Donnerstag, 18. April 2024

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DDR-Bürgerrechtlerin Freya Klier
Plädoyer für ein politisches Erinnern

Die Regisseurin und DDR-Bürgerrechtlerin hat immer wieder die Grenzen des Sag- und Machbaren in ihrem Heimatland, der DDR, ausgetestet, bevor sie 1988 zwangsausgebürgert wurde. Die Aufarbeitung der Diktaturerfahrung ist eines ihrer Lebensthemen geworden.

Birgit Wentzien im Gespräch mit der Regisseurin und DDR-Bürgerrechtlerin Freya Klier | 24.09.2022
Die Regisseurin und Autorin Freya Klier in der Oderbergestrasse in Berlin Prenzlauer Berg
Auch die Aufklärung von Schülern zur DDR-Vergangenheit ist ihr ein wichtiges Anliegen: Freya Klier (imago / Piero Chiussi )
Freya Klier ist Regisseurin am Theater Schwedt, als sie im Oktober 1983 in ihrem Tagebuch notiert: „Während das Licht ausgeht, beherrscht mich die Vorstellung, wie die Stasi jetzt ihre Kamera auf die Zuschauer richtet. Wie sie jede Regung, jedes Lachen im Film festhält, jede Reaktion auf eine politische Spitze. Wie sie in den nächsten Wochen zeitlupenhaft einzelne Gesichter rausholen und Identitäten feststellen wird.“

Die Grenzen des Sag- und Machbaren austesten

Noch fünf weitere Jahre testet Freya Klier die Grenzen des Sag- und Machbaren aus, in ihrem Heimatland, der DDR: auf der Bühne, in Friedensinitiativen, nach dem Berufsverbot Mitte der 80er-Jahre bei Auftritten in Kirchenräumen. Dann wird sie zusammen mit ihrem Mann, dem Liedermacher Stephan Krawczyk, nach einer Demonstration verhaftet und 1988 zwangsausgebürgert.
In West-Berlin versucht die Familie gemeinsam mit Tochter Nadja Fuß zu fassen. Die Aufarbeitung der Diktaturerfahrung wird zu einem der Lebensthemen der früheren Dissidentin, im Austausch mit Schülerinnen und Schülern, in Theaterstücken, Filmen und Büchern.
Von der DDR erzählen, davon lässt sich Freya Klier, geboren 1950 in Dresden, nicht abhalten. Derzeit erholt sie sich von einer Erkrankung, das „Zeitzeugen“-Interview mit Birgit Wentzien hat sie aber ohne Zögern und freudig zugesagt.
Freya Klier im Gespräch in einem Studio des Deutschlandfunks
Freya Klier (re.) im Gespräch mit DLF-Chefredakteurin Birgit Wentzien in einem Studio des Deutschlandfunks (Deutschlandradio / Christiane Knorr )

Es war nicht mit dem Verlassen der DDR getan, sondern eigentlich, solange es die DDR gegeben hat, sind wir auch verfolgt worden, auch hier in West-Berlin.

Freya Klier im Deutschlandfunk

Auch wenn es schmerzt: ein Lob der Rückschau

Birgit Wentzien: Frau Klier, für Sie gibt es nicht nur zehn Gebote, Sie haben ein elftes Gebot. Was ist das für ein Gebot?
Freya Klier: Ich habe das elfte Gebot als mein elftes Gebot extra genommen, damit es nicht so anspruchsvoll ist, sondern mein elftes Gebot ist: Du sollst dich erinnern. Das wird zu wenig gemacht. Es wird zu sehr vergessen, was in der Vergangenheit gewesen ist.
Wentzien: Also Erinnern ist für Sie etwas, eine Kraft und etwas Positives?
Klier: Ja, das auf jeden Fall.
Wentzien: Jetzt halte ich mal dagegen.
Klier: Bitte!
Wentzien: Ich habe Ernest Hemingway mitgebracht. Der sagt, Glück, das ist eine gute Gesundheit und ein schlechtes Gedächtnis. Mit Ernest Hemingway an Freya Klier: Kann so was wie Vergessen auch Gnade sein?
Klier: Das kann. Das kommt drauf an. Wenn man jetzt was Persönliches hat wie Hemingway, der einiges vergessen musste, dann ist das auch, finde ich, gerechtfertigt oder ist eine Gnade. Während erinnern ist für mich mehr politisch gemeint.
Wentzien: Was gibt Ihnen diese Erinnerung? Gibt sie Ihnen Kraft, gibt Sie Ihnen auch Perspektiven?
Klier: Beides.

„Leben kann man eigentlich nur gestalten, wenn man sich erinnert“

Wentzien: Was ist daran so entscheidend für Ihr Leben?
Klier: Du sollst dich erinnern, ist, dass man sein politisches Leben oder in der Gesellschaft eben eigentlich nur gestalten kann, wenn man sich erinnert, und das meint nicht das ganz Persönliche, das muss jeder mit sich selbst ausmachen.
Wentzien: Also Erinnern als Voraussetzung für Gegenwart und für Zukunft.
Klier: Zukunft, richtig, ja, sehe ich so.
Wentzien: Wenn Sie sich erinnern an die drei Buchstaben DDR, woran denken Sie?
Klier: Also persönlich lass ich jetzt mal weg.
Wentzien: Nein, nicht ganz.
Klier: Da erinnere ich mich an Positives persönlich.
Wentzien: Was zum Beispiel?
Klier: Meine Familie, meine Freunde, ja, das ist das Persönliche. Und das andere, das Gesellschaftliche, ist furchtbar für mich zu erinnern, die DDR. Da habe ich auch genügend Beispiele, die negativ sind. Da kann ich dem nichts Positives abgewinnen.
Wentzien: Also Sie trennen zwischen Ihrem Umfeld, Ihren Lebensbeziehungen, Ihren Familienbeziehungen und der Politik …
Klier: Ja.

„Dieser Staat mit seinen Forderungen und maßgeblichen Richtlinien“

Wentzien: … die Ihnen beileibe nahe kam, so nahe, wie es eigentlich nicht sein sollte.
Klier: Bis ins Gefängnis zweimal, also das trenne ich wirklich, weil familiär ist es ja positiv, aber auch die Nachbarn sind sehr positiv oder die Leute, die im Haus waren oder mit denen man befreundet war. Das ist ein völlig anderes Feld als dieser Staat mit seinen Bedingungen und seinen Folgerungen und seinen maßgeblichen Richtlinien, die man selber überhaupt nicht hatte.
Wentzien: Zweimal im Gefängnis, sagen Sie, einmal als junge Frau, als Jugendliche …
Klier: Ja.
Wentzien: … und dann mit der Folge auch der Ausweisung – kommen wir gleich drauf – als Frau dann auch und Lebensabschnittsgefährtin von Stephan Krawczyk. Beide Fälle der Gefängnisnahme unterscheiden sich sehr.
Nach ihrer Ausweisung aus der DDR: Stefan Krawczyk und dessen Ehefrau Freya Klier am 3. Februar 1988 in Bielefeld vor dem Haus des Pastors Martin Braune
Nach ihrer Ausweisung aus der DDR: Stefan Krawczyk und dessen Ehefrau Freya Klier am 3. Februar 1988 in Bielefeld vor dem Haus des Pastors Martin Braune (imago/teutopress)
Klier: Also, das erste Mal wollte ich abhauen. Ich bin gefasst worden und ins Gefängnis gekommen.
Wentzien: Wie alt waren Sie?
Klier: 18. Aber auch dort, muss ich sagen, ist man mir noch positiv gegenübergetreten, jedenfalls nicht noch mal strenger oder noch mal zeigen, also das kann ich dort nicht sagen.

Zweimal im Gefängnis, Fluchtgedanken, Ausbürgerung

Wentzien: Also abhauen heißt, Sie wollten fliehen aus dem Land?
Klier: Ich wollte fliehen aus der DDR.
Wentzien: Das macht man ja nun auch nicht einfach so.
Klier: Das hatte ich in meinem Kopf vorbereitet. Ich wollte aber nach Schweden fliehen. Ich hatte einen Freund in Schweden, in Göteborg. Und der hat das organisiert, dass ich dorthin fliehe, und dort wollte ich überlegen, ob ich dableibe oder ob ich in die Bundesrepublik gehe.
Wentzien: Was ging da schief?
Klier: Ich wurde gefasst an der Grenze.
Wentzien: Das war die junge Freya Klier.
Klier: Das war die ganz junge.
Wentzien: Genau. Und dann sind wir jetzt …
Klier: Und dann bin ich mit Stephan Krawczyk ins Gefängnis gekommen, weil ich ein Verhältnis überhaupt gar nicht hatte zur DDR, da zu bleiben, sondern da hab ich versucht, da zu bleiben, aber einiges zu verbessern. Und das war noch schlimmer, das war schlimmer als abhauen wollen. Und da ist Stephan ins Gefängnis gekommen und ich dann auch.
Wentzien: Das war Hohenschönhausen.
Klier: Ja, Hohenschönhausen, das Stasigefängnis.

„Wenn man draußen war, war man politisch erledigt“

Wentzien: Auf die Verfolgung durch die Staatssicherheit, auf dieses Durchdringen, das ja auch Thema Ihrer Bücher ist und Schriften, kommen wir gleich noch. Lassen Sie uns gerade noch einmal bei der jüngeren Freya Klier bleiben, die mit Stephan Krawczyk und ihrer Tochter …
Klier: Meine Tochter Nadja.
Wentzien: … ausgebürgert wurde. Die DDR hat Sie weggeschoben, und Sie landeten im Westen, das alles 1988 …
Klier: Ein Jahr, bevor die DDR zusammenfiel.
Wentzien: … und gegen Ihren Willen.
Klier: Ja, weil man war damit politisch erledigt, wenn man draußen war. Es war ein Jahr, bevor die DDR wie gesagt zusammenbrach, aber ich wäre gerne in der DDR geblieben und hätte dort was verändert. Das war das Land, in dem ich aufgewachsen war.
Wentzien: Wie muss ich mir das vorstellen, nehmen Sie mich mit – eine Bundesdeutsche mit vielen blinden Flecken in der Geschichte. Sie kommen aus einem Land, wo Sie eigentlich bleiben wollten, unter all den Schwierigkeiten, die dort waren, und landen in dem wohlgesettelten West-Berlin.
Klier: Genau, in Kreuzberg.

Verfolgung durch die DDR-Staatssicherheit auch in West-Berlin

Wentzien: In Kreuzberg. Frau Klier, wie ging das?
Klier: Das konnte man sich nicht aussuchen. Wie gesagt, wir landeten in Kreuzberg. Wir hatten Freunde, die auch aus der DDR kamen und die uns erst mal eine Wohnung besorgt haben, kurz vorübergehend, und dann haben wir in der Wohnung von Roland Jahn gewohnt, der mit seiner späteren Frau in Südamerika war und Urlaub machte. Dort haben wir erlebt, dass eingebrochen wurde, und zwar genau an dem Tag, an dem wir in München waren, Stephan und ich. Wir waren in München, bei dem Verlag, wo ich mein derzeitiges Buch veröffentlicht hab, und Stephan ist mitgefahren, und Nadja, meine Tochter, war da. Die ist in die Schule gegangen, die war auch in West-Berlin, ist klar, aber die war dort, wo ich jetzt wohne, in Steglitz. Und da ist sie in die Schule gegangen, und in der Zeit ist eingebrochen worden.
Da ist alles Mögliche geklaut worden – die wertvollen Sachen natürlich, Unterlagen und so, aber auch Toilettenpapier oder eine Flasche Sekt, sodass man nicht wusste, lange Zeit nicht wusste, wer war das. Waren das irgendwelche Leute, die geklaut haben, oder war das die Stasi? Ich und auch Stephan, wir waren sofort der Meinung, dass war die Stasi, andere Leute waren nicht der Meinung, und Roland war auch der Meinung, es war die Stasi. Der hat übrigens als Erster auch herausgefunden, dass es wirklich die Stasi war, die wollten auch seine Plattenspieler und das, was an Musikgeräten da war, ihm wegzunehmen.
Wentzien: Roland Jahn, der spätere Bundesbeauftragte für die Stasiunterlagen, der unter anderem ja auch eine Abschiebungsgeschichte mit der DDR hatte – die DDR hat ihn auch quasi ausgespuckt, wenn man so will, auch unter obskuren Umständen – und der Journalist und Kollege vom RBB, der auch bei „Kontraste“ gearbeitet hat und dem Thema die ganze Zeit auch verbunden war. Ausgebürgert im Westen, angekommen gegen Ihren Willen, von der Stasi weiterverfolgt, konnten Sie das rekonstruieren, Frau Klier, aufgrund der Akten, die Sie auch eingesehen haben, der Staatssicherheit?
Klier: Ja, das konnte ich, weil die auch keine Ruhe gegeben haben. Es war nicht mit dem Verlassen der DDR getan, sondern eigentlich, solange es die DDR gegeben hat, sind wir auch verfolgt worden, auch hier in West-Berlin.

Produktiver Umgang mit DDR-Ballast

Wentzien: Frau Klier, es gibt Angela Merkel, und zwar deren Rede am 3. Oktober letzten Jahres in Halle an der Saale. Und im Zusammenhang mit dem, was Sie sagen, woran Sie sich erinnern, wenn man die drei Buchstaben DDR ausspricht, hat sie damals in der Rede gesagt, sie hätte Aufsätze gelesen, gefunden, wo sie beschrieben wird, und da sei oft die Rede davon gewesen, dass die DDR so etwas wie Ballast sei in ihrer Biografie und Geschichte – Ballast, also etwas, was einen beschwert, was ja nicht vorwärtsgewandt ist.
Und sie, Angela Merkel, sagt dann wörtlich: „Ich erzähle es nicht als Bundeskanzlerin, ich möchte vielmehr als Bürgerin aus dem Osten erzählen, als eine von gut 16 Millionen Menschen, die in der DDR leben, gelebt haben, die mit dieser Lebensgeschichte in die deutsche Einheit gegangen waren und solche Bewertungen immer wieder erleben.“ Würden Sie, wenn Sie die Summe betrachten aus persönlichen, familiären Beziehungen und Politik, sich auch so wehren wie Angela Merkel, man kann die DDR und die Lebensgeschichte nicht als Ballast bezeichnen, sondern man muss sie wahrnehmen?
Klier: Ja, im Unterschied zu Angela Merkel würde ich das machen, also ich würde sie wahrnehmen. Das heißt, Ballast kann man so oder so sehen, ich empfinde die auch als Ballast, aber nicht als was, was ich mit mir rumtragen muss, sondern womit ich eigentlich produktiv umgehe, so ich das kann.
Wentzien: Diejenigen, die also sagen, die DDR sei Ballast, sehen da auch nicht klar und haben sich auch nicht, sagen wir mal, in diese Menschen, die in der DDR gelebt haben, hineingelebt – das könnte man ja so formulieren.
Klier: Na ja, das war unterschiedlich bei Angela Merkel. Sie ist ja rübergekommen und war erst mal relativ brav, muss man sagen, in der Schule brav, und der Vater war Pastor, und die hat überhaupt nicht aufgemuckt. Das kam erst, als sie ihren zweiten Mann, den jetzigen Mann kennenlernte, da war sie auch renitent und hatte eine andere Position. Das muss man so sagen.
Wentzien: Also sie hat auch einen Weg der Lebensgeschichte in der DDR hinter sich, der zunächst nicht so startete, wie er dann schlussendlich ja auch endete?
Klier: Das ist richtig, der startete nicht so.
Wentzien: Sind wir, wenn wir uns erinnern, zu statisch, also dass zum Beispiel im Jahre 2021 eine Kanzlerin, inzwischen jetzt gewesene Kanzlerin, noch daran erinnern muss, dass jemand sagt, du kommst aus einem Land, und das ist Ballast auf deinen Schultern. Sind wir zu wenig empathisch, zu wenig auf Lebensgeschichten orientiert?
Klier: Das würde ich nicht sagen.
Wentzien: Okay.
Klier: Weil ich sehe es gerade an den jüngeren Leuten, also an meiner Tochter und ihren Freunden.

„Wir müssen stärker persönlich werden“

Wentzien: Frau Klier, das ist gut, dass Sie da eine Summe draus machen. Das ist auch die Erfahrung beispielsweise der Generation, die jetzt wichtig ist für dieses Land, egal in welcher Himmelsrichtung sie lebt. Ich wollte Ihnen erzählen von unserem Landeskorrespondenten in Sachsen-Anhalt, Niklas Ottersbach, der in der Region Bitterfeld-Wolfen unterwegs war und der dort nach der Geschichte von vor 89 eine sehr wichtige, aber auch umweltpolitisch hoch brisante Geschichte gesucht hat, aber eben auch nach Spuren der Transformation in den letzten Jahren. Und er hat zwei Aussagen mitgebracht von Menschen aus der Region, die finde ich ganz bemerkenswert. Er sagt, zum einen hätten ihm dort alle gesagt, uns fehlen die jungen Leute, die aber jetzt langsam zurückkommen …
Klier: Ansiedeln dort wieder.
Wentzien: Also die Zahl der Rückkehrer dort ist größer als die Zahl der …
Klier: Derer, die jetzt weggegangen sind – das glaube ich.
Wentzien: … auch aus Baden-Württemberg, aus Bayern, wo auch immer. Und das Zweite ist, er hat mit vielen Menschen dort gesprochen, die sagen, vielleicht haben wir zu wenig von uns erzählt, also wir brauchen hier keine neue Geschichte, sondern wir müssen von unserem Lebenswillen berichten, von unseren Lebenswünschen und auch von unseren Gefühlen. Gibt es da noch Potenzial nach oben, was sagen Sie?
Klier: Insgesamt oder persönlich jetzt?
Wentzien: Insgesamt, weil das war jetzt praktisch so ein kleiner Ausschnitt. Wenn Freya Klier darauf guckt und hört – und auch über die Schulbesuche, die Sie machen und so, sprechen wir gleich –, ihre Erfahrung mit einspeist: Sind wir zu wenig persönlich und sind wir immer sehr schnell politisch?
Klier: Das ist richtig. Ich denke, wir müssen stärker persönlich werden. Auch ich selbst bin immer wieder auf Menschen getroffen, die mir geholfen haben oder die mir nicht geschadet haben, das ist ja auch schon was wert in einer Diktatur. Und das ist bisher zu kurz gekommen.

Verfolgt: ein Unfall, der keiner war

Wentzien: Sie sind gelernte Schauspielerin, gelernte, studierte Regisseurin, Sie sind Filmemacherin und Sie sind Autorin. Bei uns zu Gast ist Freya Klier, eine multimedial, crossmedial arbeitende Frau. Sie schreiben derzeit an einem neuen Buch, da wollen wir jetzt noch nichts von verraten, ich wollte aber gern über Ihr letztes Buch sprechen mit Ihnen, Frau Klier, und das heißt „Unter mysteriösen Umständen. Die politischen Morde der Staatssicherheit“. Und in diesem Buch sind auch die mysteriösen Umstände enthalten, die 1987 stattgefunden haben. Jetzt machen wir mal kurz die Augen zu, Frau Klier, Sie nehmen uns mit, Sie sind im Auto unterwegs von Berlin nach Stendal. Sie fahren und Stephan Krawczyk …
Klier: Ist Beifahrer.
Wentzien: … ist Beifahrer. Was passiert?
Klier: Es passiert, dass wir gegen eine Mauer prallen – das Auto war manipuliert. Leider sind wir dagegen gefahren und bisschen irgendwie das gestreift haben und dann auf der Straße gelandet sind, und Stephan musste das Auto zurückfahren.
Wentzien: Sie wurden damals, das kann man sagen, auf Schritt und Tritt observiert von der Staatssicherheit. Mehr als 80 Spitzel waren auf Sie angesetzt, das lässt sich rekonstruieren. Und jetzt wird das Bild komplett, und zwar, apropos Geschichte: 2019, drei Jahrzehnte später, passiert etwas, das Sie noch mal an diese Stunden auch hat denken lassen. Da meldet sich jemand, und der komplettiert das Bild.
Klier: Nicht bloß einer, sondern mehrere …
Wentzien: Mehrere?
Klier: … haben sich inzwischen gemeldet – die es betroffen hat.
Wentzien: Also die verursacht haben, dass Sie damals zu Tode kommen sollten. Kann man das so sagen?
Klier: Ja. Die erzählt haben, was da wirklich passiert ist, auch Leute von der Staatssicherheit, die das bereuen, dass sie da mitgemacht haben – nicht alle, aber einige.
Wentzien: Was sagen die, die es bereuen? Wir haben das Thema Erinnerung angesprochen …
Klier: Sie haben geglaubt an das System damals.
Wentzien: Und haben dafür auch die Auftragsentgegennahme von Morden …
Klier: Ja, es sind ja richtig Menschen zu Tode gekommen, Freunde von uns oder Unbekannte.
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„Den Leuten kann man nicht zumuten, dass sie sagen, ich verzeihe denen“

Wentzien: War das auch ein Impuls, dieses Buch zu schreiben?
Klier: Ja, das war ein Impuls, und es war auch einer, dass viele Leute zu mir kamen, um ihre Lebensgeschichte irgendwie aufzunehmen, die umgebracht werden sollten, oder später krank geworden sind erst.
Wentzien: Genau. Das Buch von Freya Klier heißt „Unter mysteriösen Umständen. Die politischen Morde der Staatssicherheit“. Über eines, nämlich das sehr persönliche Kapitel, haben wir gerade gesprochen. Es geht um systematische Mordversuche durch manipulierte Autos wie bei Ihnen, durch Gifte wie Arsen und Zyankali, Vortäuschung von Verkehrsunfällen, Langzeitgifte, radioaktive Stoffe.
Freya Klier auf einem historischen Stasi-Foto und ihr Buch: "Unter mysteriösen Umständen. Die politischen Morde der Staatssicherheit"
Freya Klier auf einem historischen Stasi-Foto und ihr Buch: "Unter mysteriösen Umständen. Die politischen Morde der Staatssicherheit" (Foto: IMAGO / Jürgen Ritter, Buchcover: Herder Verlag)
Das alles, Frau Klier, zeigt in Ihrer Rekonstruktion, dass nicht nur die psychischen Verwüstungen der Stasi fortwirken – Sie lassen das zum Teil an manchen Beschreibungen und mancher Biografie auch offen in dem Buch –, sondern dass wir ja auch eine fortwirkende Macht der Staatssicherheit spüren. Gehen Sie so weit, dass Sie sagen, diese Macht der Staatssicherheit wirkt noch heute?
Klier: Teilweise ja. Teilweise konnten die Menschen das von sich schieben und in dem geschichtlichen Rahmen sehen, in dem das stattfand, aber es ist auch so, dass teilweise die Ausbrüche dann oder die Erkrankung erst später passiert sind. Da waren sie eigentlich schon in Sicherheit. Und den Leuten kann man das auch nicht zumuten, dass sie jetzt sagen, ich verzeih denen, es spielt alles keine Rolle mehr, sondern die haben damit zu tun, gesund zu werden.

Die westliche Seite der DDR-Stasi „noch gar nicht richtig durchgedrungen“

Wentzien: Der Beginn der Rekonstruktion dieser Geschichte der DDR, die Sie aufgeschrieben haben im vergangenen Jahr, ist, dass ganz viele Menschen auch zu Ihnen kamen und Ihnen diese Geschichte erzählt haben. Es sind Dissidenten, es sind Pfarrer, es sind Schriftsteller gewesen, und Sie haben es zusammengetragen, und es sind um die 70 Menschen, die sich Ihnen da auch offenbart haben, die zum Teil jetzt ja selber auch schwer krank sind und immer noch in diesem Kapitel ihres Lebens stecken, wenn man so will.
Ich hab jetzt mal ein Wort von Ihnen aus dem Vorwort mitgebracht, Frau Klier, und ich zitiere. Sie schreiben: „Ihnen möchte ich dieses Buch widmen, diesen Menschen und ihren Freunden und Verwandten. Einige nehme ich genauer unter die Lupe. Ihre Arbeit, ihre Bedeutung für die Unterdrückten in der DDR, das Seltsame ihres plötzlichen Todes. Dabei behaupte ich nicht, was ich juristisch ohnehin nicht beweisen könnte, ich schlage dem Leser lediglich vor, auch diese Variante und deren Logik zu durchdenken.“ Zitat Ende, Freya Klier. Das ist starker Tobak.
Klier: Das ist aber so.
Wentzien: Aber ist es starker Tobak?
Klier: Ja.
Wentzien: Wo Sie aber auch sagen, na, schlussendlich beweisen …
Klier: Kann ich das juristisch überhaupt nicht.
Wentzien: Wie waren die Reaktionen?
Klier: Von wem?
Wentzien: Von allen, die das Buch gelesen haben?
Klier: Sie waren so, wie ich es mir gewünscht habe, dass sie gesagt haben, das war bestimmt irgendwie die Staatssicherheit, die dahintersteht, um irgend jemanden irgendwie auszuschalten.
Wentzien: Sie haben auch Kapitel und Beschreibungen drin, wo ganz klar hervorgeht – wir haben es an Ihrer Person 1988 auch gerade besprochen –, das geschah ja nicht nur in der DDR, sondern es geschah in West-Berlin, es geschah im Westen Deutschlands, es geschah in Israel. Haben wir, Frau Klier – wir schreiben das Jahr 2022 – diese westliche Seite der DDR-Staatssicherheit genügend auf dem Schirm?
Klier: Nee, die ist noch gar nicht richtig durchgedrungen. Es wird noch zu sehr – von Einzelfällen abgesehen –, aber noch zu sehr Stasi gleich DDR irgendwie gesehen und nicht das, was sie im Westen angerichtet haben und auch in anderen Ländern. Das ist zu wenig bisher passiert.

Todesfälle unter ehemaligen DDR-Bürgern im Westen

Wentzien: Wie kann man das anstoßen, also wie kann man auf diese Seite der Staatssicherheit und der deutsch-deutschen Geschichte aufmerksam machen?
Klier: An Fällen. Man muss einfach den Fall nehmen und den richtig angucken. Dann sieht man das oftmals … Ich hab ne ganze Zeit lang Sportler gemacht, Sportler im Westen. Die wurden von westlichen Sportlern rübergeholt, weil sie abhauen wollten, und da war es dann so, dass dann die Stasi die Menschen – also DDR-Bürger ursprünglich - krank machten, dann haben sie es am Herzen gehabt oder sonst wo.
Wentzien: Also der Einsatz von Dopingstoffen beispielsweise.
Klier: Zum Beispiel, Doping, das weiß ich nicht, aber auf jeden Fall so, dass sie nicht mehr richtig ihren Sport machen konnten, Trainer vor allem auch, die aus der DDR kamen, und die sind gestorben.
Wentzien: Haben Sie noch andere Begegnungen, wenn Sie daran denken? Also 1988 Rausschmiss aus der DDR, wenn man so will, dann 1989 die Revolution, die aufgehenden Mauern und anhaltende Staatssicherheit in der Bewältigung, auch in der Geschichtsbewältigung, in dem Versuch, das aufzuarbeiten, aber auch direkte Begegnungen. Haben Sie seither an Ecken und Enden, wenn Sie unterwegs sind im Land, in der Stadt gespürt, dass da noch so etwas wie eine alte Macht ist, eine alte Machtsubstanz?
Klier: Also kaum. Die sind mir gegenüber, aber auch anderen gegenüber, die politisch nicht einverstanden waren in der DDR, sehr zurückhaltend, die begeben sich eher weg als her, jetzt, im vereinten Deutschland, das muss man sehen richtig.

DDR-Stasi hat gelernt „vom großen Bruder“

Wentzien: Wenn Sie diese Geschichte, diese Geschichte eines Geheimdienstes und seiner anhaltenden Spuren betrachten, und wenn Sie dann mit all Ihrer Erfahrung und Expertise beispielsweise auf einen russischen Dissidenten wie Alexej Nawalny schauen, gibt es Parallelen aus Ihrer Sicht – Giftanschläge damals, Giftanschläge heute? Nawalnys Giftanschlag war 2020.
Klier: Ja, das ist, obwohl er in Deutschland war, in der Klinik hier in Berlin, ist er zurückgegangen, das hätte ich an seiner Stelle nicht gemacht, weil es war klar, dass sie versuchen, ihn umzubringen, jetzt als höchsten Punkt, und so ist es jetzt auch gekommen. Der wird nicht ganz direkt jetzt von Putin umgebracht, sondern er kommt genau in so ein Lager, wo das passiert. Das hätte ich nicht gemacht an seiner Stelle. Ich wäre irgendwie in Deutschland oder einem westlichen Land geblieben mit seiner Familie. Aber er denkt, er musste zurückgehen.
Wentzien: Sie sagen, diese russische Geheimdienstarbeit ist der in der DDR sehr nahe.
Klier: Umgekehrt. Es war zuerst in Russland, und dann hat die DDR praktisch gelernt vom großen Bruder.
Wentzien: Und der tut’s noch heute.
Klier: Und der tut’s noch heute, ja.

In den meisten Fällen muss man sagen, die berichten das ganz positiv, also nicht nur ihr eigenes Leben, sondern ich habe gut gelebt da, es gab dieses, es gab jenes, und ich konnte machen, was ich wollte, werden, was ich wollte und so. Und da glauben das natürlich die Kinder und Enkelkinder eher, da hat man auch keine Chance irgendwie.

Freya Klier im Deutschlandfunk

Im geeinten Deutschland – konkurrierende Erinnerungen

Wentzien: Freya Klier war unterwegs in die Politik. Wir schreiben das Jahr 1990, die hessischen Bündnisgrünen stellen Sie als Kandidatin zur Bundestagswahl auf. Wer hat Sie damals überredet?
Klier: Die hessischen Grünen. Ich muss sagen, ich hatte eigentlich nicht die Absicht, in die Politik zu gehen, und die haben mich gefragt, ob ich das nur eine Legislaturperiode machen würde. Und da hab ich gesagt, gut, die eine mach ich, und die dient dann der Aufarbeitung, und danach geh ich zurück in meinen Beruf, der ist spannend genug, also am Theater.
Wentzien: Aber Sie hätten tatsächlich mal so einen Politik-Slot in Ihrem Leben gemacht.
Klier: Ich hätte es gemacht, genau. In der Zeit danach, wo ich dachte, du musst jetzt hier das machen, das ist jetzt dran, und ich hatte auch genügend aufzuarbeiten selber, deswegen hab ich ja gesagt.
Wentzien: Es kam nicht dazu, weil die Bündnisgrünen entsprechend abgeschlossen haben im Wahlergebnis, gar keine Frage. Der Bürgerrechtler Werner Schulz sagt sinngemäß, auch über diese Zeit und vielleicht auch über heute: Die Bürgerrechtler in der Partei haben sich aufgelöst wie Zucker im grünen Tee, wenigstens ist der Tee schmackhafter geworden, aber eigentlich sind sie weg. Warum ist das so, Frau Klier?
Klier: Auf jeden Fall finde ich es erst mal gut, was der Werner sagt, das ist ein schönes Beispiel. Sie sind in der Melange, in der sie jetzt sind, vielleicht Einzelne sind ganz gut und geeignet auch, in die Politik zu gehen, aber nicht als Partei. Sie sind ja damals in den Bundestag gekommen, später, viel später, und ich kenne einige aus der Partei, aber ich weiß nicht, ob die als Partei jetzt irgendwie noch so …
Wentzien: Ich will es schon noch wissen von Ihnen, Sie sind jetzt sehr diplomatisch in Ihren Antworten. Sind die Revolutionäre von damals, sie sind Revolutionäre, im Politikbetrieb der gesamtdeutschen Landschaft gescheitert oder am Politikbetrieb? Frau Klier, seien Sie nicht diplomatisch, bitte!
Klier: Am Politikbetrieb, würde ich sagen.
Wentzien: Weil?
Klier: Na ja, weil ihnen da auch zu viele Knüppel zwischen die Beine geworfen wurden.
Wentzien: Von wem?
Klier: Von denen, die schon da saßen. Es war unterschiedlich, aber so war’s.
Wentzien: Also man wollte ihre frische Luft oder ihre andere Perspektive …
Klier: Nicht haben.
Wentzien: … nicht haben.
Klier: Würde ich sagen, ja.

Freundschaften mit Ex-Bürgerrechtlern, Lesungen in Schulen

Wentzien: Von Werner Schulz ist auch ein Wort. Werner Schulz sagt darüber hinaus: „Sie brauchen Nerven, Geduld und den berühmten langen Atem. Ein Stück davon haben wir den Grünen gegeben, und vielen von uns ist die Puste ausgegangen. Vielleicht bin ich eine besonders resistente Natur, ich habe trotz mancher Zurückweisungen und Verletzungen ausgehalten, weil ich inhaltlich von dieser Partei überzeugt bin.“
Klier: Ja, Werner war ja auch in Brüssel dann als Vertreter seiner Partei, der hat sehr viel Gutes getan, das muss man ihm wirklich lassen. Dass er auch noch witzig ist, das fällt mir jetzt erst auf.
Wentzien: Wenn Sie mir die Landschaft der Bürgerrechtler von damals heute beschreiben, wie muss ich mir das vorstellen? Freya Klier ist in Berlin zu Hause, hier sind, glaube ich, viele andere auch zu Hause – gibt es Netze, gibt es Verbindungen, gibt es Treffen, gibt es Inspiration untereinander?
Klier: Auf jeden Fall, und es gibt auch Netze untereinander. Ich bin zum Beispiel mit Poppes eng befreundet.
Wentzien: Ulrike und Gerd Poppe.
Klier: Ulrike und Gerd – die sind nicht mehr zusammen, aber die sind auch befreundet miteinander und haben auch Kinder zusammen und Enkelkinder zusammen - und andere auch. Ich war auch mit Bärbel Bohley befreundet, und jetzt bin ich nur noch mit Heidi. Die war in Halle zu DDR-Zeiten, da war ich nicht so oft, aber mit der bin ich jetzt zusammen. Die ist in Dresden.
Wentzien: Bärbel Bohley hat ja einen ganz anderen Weg eingeschlagen, die Bürgerrechtlerin, Frau Klier. Sie ist damals nach dem Bürgerkrieg in das frühere Jugoslawien gegangen, hat dort Kinderheime aufgebaut, und sie wollte auch nicht mehr die Galionsfigur sein. Also es gibt auch einige, die sich wirklich von dieser Geschichte, ihrer eigenen Geschichte auch abgewandt haben und gesagt haben, da muss jetzt was Neues her.
Klier: Das ist richtig, das hat Bärbel richtig gemacht – obwohl die ist dann zurückgekommen nach Deutschland, weil sie es da auch nicht so gut fand. Aber da hat sie erst mal ein ganzes Stück irgendwie selber als Pionierarbeit geleistet. Ich muss sagen, ich selber empfinde mich nicht als Galionsfigur. Für manche bin ich das, für andere nicht, und ich will auch nicht mehr das machen, was ich früher gemacht habe.
Wentzien: Und darauf will ich kommen bitte, weil ich behaupte, dass Sie eigentlich doch eine politisch wirkende Frau geworden sind – jetzt nicht unbedingt im Parlament …
Klier: Das ja, nicht im Parlament, aber außerhalb auf jeden Fall.
Wentzien: Sie sind in Schulen unterwegs.
Freya Klier bei einer Lesung
Freya Klier bei einer Lesung (Dirk Vogel / Homepage Freya Klier)
Klier: Jetzt nicht mehr, aber ich war es bisher, bis zum letzten Jahr. Als ich krank wurde, da ging gar nichts mehr, aber bis dahin war ich an Schulen, und das hat mir sehr gut getan, also auch mit der jungen Generation und der zu erzählen von unserem Leben.
Wentzien: Wie muss ich mir das vorstellen, Frau Klier? Das sind ja dann wahrscheinlich historische Unterrichtsstunden oder politische. Wie hat das geklappt, also haben die Lehrer Sie angesprochen, haben Sie die Schulen angesprochen?
Klier: Die Lehrer haben mich angesprochen, ob ich zu ihnen an die Schule komme, und ich war da nur im neunten und zehnten Schuljahr oder elften, zwölften, je nachdem, in welcher Schule das war. Bei Kleineren hat es keinen Sinn gemacht, die waren zu klein einfach. Da muss jemand anderes kommen und muss was anderes machen. Ich habe dann ein Stück gelesen aus meinen Büchern, und dann haben wir Gespräche geführt, das war eigentlich gut, für mich auch sehr sinnvoll.
Wentzien: Wie haben die Schüler reagiert?
Klier: Positiv.
Wentzien: Die Schülerinnen? Aber da kam jemand aus einer anderen Welt, oder?
Klier: Da kam jemand aus einer anderen Welt, der erzählte über eine andere Welt, die Gott sei Dank vorbei ist.
Wentzien: Wie konnten Sie die packen?
Klier: Dadurch, dass das spannend war. Das fanden die spannend und auch nahbar für sie.

„Die noch jüngeren SchülerInnen, die wollen jetzt alles wissen“

Wentzien: Sie sagen, nichts ist wichtiger in dieser Zeit, als über Diktaturen zu sprechen, die ja weltweit numerisch auch auf dem Vormarsch sind. Frau Klier, das Interesse war stark, die Einladungen kamen zu Hauf, Sie waren quasi als Demokratiereisende auch unterwegs – im Westen. Es gab geradezu oder gibt Desinteresse im Osten, warum ist das so, was meinen Sie?
Klier: Also das Interesse ist nicht überall gleich, aber es gibt auch die Schulen im Osten, die gibt’s im Westen nicht, wo die Direktoren oder Lehrer PDS sind oder Linkspartei jetzt. Da werde ich natürlich nicht eingeladen, das ist so. Wenn die Schüler sagen, wir wollen die aber auch haben, dann sagen die, die nicht. Ich kann Ihnen Herrn Gysi empfehlen oder so was, das ist meistens so.
Wentzien: Aber das wäre jetzt ja eine doppelte Geschichte, die Sie mir gerade erzählen, also dass es ein Thema ist, die Bürgerrechtlergeschichte in der DDR, in der BRD und in Gesamtdeutschland, die weggeturft wird – das ist ja das eine, also es ist zu heiß oder zu kompliziert oder …
Klier: Und nur im Osten teilweise.
Wentzien: Genau. Und das andere wäre ja, dass das eben nicht so ist, sondern dass diese Pädagogen ganz bewusst dann eine andere Farbe dieser Lebensgeschichte einladen und die Farbe Klier nicht so gerne auf dem Schirm haben.
Klier: Gar nicht gerne, nee, das gibt’s auch. Aber jetzt, wo die Generation meiner Tochter auch dran ist, das sind die noch jüngeren SchülerInnen, die wollen alles wissen. Natürlich sind das unterschiedliche Typen, die in der Schule sind, und unterschiedliche Erlebnisbiografien, das muss man auch sehen, weil die können nur erzählen, was ihre Eltern oder Großeltern vielmehr berichtet haben. Und das ist unterschiedlich.
Wentzien: Erinnern Sie sich an Fragen der Schülerinnen und Schüler an Sie?
Klier: Erst mal die Schule – da wollten sie erst mal wissen, wieso ich auf die Oberschule durfte. Und da hab ich gesagt, 64 hab ich das achte Schuljahr abgeschlossen. Und auf die Oberschule haben mich damals, weil Frau Honecker noch nicht da war, damals die Lehrer gebracht. So was gab’s eben noch, dass die Lehrer in den Schulen irgendwie mitreden konnten und sagen, die oder den wollen wir schicken zu einer weiteren Lernbereitschaft. Das gab es später gar nicht mehr, als der Honecker da war.
Wentzien: Das war ja auch die Zeit, wo Sie sagten nach dem Fluchtversuch nach Schweden, ich will dieses Land mit aufbauen, hier sind Menschen, die mich wahrnehmen in meiner Individualität, die mir zuhören bei meinen Geschichten. Wenn Sie das vortragen in Schulen, ist das für die Generation nachvollziehbar? Also, dass Sie ja auch ein Leben in der DDR beschreiben, ganz wichtig.
Klier: Ja, das ist nachvollziehbar, da staune ich auch jedes Mal, weil ich ja am Anfang, wenn ich hingehe, da weiß ich nicht, wie geht es, und da freue ich mich dann darüber. Die wollen jeden Abschnitt des Lebens wissen irgendwie, mit Stephan, wie das da gewesen ist, jede Einzelheit.

„Die, die sich die DDR nicht madig machen lassen wollten“

Wentzien: Stephan Krawczyk, Ihr Lebensgefährte, der mit Ihnen ausgewiesen wurde aus der DDR und natürlich an Ihrer Seite war, auch im Hadern, im Fertigwerden damit. Sie haben Presseerklärungen damals geschrieben, weil natürlich die DDR offiziell Sie auch verbrämte und Ihre Ausreise, als wäre es eine gewünschte Ausreise. Sie bilden nicht nur Schülerinnen und Schüler fort, Frau Klier, sondern Sie haben auch Lehrerinnen und Lehrer ausgebildet.
Klier: Das stimmt. Ich hab sie nicht ausgebildet, sondern dieses Stück Geschichte, was sie auch gar nicht kennen, hab ich ihnen beigebracht, das stimmt. Ich hab Lehrerfortbildungsseminare gemacht.
Wentzien: Haben die zugehört, die pädagogischen Fachkräfte?
Klier: Ja, die haben zugehört, und im Westen sowieso, aber auch im Osten zugehört. Vor allem die ersten Jahre, nachdem die DDR weg war, waren sie eigentlich ziemlich offen. Und dann gab’s Einzelne – ne, das lassen wir uns jetzt hier nicht bieten, die DDR derart schlecht zu machen - die gegangen sind, aber im Großen und Ganzen haben die Leute zugehört, die Lehrer.
Wentzien: Aber das gab es auch.
Klier: Das gab’s auch, ja.
Wentzien: Aber nicht kraft eigener Lebensgeschichte, sondern Ihnen nicht zuhören wollten…
Klier: Ja, sich die DDR nicht madig machen lassen wollten. Die gut in der DDR gelebt haben, das muss man auch sehen, die gab’s inzwischen auch.
Wentzien: Gibt es da eine Möglichkeit noch mal der Verständigung, was meinen Sie?
Klier: Nein, das glaube ich nicht. Die sind ja nun raus aus der Generation, höchstens mit den Kindern, dass die Kinder das anders sehen. Aber die kriegen das auch alles erzählt von ihren Eltern oder man muss sagen Großeltern, denn die Eltern sind auch schon nach der Wende geboren. Die kriegen das ganz positiv dargestellt und glauben das auch.
Wentzien: Und meinen Sie, man kommt an diese Generation im eigenen Erzählen heran, weil das ist ja ganz entscheidend, was Sie sagen, Frau Klier. Die sind ja nicht in der DDR aufgewachsen, die sind quasi nachgewachsene, nachwachsende Generationen, die ja DDR-Familien haben. Haben die Großeltern, in der Regel die Eltern eine solche Macht über diese jungen Menschen, diese junge Generation, dass da dieses Wissen so eingetrübt ist?
Klier: Ja, in den meisten Fällen muss man sagen, die berichten das ganz positiv, also nicht nur ihr eigenes Leben, sondern: "Ich habe gut gelebt, es gab dieses, es gab jenes, und ich konnte machen, was ich wollte, werden, was ich wollte." Und da glauben das natürlich die Kinder und Enkelkinder eher. Da hat man auch keine Chance irgendwie, wenn man dann was sagt: "Na ja, Sie haben das anders erlebt als meine Eltern oder Großeltern!"
Wentzien: Ist das gefährlich aus Ihrer Sicht?
Klier: Nee.
Wentzien: Für dieses Land, für diese Demokratie …
Klier: Nee.
Wentzien: … dass Menschen noch so eine Macht haben oder auch Geschichtsbetrachtung bestimmen?
Klier: Nee, eigentlich nicht, weil es sind nicht so viele, und es ist eine Generation, meine Generation, die langsam ausstirbt. Das ist anders jetzt und wird auch teilweise in den Enkel–Kinder-Generationen, die jetzt in der Schule sind, schon anders gesehen, weil andere Mitschüler das auch anders berichten.

„Von Reiner Kunze redet niemand mehr, das finde ich traurig“

Wentzien: Es gibt für diese Geschichtsbetrachtung auch düstere Ansichten. Sie, Frau Klier, vermitteln uns ja, da muss man mit leben und da muss man gegen angehen, da muss man aber auch jemandem vielleicht mal seine Sicht, die auch persönliche Hintergründe hat, lassen. Ines Geipel sagt zum Beispiel – auch eine Bürgerrechtlerin, würde ich sagen: Der Westen zeigt nur Desinteresse, was auch dazu führe, dass sich gerade im Osten Deutschlands eine Renaissance autoritärer Rechter politischer Form etabliere. Würden Sie auch so weit gehen, dass Sie sagen, dass im Osten quasi im Moment an eine autoritäre politische Form angeknüpft wird und dass dafür Mehrheiten da sind aufgrund des Desinteresses im Westen an dieser Geschichte?
Klier: Ja, teilweise ja. Also es ist nicht so extrem, aber das Desinteresse ist da im Westen: Lass mich mit dem alten Zeug in Ruhe, DDR, das ist längst vorbei, und jetzt leben wir in einer Demokratie und so. Da kommen natürlich in der DDR auch Kräfte hoch, die man gar nicht gerne hat, nach vorne, aber ich würde meinen, dass im Westen mehr Interesse doch ganz gut wäre, denn dann gibt’s ein differenzierteres Bild.
Wentzien: Aber wie kann man das wecken, Frau Klier? Sie haben jetzt das Mikrofon, Sie können jetzt appellieren. Wie kann man das wecken, wie kann man Neugier auch wecken, aufeinander? Das ist ja ganz offensichtlich nicht der Fall, dass sich da Generationen dann doch entlang der Geografie Ost und West noch mal in ihren Schneckenhäusern verkaschteln und gar nicht offen sind für Eindrücke und wieder in alte autoritäre Muster zurückfallen. Wie kann man dieses Interesse wecken?
Klier: Na ja, also nur persönlich, glaube ich, indem Menschen sich kennenlernen, einander kennenlernen und dann erzählen von sich oder von ihren Nachbarn oder von anderen, und die halten gegen oder stimmen zu, also auf die Art, denke ich, kriegt man das noch irgendwie gemildert.
Wentzien: Und Sie geben da auch nicht auf? Das höre ich.
Klier: Nö, ich geb nicht auf.
Wentzien: Würden Sie sagen, Deutschland hat die einzigen erfolgreichen Revolutionäre, die das Land jemals hervorgebracht hat, schon zu Lebzeiten fast vergessen?
Klier: Teilweise ja. Wenn ich jetzt zum Beispiel an Reiner Kunze denke, von dem redet niemand mehr, und das finde ich traurig. Das sind Leute, die sich eigentlich bis zum ihrem Lebensende – das ist jetzt bald dran – sich einbringen können und Ost wie West gleichermaßen Diskussionsstoff geben könnten.
Wentzien: Aber mit Revolutionären haben wir das in Deutschland nicht so, oder?
Klier: Nee, nicht so, sondern 1848 das letzte Mal.
„Es gibt Länder, und da muss ich zuerst Russland nennen jetzt – Russland ist für mich ein ganz furchtbares Land, wo Gorbatschow sogar gesagt hat, das setzt nicht dort an, wo es 91 war, sondern es wird der Versuch gemacht, das Ganze zurückzudrehen.“

Vom freien Denken, Reden, Handeln

Wentzien: Frau Klier, als wir uns verabredet haben und in den Tagen jetzt vor der Aufnahme hier gesprochen haben, welche Uhrzeit ist recht, wie kommen Sie hin und her, da sagten Sie: Frau Wentzien, alles klar, wir treffen uns im RIAS. Was bedeutet dieser RIAS für Sie?
Klier: RIAS ist das natürlich früher.
Wentzien: Rundfunk im amerikanischen Sektor.
Klier: Genau, und solange ich noch in West-Berlin war mit Stephan, war das der RIAS. Danach hieß das anders, aber da hab ich immer noch RIAS dazu gesagt und meine Freunde eigentlich auch.
Wentzien: Wir sitzen im historischen RIAS-Gebäude im Deutschlandradio, und ich würde mal sagen, Freya Klier wehrt sich gegen den Trend. Ich kann das auch belegen. Sie haben in einem Ihrer Bücher die Scheinwerfer umgedreht. Sie sagen, guckt noch mal genau hin, West und Ost, es ist immer erzählt, als wäre der eine Teil, nämlich der Westen, über den anderen gekommen, aber wenn wir uns das genau anschauen, zum Beispiel bei der Treuhand, ist es überhaupt gar nicht so. Es hat Fehler gegeben und Kriminalität zu Hauf durch Westdeutsche im Osten, die berühmten Glücksritter, die dann in den Osten ritten, aber dieses Opfernarrativ, diese Opfererzählung widerspricht eigentlich den Fakten. Frau Klier, wenn Sie so was tun, sind Sie unbequem, werden Sie dafür auch angefeindet?
Klier: Wenig. Diese Leute, die mich anfeinden würden, halten sich von vornherein fern von mir, währenddessen, andere sind meiner Meinung, und das ist auch immer noch so.
Wentzien: Warum hat das so Konjunktur gehabt, diese Erzählung, also der Westen nimmt den Osten ein …
Klier: Am Anfang nicht, am Anfang war das nicht so. Am Anfang wollten die Ostler zum Westen gehören, wollten zum gesamten Deutschland gehören. Das hat nach und nach zugenommen, wieder Ostler zu sein, bedauerlicherweise, weil nicht die Identität eine Rolle spielte, sondern oftmals das Politische reinkam. Also es ist dem Osten nicht übergestülpt worden, sondern dann haben sie Versicherungen abgeschlossen, wo ich noch gewarnt hab, schließt die nicht ab, ihr wisst noch gar nicht, was das ist. Und dann musste ich mir im Osten anhören, dass gesagt wurde, Frau Klier, Sie gönnen uns ja nicht mal das kleinste …

Rückhalt durch die Familie und Freunde

Wentzien: Was Sie beschreiben, Frau Klier, und wo ich einfach gerne noch mal nachfragen möchte in Ihrem Leben, Sie waren und sind eine Revolutionärin, so was geht ja nicht vorbei, das hat man oder man hat es nicht. Sie waren und sind ja in der Minderheit gewesen. Sie beschreiben die gesamtdeutsche Werdung quasi ja wie ein auch bewusstes Zusammengehen derer in der großen Mehrheit im Osten, die sich einfach dazu entschieden hat. Dann haben wir im Westen auch Glücksmomente der politischen Rendite quasi zu beobachten gehabt, aber Sie waren immer ein Solitär, also Sie waren immer unter den wenigen. Wie schafft man das? Das bedeutet auch, man muss Kraft haben, oder?
Klier: Na ja, ich richte mich nicht nach den vielen aus, sondern nach Einzelpersonen. Reiner Kunze zum Beispiel ist eine Persönlichkeit, nach der ich mich ausrichte, und da sage ich mir dann, ja, so will ich werden, wie er – und seine Frau ist auch ganz toll.
Wentzien: Was bringen Sie mit – möglicherweise auch aus Ihrer Familiengeschichte, aus Ihrer Familie –, dass Sie an der Stelle wehrhafter waren und/oder einen offeneren Blick hatten auch für Repression als andere?
Klier: Ja, teilweise kommt’s aus meiner Familie, wobei ich sagen muss, dass auch meiner Mutter im Betrieb keineswegs schlecht gegangen ist, da haben sich ihre Kolleginnen und Kollegen vor sie gestellt, wenn die Stasi gekommen ist oder was gefragt hat oder sie bestraft werden sollte für ihre Kinder, mich zum Beispiel und Stephan. Da haben die sich davorgestellt und haben gesagt, nee, die macht eine gute Arbeit, Punkt. Mein Vater, der war sowieso mutiger, dafür hat er ja auch im Gefängnis gesessen in den 50er-Jahren. Manchmal ist es so, dass ich mich an irgendwelchen Leuten orientiere, die eigentlich gut sind, ohne jetzt irgendwie Krawall zu machen.
Wentzien: Aber Sie haben auch die Kraft aus der eigenen Familie, also aus den Widerstandsgeschichten Ihres Vaters, Ihrer Mutter.
Klier: Ja.

Romantisierung für Ostdeutschland „sehr traurig“

Wentzien: Sie selber sind mit Ihrem Bruder, als beide in Haft waren, die Eltern, im Kinderheim gewesen für ein Jahr, und wenn ich das so vermessen fragen darf, begann da die Freya-Klier-„ich widerstehe“-Geschichte?
Klier: Ein bisschen ja.
Wentzien: Das war die Wurzel auch dafür?
Klier: Da war ich ja noch klein, aber da ging’s bestimmt los.
Wentzien: In einem der Bücher – ich spring wieder in die Gegenwart, Frau Klier – haben Sie einen Lehrer aus dem Westen mal beschreiben lassen, der seit 1990 im Osten unterrichtet, und sein Befund ist hoch interessant, meine ich: „Nach 30 Jahren“, schreibt dieser Lehrer, „hat die Romantisierung der DDR zugenommen. Meine Schüler haben zum allergrößten Teil die DDR gar nicht erlebt, sind später geboren, aber viele von ihnen haben ein positives Bild der DDR, ein positiveres als zur heutigen politischen Ordnung. Ein tieferes Verständnis für das bestehende Wirtschaftssystem fehlt, aber als kapitalistisch ist es leicht bezeichnet.“
Klier: Ja, das ist richtig, das hat er richtig beobachtet. Und die Jugendlichen, die da an der Schule sind, die richten sich zwar nach ihren Großeltern, aber die geben das falsch wieder, also die geben nicht das wieder, was wirklich passiert ist, sondern das, was die Großeltern ihnen erzählt haben an Positivem über die DDR. Das ist traurig, das ist sehr traurig, aber das hat der Lehrer richtig beobachtet.
Wentzien: Würden Sie sagen, so was wie diese Romantisierung für Ostdeutschland gibt es auch nach allen Reisen, Frau Klier, bei allen Schulbesuchen, was Sie beobachtet haben, gibt es das auch im Westen?
Klier: Nee, würde ich nicht sagen. So eine Romantisierung ist da nicht, da ist mal das positiv und das negativ, aus Erfahrung je nach Schule unterschiedlich, aber das würde ich nicht … Ich würde nicht sagen, dass es romantisiert wird – ganz im Gegenteil.
Wentzien: Würden Sie sagen, dass dieses, sagen wir mal, Wehrhaftere oder Aufklärerischere im Westen auch durch eine Bewegung wie 1968 gekommen ist, wo ja die Studentengeneration die Väter- und Müttergeneration auch infrage gestellt hat?
Klier: Ja, sicher.
Wentzien: Und, Frage an Freya Klier: Brauchen wir ein 68, ein anderes 68 in Ostdeutschland? Muss sich die ältere Generation von der jüngeren in Ostdeutschland infrage stellen lassen?
Klier: Das mal auf jeden Fall, ja, das finde ich, die muss sich infrage stellen lassen von Jüngeren. Das wird auch gemacht zum Teil. Nicht alle Jugendlichen oder jungen Leute übernehmen das von ihren Großeltern oder Eltern, was sie gesagt kriegen, sondern sie greifen das auch an durchaus, und sie sind wacher als ihre Großeltern. Aber wo das hinführt – vielleicht ist das Thema irgendwie weg.
Wentzien: Aber die Chance dafür wäre ja da.
Klier: Die Chance ist da, ja.
Wentzien: Wenn man von 45 die Zeit bis 68 im Westen betrachtet und jetzt von 89 quasi die Zeit nach vorne gewandt, also es gäbe die Möglichkeit, dass die junge Generation die ältere und deren Geschichte auch selber infrage stellt. Das kann, würde ich jetzt mal behaupten, aber da brauche ich bitte, Frau Klier, mit Ihrer Einsicht, das kann niemand bestimmen oder überstülpen, das muss aus den Menschen selber herauskommen. Könnten Sie sich ein 68 in Ostdeutschland vorstellen?
Klier: Ja.

„Russland ist für mich ein furchtbares, autokratisches Land“

Wentzien: Was passiert in Ostdeutschland, in Westdeutschland, Sie kennen die gesamtdeutsche Landschaft, Frau Klier, wenn Sie auch nach Ihren Auslandsreisen – Sie waren in Finnland, in Ungarn, in Amerika –, wenn Sie auf die gegenwärtige Welt schauen und das, was Sie ja immer wieder gesagt haben, nämlich dass eine Mehrheit, Mehrzahl von Staaten autoritär orientiert ist, ganz anders als zuvor, was passiert da gerade? Wie stark, sagt Freya Klier, ist die Demokratie in diesem Land?
Klier: Es gibt Länder, und da muss ich zuerst Russland nennen jetzt – Russland ist für mich ein ganz furchtbares Land, wo Gorbatschow sogar gesagt hat, das setzt nicht dort an, wo es ‚91 war, sondern es wird der Versuch gemacht, das Ganze zurückzudrehen, wieder als Sowjetunion, was nicht klappen wird. Aber das ist für mich ein furchtbares autokratisches Land, aber es gibt auch noch andere, in der Welt verteilt, auf ganz verschiedenen Teilen der Erde.
Wentzien: Und die Demokratien, sind die herausgefordert, weil – Zeitenumbruch, Zeitenwende – wir ja möglicherweise Demokratie nicht mehr so als Schönwetterveranstaltung erleben werden, sondern möglicherweise auch ganz andere Bedingungen noch durchleben müssen, die wir noch gar nicht erahnen – energiepolitisch, klimatechnisch.
Klier: Ja, das glaube ich übrigens. Wir sind angefragt als Demokratien, uns auseinanderzusetzen mit Energietechnik, wie Sie sagen, oder klimatechnisch, aber das war auch keine Schönwetterdemokratie, fand ich. Ich fand, das war schon anstrengend genug jetzt.
Wentzien: Aber die Bewährungsprobe, diese Bewährungsprobe einer Demokratie, die sich behaupten muss, die steht erst noch bevor.
Klier: Ja, die ist da zugleich und steht uns bevor allen.
Wentzien: Und würde das Freya-Klier’sche elfte Gebot dabei helfen?
Klier: Auf jeden Fall. Auch da musst du dich erinnern, um zu sehen, was findet jetzt statt, was muss in Zukunft stattfinden. Ich denke ja, das würde auf jeden Fall helfen. Du sollst dich erinnern, nicht du musst, du sollst dich erinnern.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

(*) Anmerkung der Redaktion: An dieser Stelle haben wir eine Aussage von Freya Klier gekürzt, weil sie nicht ausreichend belegbar ist.