiche Politologen, Historikerinnen und Sicherheitsexperten sind sich weitgehend einig: Dieser Krieg ist eine geopolitische Zeitenwende.
Warum wird die Sicherheitsordnung mit Russlands Angriff auf die Ukraine eine andere?
Wer auch immer versuche, Russland zu behindern, geschweige denn eine Bedrohung für das Land und Volk zu schaffen, müsse wissen, „dass die Antwort Russlands sofort erfolgen und zu Konsequenzen führen wird, die Sie in Ihrer Geschichte noch nie erlebt haben.“
Nicht zuletzt diese Drohung Wladimir Putins in Richtung des Auslands hat der Welt vor Augen geführt, dass die tragenden Säulen der bislang geltenden Nachkriegsordnung (Gewaltlosigkeit, Unverletzlichkeit der Grenzen und Selbstbestimmung) mindestens stark beschädigt sind. Putins späterer Schritt, die russischen Atomstreitkräfte in erhöhte Alarmbereitschaft zu versetzen, tat da ein Übriges.
„Eine Politik, in der man hinnimmt, dass Putin dieses macht, dass Putin jenes macht und nach einiger Zeit zu Business as usual zurückkehrt, ist vorbei“, sagte der Politologe Herfried Münkler am 28. Februar im Deutschlandfunk.
Dabei ist jene internationale Sicherheitsordnung, die darauf abzielte, Konflikte in Kooperationen und Win-Win-Situationen umzuwandeln, streng genommen nicht erst seit dem Überfall im Februar 2022 beendet worden – sondern bereits mit der Annexion der Krim im Jahr 2014 und der russischen Politik im Donbass. „Jetzt allerdings sollte auch dem letzten klargeworden sein, dass an die Stelle von Vertrauen und vertrauensfördernden Maßnahmen generalisiertes Misstrauen angezeigt ist“, so der Politikwissenschaftler Münkler. Mit „Worst-Case-Szenarien“ müsse fortan permanent gerechnet werden.
Grenzen des heutigen Russlands und des Russischen Kaiserreichs von 1914
Diese Einschätzung teilt auch Christian Mölling von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik. Es werde auf absehbare Zeit keinen Unterschied mehr zwischen Krieg und Frieden geben, das zeichne die neue Sicherheitsordnung in Europa aus, sagte er im Deutschlandfunk (02.03.2022). Es gebe nach dem russischen Angriff auf die Ukraine keine gemeinsame Grundlage mehr mit Russland. Europa müsse "eine neue Sicherheitsordnung planen, die tatsächlich ohne Russland funktioniert".
Auch die rechtlichen Grundlagen der NATO-Russland-Grundakte sind nach Einschätzung des ehemaligen Leiters der Münchner Sicherheitskonferenz, Wolfgang Ischinger, nicht mehr gegeben. Denn der Vertrag gelte nur unter den sicherheitspolitischen Rahmenbedingungen des Jahres 1997, erkläre er am 26. März im Dlf. Diese seien eigentlich schon durch die Annexion der Krim zerstört worden, spätestens aber durch den Angriff auf die gesamte Ukraine. Die NATO sei daher auch nicht mehr an die eigenen Zusagen gebunden und könne nun Truppen in Osteuropa stationieren. Das sei für Russland eine "außerordentlich schlechte Entwicklung".
Wie könnte sich die Lage für Europa ändern?
Auch Europas Demokratien stehen vor den Herausforderungen einer neuen Geopolitik. Nach Einschätzung von Ruprecht Polenz hat der alte Leitsatz, dass es Sicherheit in Europa nur mit und nicht gegen Russland gebe, seine Berechtigung verloren. „Inzwischen ist allen klar geworden, dass es eine Aufgabe ist, den Frieden in Europa gegen Russland zu sichern“, sagte der CDU-Außenpolitiker (01.03.2022) in Deutschlandfunk Kultur.
Der Politologe Johannes Varwick warnt hingegen vor einem neuen Kalten Krieg. Auch wenn jetzt „die Zeit der Härte sei“, müsse gleichzeitig weiter an diplomatischen Lösungen gearbeitet werden, sagte er im Deutschlandfunk. (02.03.2022). Am wichtigsten sei die Vermeidung eines Kriegs zwischen der NATO und NATO-Staaten und Russland, "sei es aus Kalkül, sei es aus unbeabsichtigten Zwischenfällen".
Erhöhter Wehretat und Aufrüstung
Wohl nicht zuletzt mit Blick auf die Frage, ob Putin ausprobieren wird, einen NATO-Staat anzugreifen, hat Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) eine Kehrtwende in der deutschen Verteidigungspolitik eingeläutet und höhere Investitionen in die Bundeswehr angekündigt. Von nun an soll der Verteidigungsetat mehr als zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts betragen. Außerdem wird der Bundeshaushalt 2022 einmalig mit einem Sondervermögen von 100 Milliarden Euro ausgestattet. Das Geld soll unter anderem mehr Personal, eine bessere Ausrüstung und modernes Einsatzgerät gewährleisten.
Andere EU- und NATO-Staaten sehen teilweise ebenfalls eine Dringlichkeit der Aufrüstung.
Mehr Versorgungsautonomie notwendig
Zahlreiche bisher bestehende wirtschaftliche Verflechtungen zwischen europäischen Staaten und Russland befinden sich entweder auf dem Prüfstand oder sind bereits aufgekündigt. Die Bundesregierung hat unter anderem die Zertifizierung der Ostsee-Pipeline Nord Stream 2 gestoppt.
Fakt ist aber auch: Etwa 55 Prozent der deutschen Erdgasversorgung kommt aus Russland – eine enorme Abhängigkeit von nur einem Lieferanten.
Claudia Kemfert, Energieexpertin des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), plädierte (27.03.2022) im Deutschlandfunk dafür, so schnell wie möglich auf Kohle, Öl und Gas aus Russland zu verzichten. Alternativen zu russischen Energieimporten gebe es.
Der ehemalige Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz, Wolfgang Ischinger, geht noch einen Schritt weiter als Kemfert: Er fordert einen sofortigen Stopp russischer Öl- und Gaslieferungen. Das werde eine Herausforderung für Deutschland, Chaos werde dadurch aber wohl nicht ausbrechen. Der russische Angriff sei eine fundamentale Herausforderung für die internationale Ordnung. Dabei sei „in krasser Weise das Völkerrecht, das Gewaltverbot“ und der Grundsatz, dass Veränderungen von Grenzen nur in gemeinsamer Übereinstimmung möglich sind, verletzt worden, sagte Ischinger im Dlf. Auf diese fundamentale Herausforderung müsse „man möglicherweise mit fundamentaleren Antworten reagieren".
Europa im Zusammenspiel mit den „Big Players“
Europas Bedeutung auf der Weltbühne könnte kleiner werden. Unter der Voraussetzung, dass die Erde derzeit zwischen den drei großen Akteuren China, Russland und den USA aufgeteilt sei – „und die Europäer darin so gut wie keine Rolle spielen“ – sei Europa gut damit beraten, sich auf seine unmittelbare Umgebung zu konzentrieren, sagte Herfried Münkler (28.02.2022) im Dlf. Allerdings müssten die Europäer über eine eigene nukleare Option nachdenken – unabhängig von den USA. „Man kann sich ja nicht sicher sein, ob nicht womöglich in den USA demnächst wieder ein Präsident à la Donald Trump an der Macht ist, der auch in der jetzigen Situation exzessives Verständnis für Putin bekundet hat.“
Laut Ruprecht Polenz (CDU) zielte Europas Politik nach 1990 darauf ab, ein System gemeinsamer Sicherheit zu schaffen. Staaten wollten und sollten ihre Sicherheit gemeinsam organisieren und nicht etwa Sicherheit voreinander suchen. Polenz: „Jetzt kommen wir aber wieder in eine Phase, in der wir unsere Sicherheit durch Abschreckung und durch Modi der Koexistenz sichern.“
Ist der Vergleich mit der Zeit des Kalten Krieges angebracht?
Auf der einen Seite die NATO, auf der anderen der Warschauer Pakt unter Führung der Sowjetunion: Auch in der Zeit des Kalten Krieges sahen sich hochgerüstete, verfeindete Bündnisse miteinander konfrontiert.
Zwar ähnelt der aktuelle Konflikt zumindest teilweise der Weltlage von einst – „wo diese Einflusszonen wechselseitig anerkannt und respektiert waren“, analysiert der Politologe Münkler. Jedoch sei der Angriff auf die Ukraine ein „Schießkrieg“, ein „heißer Krieg“, bei dem unklar sei, wie lange er dauern und wie viele Opfer es geben werde: „Davon wird auch in vieler Hinsicht abhängig sein, wie man in Zukunft mit Russland umgehen wird.“
Karl Kaiser, langjähriger Sicherheitsberater diverser Bundesregierungen und ehemaliger Direktor der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, betonte im Deutschlandfunk, dass man während des Kalten Kriegs von einer gewissen Rationalität der damaligen sowjetischen Führung ausgehen konnte, die letztendlich einen heißen Krieg mitverhindert habe. Es sei nun fälschlicherweise die Annahme gemacht worden, dass diese letzte, rettende Rationalität auch bei der jetzigen russischen Führung vorhanden sei. Kaiser: „Aber das ist eben nicht der Fall.“
Notwendig sei nun vom Westen eine klare Politik der Stärke – aber mit einer offenen Tür zur Verständigung, so Kaiser. „Denn es gibt ja auch in Russland Kräfte, die nicht mit dieser Politik, die Putin verfolgt, einverstanden sind.“
Welchen Einfluss haben die Vereinten Nationen?
Die Wirkmacht der Vereinten Nationen sieht Herfried Münkler mehr als skeptisch: „Ich glaube, das mit der Weltgemeinschaft können wir uns abschminken.“ Dass sich Putin getraut habe, während einer Sitzung des UN-Sicherheitsrates diesen Angriff anzuordnen, zeige, wie sehr der russische Präsident das Gremium verachte. Schon in der Vergangenheit hätten sich die Vereinten Nationen als politisch nicht handlungsfähig erwiesen: „Das gehört gewissermaßen auch zu den Fehleinschätzungen der globalen Konstellation seitens der deutschen Politik.“
Die Vorstellung einer Weltordnung, die von Regeln und Werten getragen ist, bezeichnet Münkler als Spezialkonzept des Westens beziehungsweise von Demokratien. Mächtige Akteure wie Russland oder China wollten dieser Vorstellung von Ordnung aber nicht folgen.
Quellen: Bundesverteidigungsministerium, SIPRI, DW.de, Statista, jma