Günter Wallraff gilt als Deutschlands berühmtester Investigativ-Journalist. Im Dlf spricht er über seine bekanntesten Recherchen, zum Beispiel bei „Bild“ oder McDonalds und gibt Einblick in sein Inneres: „Ich fühle mich Menschen nahe, die geächtet sind.“
Günter Wallraff im Gespräch mit Stefan Koldehoff |
Enthüllen, aufdecken, anecken – Günter Wallraffs Berufsleben, eigentlich sein ganzes Dasein, war und ist unbequem, für ihn wie für viele andere. Als Investigativ-Journalist wurde er weltberühmt, feierte Erfolge, verbrachte aber auch viel Zeit mit Gerichtsprozessen. Die Gegner, die er sich suchte, waren meist von großem Kaliber: internationale Industriekonzerne, globale Fastfood-Ketten, Medienriesen wie der Springer-Verlag. Drei Bücher widmete er einst der „Bild“-Zeitung, stellte sie an den Pranger, nachdem er sich unter falschem Namen als Reporter eingeschlichen hatte. Auch körperlich hat Wallraff sich viel abverlangt, leistete als vermeintlicher türkischer Gastarbeiter gefährliche Schwerstarbeit, ließ sich drangsalieren. Das Rollenspiel, falsche Identitäten wurden zu seinem Markenzeichen. Coups gelangen Wallraff damit auch im Ausland – etwa als er sich in Portugal Mitte der 70er-Jahre als deutscher Waffenhändler ausgab und den früheren portugiesischen Präsidenten, General Spínola, übertölpelte, der im Begriff war, einen Putsch zu initiieren. Wallraffs Engagement und sein Aufklärungswille kannten kaum Grenzen, was ihm durchaus auch Kritik einbrachte. Zu den Konstanten im rastlosen Leben des 1942 geborenen Marathonläufers, Tischtennismeisters und Kajak-Freundes gehört sein Lebensmittelpunkt: seine Heimatregion, die Gegend um Köln.
Das Interview im Wortlaut:
StefanKoldehoff: Herr Wallraff, wir sitzen im Garten Ihres Hauses in der Thebäerstraße im Kölner Stadtteil Ehrenfeld, hier leben Sie, hier arbeiten Sie. Das ist ein Haus, das aber nicht nur für Sie da ist, das war auch schon Exil für ganz viele Menschen – für Geflüchtete, für einen Aldi-Manager, der Ihnen bei Recherchen geholfen hat, Salman Rushdie war hier, Wolf Biermann nach seiner Ausbürgerung. Was steckt da für ein Selbstverständnis hinter, das ist ja nicht der Schriftsteller Günter Wallraff, der da Menschen Asyl gewährt in diesen Räumen.
GünterWallraff: Das ergibt sich so. Ich würde mal sagen, ich fühle mich Menschen nahe, die geächtet sind, das war damals, als Salman Rushdie hier wohnte, eine Zeit, als er auch hier von deutschen Politikern nicht empfangen wurde. Das war für ihn wichtig, der brauchte ja auch Unterstützung, Zuwendung. Das war für mich eine Aufgabe, bedeutende Politiker zu finden, die ihn empfangen haben. Einige waren sofort bereit, Biedenkopf, weiß ich noch, und auch Norbert Blüm, aber unser Bundeskanzler, obwohl seine Berater ihm zugeraten haben, das würde ihm gut anstehen, der ließ dreimal ausrichten, er sehe sich aus politischen Gründen dazu nicht imstande. Das war eine Zeit, als ein Mensch geächtet war, verfolgt war und nicht mal von der Lufthansa befördert wurde. Ich musste eine Privatmaschine chartern, um ihn überhaupt hier beherbergen zu können, aber auch damit habe ich mich dann nicht abgefunden. Ich habe dann über die „FAZ“ einen Aufruf gemacht, wir fliegen nicht mehr Lufthansa, bevor sie diesen Kollegen, der so gefährdet ist, nicht mal selbstverständlich befördern.
Koldehoff: Wer waren Sie denn in dem Moment, da waren Sie ja nicht Schriftsteller, da waren Sie nicht Rechercheur.
Wallraff: Was bin ich denn? Ich bin irgendetwas dazwischen – und das gehört bei mir zusammen, ich kann das auch nicht trennen.
Koldehoff: Würden Sie sagen, dass Sie ein Aktivist sind an manchen Stellen?
Wallraff: Ich weiß es nicht. Wenn es sein muss, kommt bei mir eine Eigenschaft, wo ich auch einiges riskiere. Es gibt so Situationen, wo ich sage, das nehme ich nicht hin und wenn ich dabei draufgehe, dann bäumt sich bei mir etwas auf. Und ich mache Aktionen, die haben erst mal nichts mit Journalismus zu tun. Meine Griechenland-Aktion, als ich dort gegen die Militärjunta protestierte und auch davor ein Testament machte, man musste mit allem rechnen. Das habe ich nicht als Journalist gemacht, das war eine Menschenrechtsinitiative. Und das kann man nicht unbedingt trennen, das gehört dazu.
Als deutscher Waffenhändler in Portugal
Koldehoff: Eine ähnliche Situation war wahrscheinlich die, als Sie sich als Abgeordneter des damaligen bayerischen Ministerpräsidenten Franz Josef Strauß ausgegeben haben, um als angeblicher Waffenhändler über Waffen für Portugal für einen geplanten Putsch dort zu verhandeln.
Wallraff: Das war eine Initiative, die auch etwas bewirkt hat, das war erst mal durch einen Zufall … Vieles ist bei mir durch Zufälle erst mal entstanden, ich bekomme einen Hinweis, es vertrauen sich welche an, es offenbaren sich welche – und dann kommt bei mir ein Impuls, und ich überlege, kann ich das mit meinen bescheidenen Mitteln irgendwie doch in größeren Zusammenhängen sichtbar machen. Und was Spínola anging, der Ex-Staatspräsident, das war Zufall. Ist so etwas Zufall? Ich bin ja Agnostiker. Und inzwischen, wenn ich so zurückblicke, ist das alles Zufall? Ich weiß es nicht, ich muss aufpassen, dass ich nicht am Ende noch zum gläubigen Menschen werde. Ich hatte das jedenfalls gar nicht vor, wir lebten mit einer Kollegin auf einer Kooperative in Portugal, wir wollten das Leben teilen, das ist übertrieben, ich habe mich mit zwei linken Händen da in der Landwirtschaft kaum nützlich machen können, wir waren mehr Chronisten, wie ehemalige Leibeigene ihr eigenes Land bestellten im Alentejo. Und irgendwann habe ich die Idee gehabt, wir fahren mal in den Norden, wo die Terroristen ihre Hochburgen haben, die versuchen, die Revolution hier doch mit Terrorismus zurückzudrehen. Und dann war es wieder Zufall, wir landeten in Póvoa de Varzimin einem Café, wo man wusste, dass sich da auch die Rechten treffen. Und da war ein Aktivist mit einem Schäferhund, ich habe zu Hunden kein Verhältnis, ich bin Katzenliebhaber. Und die Hella war mit Hunden groß geworden, fing an, ganz unbekümmert mit dem Schäferhund zu spielen. Und wie der Zufall es so wollte, das war ein Aktivist dieser Rechtsterroristen. Und der sagt, was ihr da, warum seid ihr hier, ich sage, wir sind nicht von ungefähr hier, wir wollen den Männern, die hier das Land wieder in Freiheit überführen, den wollen wir beistehen.
Zum Glück war Strauß gerade in Südafrika politisch unterwegs, sonst hätte der den getroffen, dann wäre das aufgeflogen.
Und das war der Ansatz, wo wir dann immer weitergereicht wurden in höhere Kommandoebenen, ich kürze ab, und irgendwann waren wir da in den Bergen mit Militärs – und das war es dann auch erst mal. Wer schickt euch denn? Ich habe den Strauß nicht genannt, ich habe nur gesagt, es gibt bei uns nur einen Politiker, der sich für die Freiheit in diesem Lande so einsetzt. Ich wusste noch nicht, dass Strauß wirkliche Kontakte zu Spínola hatte – und zwar engste. Und dann, zurückgekehrt, das war wieder eine völlige Überraschung, kommt plötzlich von den Adjutanten von Spínola, ihr Chef wollte kommen, um mit uns die Waffenwünsche auszuhandeln. Wir hatten ja angedeutet, dass wir alles besorgen könnten, NATO-Waffen und so weiter. Und was ich nicht wusste, dass dann am Düsseldorfer Flughafen mit hochgeschlagenem Mantelkragen, Sonnenbrille und erst im Parkhotel, im Konferenzsaal nimmt der seine Sonnenbrille ab, klemmt das Monokel ein, ich dachte, das kann ja wohl nicht wahr sein, der legendäre Ex-Staatspräsident, General Spínola, das muss ein Fake sein, das muss irgendein Schauspieler sein, aber welcher Schauspieler schafft so etwas. Zum Glück war Strauß gerade in Südafrika politisch unterwegs, sonst hätte der den getroffen, dann wäre das aufgeflogen. Und dann wurden uns anschließend alle bisherigen Terroraktionen genau mit Punkten, in welcher was, welches Büro der Gewerkschaft der Linken gesprengt worden war, welche Menschen sie auf dem Gewissen hatten … Und dann wurden die Waffenlieferungen, die sie von uns bekommen wollten, NATO-Waffen … Das wurde später, irgendwoim Zusammenhang da habe ich es veröffentlicht, ich hatte Schweizer Kollegen, die das auch … Spínola wurde ausgewiesen dann nach Brasilien und die Organisation wurde zerschlagen.
Das hatte übrigens noch ein Nachspiel. Ich bekam erst mal Drohbriefe, ich hätte mich in Sachen eingemischt, die doch eine Nummer zu groß wären, danach wurden meine Arbeitsräume hier in Brand gesteckt und mein ganzes Archiv vernichtet. Das hatte übrigens ein Nachspiel im Parlament. Strauß hat erstmal alles geleugnet, Willi Brandt hatte ihn zur Rede gestellt im Parlament, da hat er erstmal geleugnet, mit Spínola nie etwas zu tun gehabt zu haben. Und nachher hatte ich ja auch die ganzen Beweise, dann hat Strauß sehr schnell eine Kehrtwende gemacht, er sähe keinen Grund, sich mit Personen der Weltgeschichte zu treffen und mit den Putschvorbereitungen hätte er nichts zu tun.
Ich habe mich geweigert von Anfang an, ein Gewehr in die Hand zu nehmen, dann musste ich mit einem Stock hinter den anderen hermarschieren, wenn sie durch die Ortschaften gingen, dann habe ich noch einen Blumenstrauß an den Stock gebunden, hatte die Lacher dann auf meiner Seite
Wallraff und die Bundeswehr
Koldehoff: Hier, haben Sie gesagt, war es mehr oder weniger Zufall. Tatsächlich haben Sie sich aber zu irgendeinem Zeitpunkt ganz bewusst entschieden, dass Sie Dinge herausfinden und auch veröffentlichen wollten. Das ging sehr früh los mit Ihrer Bundeswehrzeit. Da hat man Ihnen angeboten, wir lassen dich raus aus dem Wehrdienst, wenn du uns versprichst, dass du nichts veröffentlichst. Man hat Ihnen abnorme Persönlichkeit und Untauglichkeit für Krieg und Frieden attestiert. Haben Sie das damals aus Auszeichnung eigentlich begriffen?
Wallraff: Ich glaube, das ist der größte Orden und die größte Ehrenbezeugung, die mir jemals verliehen wurde von dieser Bundeswehr damals, die kann man nicht mit der heutigen verwechseln, da hat sich vieles getan. Die war damals noch von Nazis durchseucht, da wurden die alten Kampflieder, die Nazi-Lieder gegrölt, da konnte man eigentlich nur verweigern. Und in dieser Zeit habe ich zehn Monate das Willensbrechungsspiel durchgehalten, habe Tagebuch geführt, habe mir auch Streiche erlaubt, ich war ja noch inspiriert von – als Kind – Till Eulenspiegel, später Schwejk und was spukte da alles noch herum oder schaut mir über die Schulter. Ich habe mich geweigert von Anfang an, ein Gewehr in die Hand zu nehmen, dann musste ich mit einem Stock hinter den anderen her marschieren, wenn sie durch die Ortschaften gingen, dann habe ich noch einen Blumenstrauß an den Stock gebunden, hatte die Lacher dann auf meiner Seite.
Und wenn die anderen morgens zu ihren Gewehrständern flitzten, da steckte in jeder Gewehrmündung eine Feldblume drin – und ich hatte die Lacher wieder auf meiner Seite. Also, solche Spiele, die habe ich dann … Man versuchte schon, mit Willensbrechungsmethoden mir schon zuzusetzen, aber ich war hochtrainierter Sportler, ich war mal Drittbester in der Jugend im Mittelstreckenlaufen, also körperlich war das alles kein Problem. Aber in dem Zusammenhang merkten die plötzlich oder ein Spind wurde aufgebrochen, da waren Schriftwechsel mit der Jugendzeitschrift „Twen“, die damals noch ziemliches Gewicht hatte, die zwei Folgen meiner Bundeswehrerlebnisse veröffentlichen wollten. Dann wurde mir angeboten, ein Revers wurde mir vorgelegt, ich solle unterschreiben, Veröffentlichung gegen die Bundeswehr zu unterlassen, dann käme ich sofort frei und bräuchte auch meinen achtmonatigen Ersatzdienst dann nicht mehr zu machen. Das habe ich abgelehnt und gesagt, dafür habe ich hier doch schon zu viel erlebt, das ist alles von öffentlichem Interesse, bitte lasst mich als Kompanieschreiber hier weiter tätig sein. Dann wurde ich in die geschlossene psychiatrische Abteilung des Bundeswehrlazaretts eingeliefert und dann mit dem Orden und der Ehrenbezeichnung, mit dem Prädikat abnorme Persönlichkeit, für Krieg und Frieden untauglich, in die Freiheit entlassen. Ich kann da heute so locker drüber reden, das war damals schon auch eine gewisse Irritation, sage ich mal. Ich habe dann meinen erlernten Beruf des Buchhändlers nicht mehr fortgeführt und bin erst mal ein halbes Jahr auf Tramp-Tour gegangen und habe in Obdachlosenasylen gelebt – auch mit anderen Ausgegrenzten. Und ich glaube, das war meine Chance, ich glaube, ohne die Bundeswehr, das kann ich heute so sagen rückblickend, wäre meine Arbeit anders verlaufen.
Koldehoff: Das heißt, dass die Verhältnisse Sie letztlich zum Rechercheur und zum Enthüller und zum Aufklärer gemacht haben?
Wallraff: Ja oder das, was mir angetan wurde. Ich war ja auch … Ich habe noch kein Selbstbewusstsein gehabt. Das ist auch heute so, in meinem Berufsstand gehöre ich zu denen, wo das eher … nicht unterentwickelt ist, mir reicht es aus, aber das ist nicht besonders stark, ich muss mich immer wieder neu orientieren und auch neu zurechtfinden, wer bin ich denn.
Wallraffs frühe Reportagen
Koldehoff: Aber recherchiert haben Sie dann ja weiter in Industriebetrieben, in der Arbeitswelt, 1966 erscheint das erste Buch, „Wir brauchen dich als Arbeiter in deutschen Industriebetrieben“, noch mit einem H vor dem Günter Wallraff, das verschwindet dann irgendwann. Kapitel waren am Fließband, auf der Werft, im Akkord, im Stahlwerk. Und im Nachwort schreibt Christian Geißler, die Industrieberichte von Wallraff werden trotz und wegen ihrer merkwürdigen Naivität demnächst zu den wichtigen Veröffentlichungen gezählt werden, die wir zum Thema Bundesrepublik haben. Da hat er sicherlich recht gehabt, Sie sind einer der, wenn nicht der erfolgreichste Sachbuchautor in Deutschland. Aber war das naiv, was Sie da geschrieben haben?
Wallraff: Ich glaube ich bin jemand, der … Sehen Sie, ich habe nicht studiert, ich habe keine fest verwurzelte Ideologie, ich bin ein Suchender. Und ich glaube, wenn Sie es mit der Malerei vergleichen, da bin ich ein Naiver, ein nicht vorher alles Wissender, auf der Suche, immer wieder in einer Selbsthinterfragung, immer wieder irritiert, obwohl natürlich bestimmte Grundsätze da sind – auf Menschenrechten beruhend. Aber ich bin nicht im Besitz der Wahrheit.
Koldehoff: Naivität muss nichts Verkehrtes sein.
Wallraff: Ich sage das auch mit einem bestimmten Selbstbewusstsein, ich sage das nicht als Schutzbehauptung, sondern bekennend.
Koldehoff: Auf der anderen Seite erscheint drei Jahre später ein Band, der „13 unerwünschte Reportagen“ heißt. Da muss Ihnen also schon bewusst gewesen sein: Was ich hier mache, das findet die Gesellschaft nicht so ausschließlich toll, sonst hätten Sie nicht unerwünscht als Titel gewählt.
Wallraff: Es gab immer Prozesse, das hat einen vorübergehend auch nicht abgehalten, aber schon gelähmt, Zeit gekostet, das war manchmal genauso viel Arbeit, die Prozesse zu durchstehen und in der Hauptsache auch immer zu gewinnen, da gehören aber auch gute Anwälte dazu, Freunde, die das am Anfang auch fast umsonst, zum Freundschaftspreis machten. Auch die IG Metall, da war damaliger Chefredakteur Jakob Moneta, jüdischer Herkunft, der auch in der IG Metall um meine Reportagen gekämpft hat, dass sie veröffentlicht wurden. Ich weiß noch, allein die Werft-Reportage, da musste der Chefredakteur mehrfach nach Hamburg fliegen, um die Reportage überhaupt durchzusetzen. Allein das „Bild“-Buch, das waren ja die Hauptprozesse, das hat jahrelang gedauert. Zu meiner Verwunderung und natürlich Riesenerleichterung gab es dann ein Grundsatzurteil vom Bundesgerichtshof, bestätigt vom Bundesverfassungsgericht, wo wörtlich festgeschrieben ist, da es sich bei der „Bild“-Zeitung um eine Fehlentwicklung des deutschen Journalismus handele, müsse meine Methode dennoch legitim sein und die wirtschaftlichen Interessen hätten dahinter zurückzustehen. Und dieses Grundsatzurteil, inzwischen in der Rechtsgeschichte als Lex Wallraff bezeichnet, hat inzwischen auch für andere Kollegen, die nach ähnlichen Methoden vorgehen, eine ziemliche Bedeutung, es hat sich auch Georg Restle von „Monitor“ darauf berufen und auch andere, die ich zum Teil auch berate. Und ich habe ein Stipendium, wo ich mehrere Kollegen, die nach meiner Methode sich längere Zeit mal so etwas antun und noch nicht eine Zeitung oder ein Medium im Rücken haben, die da freigestellt werden.
Koldehoff: Wir sind mit den „Bild“-Recherchen, der Mann, der Hans Esser war, so hieß der Untertitel, in den 70er-Jahren, die Industriereportagen fingen schon in den 60er-Jahren an. War für Sie die Arbeitswelt denn so interessant? Es hätte ja auch andere Themen gegeben, die Wiederbewaffnung, Sie haben die alten Nazis gerade schon selbst erwähnt, die in allen Bereichen von Gesellschaft noch da waren.
Wallraff: Das waren auch Themen für mich, die Nazis tauchen immer wieder auf, das kann die heutige Generation sich nicht mehr vergegenwärtigen, das war eine Zeit, als unsere Gesellschaft, in der ich groß wurde, vom Gestank des Faschismus durchseucht war. Das war eine Zeit, als in der Justiz, im Militär, dem Polizeiapparat, auch bei Medizinern bestimmte Ideologie noch zumindest nicht hinderlich war, sondern beruflich förderlich war. Und jüdische Herkunft, die mussten sich bedeckt halten, die durften noch gar nicht … Die mussten sich fast entschuldigen, verfolgt worden zu sein. Das sollte man nicht vergessen.
Ich war nicht der typische 68er, manche waren mir auch zu militant oder auch zu ideologisch überfixiert.
Koldehoff: Es heißt heute oft, 1968 hat sich da vieles geändert, da ist aufgearbeitet worden, da gab es eine Kindergeneration, die ihre Eltern aufgefordert haben, stellt euch dem, erzählt darüber, fragt euch selbst, was Ihr getan habt, wofür ihr verantwortlich seid. Haben Sie das auch so wahrgenommen, war 1968 eine Wende?
Wallraff: Ich glaube schon, dass da ein Auflehnen und auch eine Art … Sicher mit vielen Übertreibungen … Aber insgesamt war das eine Befreiung. Ich war nicht der typische 68er, manche waren mir auch zu militant oder auch zu ideologisch überfixiert. Die niedersten Weihen waren ja, man musste Marxist sein. Und der Leninist muss zum Trotzkismus und dann der Maoismus und was für Spielarten sich da gegeneinander abgrenzen. Und dann hieß es immer, aber Marxist bist du doch, also du gehörst doch letztlich zu uns? Und auch da habe ich versucht, mich etwas – ich gehörte dazu –, aber mich doch etwas zu entziehen. Ich sage, um mich Marxist nennen zu dürfen, dafür habe ich Marx aber nicht gründlich genug gelesen. Ich hatte den gelesen [*] und ich finde ihn heute in einigen Dingen auch noch aktuell, nicht als Ideologie, aber als Wirtschaftshinterfragung, aber das war eine Zeit, wo mir fast die Spaßguerilla noch am nächsten standen, die allerdings dann zum Teil auch über das Ziel hinausschoss und auch gewalttätig wurde, also Teufel, Langhans, in der Richtung, die Streiche, die die dann drauf hatten.
Undercover bei „BILD“
Koldehoff: Ich glaube, man tut Ihren anderen beruflichen Leistungen keinen Abbruch, wenn man sagt, das Nachhaltigste, bis heute Schullektüre, sind Ihre Recherchen zur „Bild“-Zeitung gewesen. „Ganz unten“ kam danach, da werden wir gleich auch noch drüber sprechen, auch ein wichtiger Teil Ihrer Arbeit. Aber als Sie 1977 drei Monate lang als Redakteur bei „Bild“ in Hannover gearbeitet haben unter dem Alias-Namen Hans Esser, war Ihnen da vorher klar, was Sie herausfinden würden – unsaubere Recherchemethoden, schwere journalistische Versäumnisse – oder war das so eine Art Versuchsballon, ich gucke mal, was da so los ist?
Wallraff: Ich hatte schon eine gewisse – Ahnung ist falsch. Aber ich war nicht ganz unvorbereitet. Derjenige, der mich nämlich dort einführte als sein Nachfolger, der ist daran fast zerbrochen, der wollte das nur zwei Jahre machen, wurde dann aber sehr erfolgreich, zum Spitzenschreiber, man wollte ihn fest einkaufen. Und zur Wiedergutmachung hat er mich als seinen Nachfolger eingeführt.
Koldehoff: Wissend, was Sie vorhatten?
Wallraff: Ja. Er selber hat danach nie mehr etwas im Journalismus gemacht, er wurde dann Therapeut in einer psychiatrischen Klinik. Und er war selbst so angeschlagen durch die Zeit bei „Bild“. Ich muss sagen, auch in meiner Zeit war ich anschließend psychisch ziemlich am Ende. Die Arbeit in Fabriken, vor allem auch bei „Ganz unten“, wo wir in Giftstäuben arbeiteten, wo wir ohne Staubmaske arbeiten mussten, wo ich Bronchienschäden bis heute habe. Ich war damals hoch trainierter Marathonläufer bei Thyssen, lief zwei Stunden und 50 Minuten. Und als ich da diese Giftstaubeinsätze machte, da war ich froh, noch eine Viertelstunde am Stück laufen zu können. Und meine Arbeitskollegen sind zum Teil früh verstorben an Lungenkrankheiten, an Krebs. Bei „Bild“ aber war es die Rolle, die mich am meisten beschädigt hat, psychisch beschädigt hat. In den Dreckeinsätzen, da fühlte ich mich zugehörig, solidarisch mit meinen Arbeitskollegen, mit einigen bestehen heute noch Freundschaften, viele sind verstorben. Aber bei „Bild“ war es wie eine freiwillige Gehirnwäsche.
Koldehoff: Wie war das denn damals eigentlich technisch möglich, das alles zu dokumentieren, es gab ja noch keine Digitaltechnik, Sie konnten nicht einfach ein iPhone mitlaufen lassen oder mit einer Knopflochkamera bestimmte Dinge dokumentieren. Wie ging das?
Wallraff: Ich hatte erst mal alles aufgeschrieben und hatte auch ein kleines Mini-Nagra-Gerät, da es aber auch ein Filmprojekt gab, waren holländische Kollegen … Ach nee, das war damals auch der WDR, Höfer, damals Programmdirektor, hatte auf eigene Kappe genommen, das unter einem Tarntitel als Filmprojekt zu finanzieren, „Informationen aus dem Hinterland“, so hieß der Film. Und da wir ja nun auch aus dem Innenleben Szenen brauchten, und „Bild“ natürlich keinen da rein ließ, da haben wir uns einen Trick einfallen lassen. Da habe ich den Kollegen gesagt, passt auf, ihr sagt, ihr macht einen Film über Zeitungen in Niedersachsen, da „Bild“ erst mal abgelehnt hatte, dort filmen zu lassen. Und dann sind die mit Leerkassette zur „Hannoverschen Allgemeinen“. Und als „Bild“ erfuhr, die sind ja auch bei einer angesehenen Zeitung, dann dürfen wir nicht fehlen, dann kamen die plötzlich, ja, bitte, ihr könnt kommen. Dann kamen die mit zwei Teams in die Redaktion. Und ein Team hat den Redaktionsleiter in ein Dauerinterview verwickelt, das andere schwärmte im Großraumbüro aus und hat da die letzten zynischen Szenen eingefangen. Das ist schon ein Highlight im Film später, der Film wurde übrigens in einem Dutzend Länder gezeigt, nur hier in Deutschland hat „Bild“ dafür gesorgt, dass er hier aus dem Programm wieder herausflog. Der war lange Zeit im Giftschrank. Die Holländer aber, die ihn gesendet haben, die haben ihn mit deutschem Untertitel auch gesendet, damit die Grenzbewohner ihn sehen konnten.
Wallraffs Blick auf Julian Assange
Koldehoff: Sie haben am Anfang des Gesprächs gesagt, ganz oft sind Leute zu mir gekommen und haben gesagt, so und so ist es. Sind die ausreichend geschützt?
Wallraff: Nein, da sehe ich genau das Problem bei meinen Anfängen. Es müsste ein Gesetz geben, dass Whistleblower hinreichend geschützt sind.
Koldehoff: Julian Assange drohen 125 plus X Jahre in den Vereinigten Staaten.
Wallraff: Das ist das Schrecklichste. Ich bin mit seinem Vater befreundet, er war mehrfach hier, ich habe jetzt der Stella Assange – es gibt einen Günter-Wallraff-Preis für kritischen Journalismus und Zivilcourage –, sie hat ihn entgegengenommen. Bei ihm ist wirklich … Man hat so den Eindruck, hier wird jemand geopfert, um auch ein Exempel zu statuieren, dass auch in Zukunft keiner mehr an diese Kriegsverbrechen herangeht, das am Ende aufdeckt. Gerade jetzt, in der jetzigen Situation, in der wir jetzt sind, wäre jemand wie er absolut erforderlich. Der hat auch gegen Russland kritische Sachen veröffentlicht. Der war auf keinem Auge blind, er hat natürlich Sachen, die nachher im Wahlkampf Clinton geschadet haben, da kann man auch drüber streiten, aber er hat alles veröffentlicht und es wurde von allen möglichen Seiten versucht, ihn in eine bestimmte Ecke zu drängen – und das ist er nicht. Die Kriegsverbrechen, die er aufgedeckt hat, die sind nach wie vor nicht verfolgt worden. Stattdessen wird er stellvertretend … Ihm geht es ganz, ganz dreckig.
Ich habe auch mit Nils Melzer Kontakt, der auch ein Buch über die ganzen Hintergründe geschrieben hat, der selber inzwischen mürbe gemacht wurde. Nils Melzer, der ehemalige UN-Beauftragte für Folter, er beschreibt das auch. Wenn wir uns treffen, sagt er, es wurde versucht, seinen Ruf zu zerstören, weil er den Mut hatte, das alles aufzudecken und auch mit Psychiater-Kommission bei Assange in der Zelle war, die dann auch Psychofolter bei ihm diagnostiziert haben. Der Mann ist gebrochen und würde er ausgeliefert, würde er das nicht hinnehmen, bei ihm ist ganz starke Suizidgefahr da.
Koldehoff: Die „Bild“-Zeitung ist nach wie vor eine der meistverkauften Zeitungen in ganz Europa, auch wenn die Auflage kontinuierlich nach unten geht im Moment. Ehemals sehr, sehr links aktive Menschen wie Alice Schwarzer machen Werbung für Springer …
Wallraff: Ich glaube, inzwischen auch nicht mehr, gebranntes Kind, sie hat wohl auch verstanden …
Koldehoff: Hat man Sie mal gefragt, ob Sie das auch inzwischen wollen würden?
Wallraff: Nein. Ich glaube, die Alice, ich kenne sie ja von früher auch sehr gut, wir waren befreundet, als sie hier aus Frankreich kam. Das hat mich auch entsetzt, als sie plötzlich auch gegen Kachelmann da vorverurteilt hat und so … Aber ich glaube, das hat sie eingesehen, ich glaube, sie würde das nicht noch einmal machen.
Koldehoff: Haben Sie der „Bild“-Zeitung geschadet, hat es etwas gebracht, wenn man das mal aus Ihrer Perspektive betrachtet?
Wallraff: Davon gehe ich aus, das wissen die auch selber. Das ist bei denen inzwischen verinnerlicht. Ich habe das ja nicht mit den Büchern … Das waren ja drei Bücher, die ich denen gewidmet habe, erst mal „Der Aufmacher“, als dann die Prozesse nur so hagelten und das Buch immer weiter zensiert wurde, erst durch die letzte Instanz konnte es dann wieder unzensiert erscheinen. Dann gibt es „Zeugen der Anklage“, ein zweites Buch, wo sich sehr viele Betroffene gemeldet haben, dann noch „Bildstörung“. Und ich würde sagen, das zweite Buch geht noch weit über den „Aufmacher“ hinaus, über meinen Selbstversuch hinaus. Es hat denen enorm geschadet, ich habe auch mit dafür gesorgt, habe Gegenzeitungen entwickelt, die wir in die Verkaufskisten, in die „Bild“-Zeitung mit reingelegt haben, Aufklärung. Diese Fälschungen …
Und dann Initiativen, wir lesen nicht mehr „Bild“-Zeitung, da haben Hunderttausende damals unterschrieben, auch Politiker waren damals dabei. Und die Auflage von „Bild“ ging vorübergehend um eine Million zurück, auch „Bild“-Chefredakteure anschließend sagten, es gibt bei uns eine Zeit vor und nach Wallraff, wir können uns bestimmte Sachen nicht mehr leisten. Das war eine Zeit lang so, irgendwann haben ja die wieder voll zugelegt, und ich würde sagen, die Fälschungen, wie ich sie damals erlebte, die waren so unverfroren, die konnten die Welt neu erfinden, sie konnten bestimmen. Und das war immer vom rechtesten Schrot und Korn, die rechtesten Politiker, also nicht Nazi-Politiker, aber sie versuchten auch Strauß zum Bundeskanzler zu machen, das haben sie allerdings nicht geschafft, aber das ist heute etwas relativiert. Und auch dass jetzt ein Reichelt wegen Privatverfehlungen gekippt wurde, nicht wegen seiner Rufmordgeschichten, das finde ich wieder bedauerlich.
Koldehoff: Vor uns auf dem Tisch bei Ihnen im Garten liegt eine unzensierte Originalausgabe, ein Raubdruck dieses Buchs „Der Aufmacher – Der Mann, der Hans Esser war“. Als jemand, der von Tantiemen und Urheberrechten lebt, können Sie das eigentlich nicht toll gefunden haben, dass Ihre Bücher einfach nachgedruckt wurden, damit sie verfügbar waren.
Wallraff: Ich habe Raubdrucke immer gefördert. Mir war immer wichtig, gerade dann, wenn etwas verboten werden sollte, es sollte wirklich bekannt gemacht werden. Und es gab mehrere Raubdrucke in hohen Auflagen. Ich glaube, eines wurde sogar hier in Köln vom Kölner Volksblatt …, davon haben die sogar ihre sonstigen kleineren mit...
Koldehoff: Hat man Sie vorher gefragt, dürfen wir das, Herr Wallraff?
Wallraff: Nee, das nicht, das haben die tunlichst nicht gemacht, ich habe das aber gerne gesehen. Ich weiß sogar noch, das war eine Veranstaltung in Süddeutschland, da saß ein junger Buchhändler aus der Schweiz, der verkaufte den Raubdruck, vorne war der Tisch mit der offiziellen Version. Und ich habe für den sogar noch Werbung gemacht, ich habe gesagt, das ist paradox, die hiesige Ausgabe, die offizielle, da ist ja alles verboten. Und da sitzt ein Buchhändler aus der Schweiz und verkauft die unzensierte Ausgabe, wo all das, was auch stimmt, veröffentlicht ist. Als dann die Autogramme anstanden, war eine Riesenschlange mit dieser Ausgabe von dem Schweizer Buchhändler.
Undercover bei McDonalds
Koldehoff: 1983, auch fast 40 Jahre inzwischen her, erschien „Ganz unten“. Sie waren als angeblicher türkischer Arbeiter Ali Levent Sinirlioğlu unter anderem bei McDonalds, bei Thyssen gewesen, hatten dort gearbeitet, haben auch das wieder akribisch dokumentiert, die Arbeitsverhältnisse dort. Mir ist es noch in Erinnerung geblieben, weil ich natürlich damals begeisterter McDonalds-Geher war, das war noch neu, dass die Menschen dort keine Taschen in den Hosen haben durften, um keine Trinkgelder einzustecken. Und wenn am Grill die Nase lief, hatte man leider auch kein Taschentuch zur Hand. Aber das waren natürlich die kleineren Dinge, die Sie aufgezeigt haben. Auch da haben Sie sich juristischen Anwürfen ausgesetzt gesehen, nicht nur durch die Firmen. Es gab plötzlich auch Kolleginnen und Kollegen, einer vom Bayerischen Rundfunk beispielsweise, die versucht haben, nachzuweisen, der Wallraff hat vieles erfunden, der war bei bestimmten Veranstaltungen gar nicht, bei denen er gewesen sein wollte. Wie kam das denn plötzlich, dass es nicht mehr die Angegriffenen selbst waren, sondern Journalistinnen und Journalisten, die Ihnen da ins Zeug flicken wollten?
Wallraff: Es gab eine ganze Kette von Prozessen, ich habe die – bis auf zwei Nebensätze Thyssen betreffend – alle gewonnen. Und gerade McDonalds hatte einen riesigen Umsatzeinbruch, gerade Jüngeren ist der Appetit so vergangen über die ekelhaften hygienischen Dinge. Dann haben die prozessiert. Und in München war ein Prozess angesetzt, ich habe daraufhin über Annoncen weitere Zeugen noch gesucht, da haben sich Dutzende gemeldet. Ich hatte einen Bus organisiert, um diese Zeugen in München zu präsentieren, daraufhin haben die ganz schnell einen Rückzieher gemacht – und ich konnte das Buch auch unzensiert weitergeben. Es hatte aber zur Folge, dass das Buch in insgesamt 38 Übersetzungen erscheint, in allen möglichen Ländern, aber nicht in den USA, weil in den USA durch den Prozess, der von McDonalds erst mal angestrengt war, wurde meinem Verlag abverlangt, sie müssen wegen Schadenersatzforderungen in voller Höhe ins Obligo gehen. Man weiß, was das in den USA für Summen sind. Dann haben die gesagt, nur in der Höhe der zu erwartenden Auflage. So ist das Buch zwar in England erschienen, aber nicht in den USA. Hier habe ich es meinen Arbeitskollegen bei Thyssen zu verdanken, die in einem monatelangen Prozess eigene Erlebnisse, die über das hinausgingen, was ich dargelegt habe … Und dazu kam, dass wir hier einen Justizminister hatten und einen Innenminister in Nordrhein-Westfalen, SPD, die das zur Chefsache machten und diesen Konzernen auf die Finger schauten.
Alleine Thyssen musste ein Bußgeld von 1,2 Millionen bezahlen, Mannesmann auch. Und fortan wurde in diesen Betrieben auch das Verursacherprinzip angewandt. Das habe ich erreicht, dass die dann eben nicht mehr sagen konnten, das sind hier die Subunternehmer, die die Verantwortung haben. Nein! Da, wo das passiert, da ist die Firma verantwortlich. Das gilt bis heute so, von daher wurden sehr bald dort … Ohne Staubmasken arbeiten, wir bekamen keine Sicherheitsschuhe, keine Schutzhelme und zum Teil waren Kollegen, die 16 Stunden, drei Schichten mit zwei, drei Stunden Schlaf hintereinander machen mussten. Das wurde seitdem alles kontrolliert, dann wurde noch hier vom damaligen Innenminister Heinemann in Nordrhein-Westfalen eine sogenannte Ali-Gruppe gebildet, die diesen Konzernen Kontrollbesuche abstattet. Das heißt, das Buch hat unmittelbar auch neben einer allgemeinen Zuwendung türkischen Einwanderern gegenüber, da hat sich vieles geändert.
Koldehoff: Trotzdem noch mal die Frage, wie haben Sie es empfunden, dass plötzlich andere Journalistinnen und Journalisten kamen und sagten, der Wallraff arbeitet nicht sauber?
Wallraff: Das hat mich überhaupt nicht verwundert. Wenn hier das bayerische Fernsehen, das war auch die Zeit, als Strauß noch ziemlich Bedeutung hatte, wenn dann einer kommt, ein Chefredakteur, der geradezu verbissen in mich war, der war mir als ständig auf den Hacken, wo ich auch auftauchte. Ich weiß noch, als ich eine Stiftung in Duisburg gründete von den Honoraren, eine ganze Straße wurde damit renoviert, auch durch die Stadt Duisburg. Meine Arbeitskollegen haben diese Straße sich ausgeguckt, die wollten nicht im letzten Dreck wohnen, sondern da, wo die Luft besser ist. Ich habe dort 1,5 Millionen an Honoraren in die Renovierung gesteckt. Eines Morgens komme ich hin, um den Arbeitskollegen und den dortigen Bewohnern das Modell vorzustellen, da sitzt da schon mit Kamera Herr Heinz Klaus Mertes, der bayerische Chefredakteur.
Koldehoff: „Report“ hat der damals, glaube ich, verantwortet unter anderem.
Wallraff: Zum Beispiel, ja. Aber dann gab es eine wirklich befreiende Geschichte. Mir wurde von einem Zuträger des Bundesnachrichtendienstes das Angebot gemacht, für 3.000 bar auf die Hand würde er mir sagen, wo Mertes mir eine Falle stellen würde. Da war eine Großveranstaltung hier in Düsseldorf im Beisein des hiesigen Justizministers von Nordrhein-Westfalen, der jemand war, der die Berechtigung dieser Recherche ansah. Und in diesem Jahr waren welche ein paar Hundert Leute verteilt, wie erkennen wir jetzt Mertes, wie hat sich Mertes verkleidet. Da war einer, der ein bisschen auffällig war, der hatte so ein Fantasie- und khakifarbenes Dress an. Und dann hatte mir aber schon jemand Zettel gereicht, Mertes sitzt in der und der Reihe, während einer schon hinter ihm saß und sah, wie er aufschrieb, Wallraff bekommt Zettel gereicht. Dass er damit enttarnt war, das wusste er natürlich nicht.
Die Schlange der Autogrammsuchenden, dann steht Mertes vor mir. Ich bin aufgestanden, er hatte so einen etwas gezwirbelten Schnauzbart. Ich habe es riskiert, habe daran gezogen und habe ihn wie einen Skalp geschwenkt und habe gesagt, Herr Mertes, veranlasst Sie hier, sich hier so kenntlich zu machen. Dass Sie ja sehr rechts eingestellt sind, das weiß jeder, aber hier in so einer Art Nazi-Uniform zu erscheinen … Und dann war der … Ich gab diesen Schnauzbart dem Jörg Gfrörer, dem Regisseur des Films, das ist ein sehr lieber Mensch. Mertes läuft rot an und schreit, das ist Diebstahl, der gehört meiner Schwester! Und der Jörg gibt den Schnauzbart dem Mertes wieder, und ich hätte so gerne einen Prozess geführt wegen des Diebstahls des Schnauzbarts der Schwester des Herrn Mertes. Das war mir leider nicht vergönnt. Aber der WDR hatte das alles gefilmt, und der Kollege bekam nachher sogar einen Preis dafür.
Koldehoff: Und das Ziel wäre gewesen, zu dokumentieren, Wallraff gibt selbst Rechtsradikalen Autogramme?
Wallraff: Ja, ja, freundliche Autogramme. Ich habe das auch mit Namen gemacht, welchen Namen? Bayerle nannte er sich, der Kleine aus Bayern, Bayerle. Danach übrigens, muss ich sagen, gab es noch einen Rufmord-Kommentar von Herrn Mertes in den „Tagesthemen“. Da waren damals Stasi-Vorwürfe, dann sollte der WDR einen Kommentar dazu abgeben. Da war das auch schon vorbereitet, als sich in der Programmkonferenz Mertes einschaltete, Chefredakteur noch, und sagte, da bin ich aber schon drin in dem Thema – und dann hat er diesen Kommentar dann selber gesprochen. Ich muss sagen, das war vom Feinsten, das war ein Rufmord-Kommentar, der war so triefend von Hass, es war für mich eine Erleichterung. Nachher hat Pleitgen sich entschuldigt, hat gesagt, das wird nie wiederholt, wir wussten ja nicht, dass Mertes mit Ihnen bereits in Prozessen verwickelt ist, er hat ein Buch geschrieben, wo ich einige Sachen untersagen wollte. Dann habe ich Pleitgen gesagt, bitte senden Sie diesen Kommentar einmal im Jahr als wirklich vollendetes Beispiel eines Rufmord-Kommentars. Leider nie mehr gesendet worden.
Die Stasi-Unterlagen
Koldehoff: Stichwort Stasi: Sie sind als IM Wagner geführt worden in Stasi-Unterlagen, Sie tauchen dort auf. Daraus ist dann eine Zusammenarbeit, eine wissentliche, willentliche Zusammenarbeit bei manchen geworden. Was ist das für eine Geschichte, erzählen Sie sie aus Ihrer Sicht!
Wallraff: Gut, wir leben in einem Rechtsstaat, ich habe dann anschließend auch dagegen prozessiert, weil es kam ja auch von einer bestimmten Seite – und habe den Prozess auch gewonnen. Also, ich bin kein IM, wurde aber in einer Akte so geführt. Es gibt inzwischen auch historische Dokumente, wo ganz klar draus hervorgeht, was der Zweck war, weil es gab einen von der Pressekammer, wo ich damals vorstellig wurde wie auch Klarsfeld und andere, die sich da über NS-Unterlagen informieren wollten. Und ich war damals an einem Fall dran, das war ein damals noch einflussreicher Mann, Dr. Ludwig Hahn, der war an Juden-Verfolgungen und Liquidationen im Warschauer Ghetto beteiligt, aber sein Schwager war ein hochstehender NATO-General, Steinhoff, und er wurde lange Zeit gedeckt und lebte in Freiheit. Und da erfuhr ich, dass sein Untergebener, Blösche, vor Gericht stand in der DDR in Berlin, und ich wollte über diesen Kontakt auch an Ludwig Hahn heran.
Ich habe auch mit dem Staatsanwalt, das wurde vermittelt über einen Mitarbeiter des sogenannten Presseamtes, der sich nicht vorgestellt hat, dass er im Hintergrund auch Stasi-Kontakte hatte, über den habe ich dann auch … Die Akten habe ich alle noch, die kommen jetzt auch ins Stadtarchiv von Köln. Und ich habe daraufhin diese Recherchen geführt. Dass der aber ein natürliches Interesse hat, das Ganze auf eine andere Ebene zu bringen, so taucht in den Akten, in diesen Stasi-Akten steht drin, Wallraff lässt sich nicht vom marxistisch-leninistischen Standpunkt leiten, er ist Anhänger der katholischen Soziallehre und hängt anarchistischen Vorstellungen an. Nach allen Einschätzungen müssen wir davon ausgehen, dass Wallraff am Ende für einen westlichen Geheimdienst arbeitet. Die kriegten mich nicht auf die Reihe. Da gab es einige Gespräche, und dann hatte ich noch einen Freund, der mit der Familie befreundet war, meine Frau mit seiner Frau, das war ein Kulturredakteur der „Ostseezeitung“. Und mit dem hatte ich auch mehrere Gespräche gehabt, dass er auch inzwischen von IM-Seite angedockt wurde, das hat er natürlich mir nicht preisgegeben. Aber das war … Wann war das überhaupt, 1971, 1972, das waren vielleicht vier, fünf Gespräche. Und es hat sich einer besonders hervorgetan, es gibt jetzt ein Buch, das wurde mir zugeschickt von einem höheren Stasi-Menschen dieser Abteilung, der in seinem Buch genau beschreibt, wie das gelaufen ist, also mich im Grunde genommen voll entlastet. Aber es ist immer wieder versucht worden, daraufhin eine Abhängigkeit herzuleiten.
Koldehoff: Man entwickelt als Journalist ja relativ schnell ein Gespür dafür, warum erzählt mir jemand etwas, was will der jetzt eigentlich, geht es um die Sache oder will der mich irgendwie vor einen Karren bekommen oder in irgendetwas mit reinziehen. Würden Sie denn rückblickend für sich selbst sagen, Sie haben irgendwann mal Grenzen überschritten oder Sie hätten besser mit Leuten vielleicht nicht zusammenarbeiten sollen, gab es so etwas auch?
Wallraff: Ich wollte ja etwas von denen, die wollten ja nichts von mir. Ich bin ja dahin, um an bestimmte Unterlagen, bestimmte Akten heranzukommen – wie auch Klarsfeld und andere. Und von daher gesehen, wir hatten leider so etwas wie Gauck-Behörde, Birthler-Behörde, Stasi-Unterlagen-Behörde, das hatten wir nicht. Wir konnten nicht hingehen und sagen, wo sind hier NS-Vergangenheiten, leider, muss ich sagen. Dann hätte man nicht nach Ost-Berlin oder andere nach Prag oder Moskau reisen müssen, um sich da bestimmte Unterlagen zu besorgen oder diese einzusehen. Das war letztlich die Hauptrecherche. Dann war eine zweite Recherche zu ABC-Kriegsführung, das habe ich aber dann, da mir das zu schwerlich war, einem Kollegen, Karl Heinz Roth, glaube ich, der hat auch ein Buch darüber geschrieben, aber ich selber … waren es vier, fünf Kontakte.
Neue Wege, neue Themen
Koldehoff: Der investigative Journalismus boomt – nicht zuletzt, seit das Internet, seit Online-Medien immer mehr Inhalte brauchen, sogar die „taz“ hat eine eigene Recherche-Redaktion. Würden Sie sagen, dass das die Zukunft des Journalismus ist, was Sie seit vielen, vielen Jahrzehnten machen, aufdecken, enthüllen, analysieren?
Wallraff: Ich würde schon sagen, dass das inzwischen Kollegen sind, die das vorbildlich machen, übrigens auch Nachfolger im Ausland. Es ist jetzt gerade eine Sache verfilmt von der Florence Aubenas, die sich auch auf mich berufen hat, die gesagt hat, ohne die hohe Auflage von „Ganz unten“ in Frankreich, über eine Million, wäre sie gar nicht auf die Idee gekommen, sich hier in prekären Arbeitssituationen umzusehen – und dann auch meisterhaft das zu beschreiben. Dann gibt es einen jüngeren Kollegen, den treffe ich demnächst auch, der sich auf mich beruft, der innerhalb der französischen Polizei ganz schlimme Zustände … Da sind die hiesigen Polizisten wohl noch Waisenknaben dagegen, was da Ausländerfeindlichkeit und so weiter betrifft. Da habe ich auch ein Vorwort gemacht für dessen Buch. Es gibt in Mexiko Lydia Cacho, die ich mal auf einem Seminar getroffen habe, die sich auch auf meine Arbeit beruft, die Frauenhandel, Menschenhandel … Das ist auch in alle möglichen Sprachen übersetzt. Und es gibt in Italien einen Kollegen, der da auch schon Klassiker geworden ist, es gibt einen afrikanischen Kollegen, den habe ich auf einem Workshop in Johannisburg kennengelernt, der ist in Afrika inzwischen einer der legendären investigativen Journalisten. Also, ich habe Nachfolger in allen möglichen Regionen – und so langsam hoffe ich auch hier auf einen, der das übernimmt.
Koldehoff: Könnte noch etwas passieren, könnte noch mehr werden in Deutschland?
Wallraff: Ich habe auch selber ein Format, „Team Wallraff“, das ich im Privatfernsehen sende.
Koldehoff: Das hat viele gewundert, dass Sie zum Fernsehen gehen, was hat Sie daran gereizt?
Wallraff: Das hat natürlich eine ganz andere Wirkung, eine viel stärkere Überzeugungskraft – und es erreicht diejenigen, die keine Bücher mehr lesen, das werden leider immer mehr. Von daher erreiche ich auch nicht mehr die eigentlichen Adressaten, nämlich Arbeiter auch in Betrieben. Dann bin ich auf diesen Sender, RTL, zugegangen und habe gesagt, ob sie sich so ein Format vorstellen können und auch Werbekunden nicht geschont werden. Das ist im Vertrag festgeschrieben.
Koldehoff: Zuletzt waren es privatisierte Altenpflegeheime, erschütternde Bilder, handwerklich, wie ich finde, sehr gut gemacht, immer die Möglichkeit zur Gegenrede, zum Audiatur et altera pars, wie sehen die Angeschuldigten selbst das Ganze. Und das hat natürlich in Bild und Ton noch mal eine andere Wirkung, als wenn Sie es, in Anführungsstrichen, nur beschrieben hätten in einem Buch.
Wallraff: Ja, das hält bis heute an. Ich habe wirklich selten so einen Rücklauf, es kommen jeden Tag Hilferufe an von Betroffenen, von Angehörigen, auch von Pflegepersonal, die sagen, wir können gar nicht den Menschen die Zuwendung geben, wir sind zum Teil Praktikanten, es sind Menschen, die überhaupt nicht ausgebildet sind. Wir wissen von hinten bis vorne nicht, wie wir dem gerecht werden können – und wir zerbrechen daran. Es sind Hunderte, die sich jetzt nachträglich noch gemeldet haben, eigentlich müsste man ein Schwarzbuch veröffentlichen, weil es ändert sich nichts. Das sind aber renditegeführte Heime, wo der Profit im Vordergrund ist und wo Einsparungen an der Tagesordnung sind, wo dann nach einer bestimmten Zeit das Ganze irgendwo im Ausland gewinnbringend verkauft wird. Wir müssten eigentlich ein Modell haben wie Dänemark, das haben wir auch gefilmt, vorbildliche Zustände, kommunal verantwortlich und für alle Beteiligten nur von Vorteil.
Und wenn ich mich als Schwarzer in einen Fan-Zug begebe von deutschen Hooligans, die mich da zur Strecke bringen wollen, wenn das filmisch dokumentiert ist, was das bedeutet, als Schwarzer hier zu leben, wenn es auch satirische Einlagen gibt, wo ich versuche, eine Wohnung zu bekommen, dann ist das absolut legitim.
Koldehoff: Sie selbst sind in diesem Fernsehformat in die Rolle des Mentors, aber auch des Befragenden gewechselt, Sie sind nicht mehr selbst aktiv vor Ort. Ich glaube, bestimmte Methoden, derer Sie sich bedient haben, würden so auch nicht mehr gehen. Wenn Sie sich heute als Türke schminken oder als Man of Colour verkleiden würden, würde man Ihnen vorwerfen, Herr Wallraff, das geht nicht mehr, das ist Blackfacing, das können Sie so nicht machen.
Wallraff: Also das Blackfacing, wenn das auf meine Methode angewendet wird, ist das vordergründig, weil bei mir ist es erstens begleitet, ermutigt von hier lebenden Schwarzen. MouctarBah war der beste Freund von Oury Jalloh, der in einer Polizeizelle in Dessau verbrannt wurde. Der brachte mich mit auf die Idee und hat auch innerhalb der ganzen Zeit mir mit Rat und Tat zur Seite gestanden. Und wenn ich mich als Schwarzer in einen Fan-Zug begebe von deutschen Hooligans, die mich da zur Strecke bringen wollen, wenn das filmisch dokumentiert ist, was das bedeutet, als Schwarzer hier zu leben, wenn es auch satirische Einlagen gibt, wo ich versuche, eine Wohnung zu bekommen, dann ist das absolut legitim. Und ich habe bis heute die Zustimmung von hier lebenden Schwarzen. Und wenn das so einseitig unter diesem Begriff … Das war auch nicht nur eine dunkle Farbe, ich habe das fast eingebrannt. Ich hatte zuerst vorgehabt, ein Medikament zu nehmen, was bei Sonnenstrahlung die Haut ganz dunkel macht, aber derjenige, der das schon mal gemacht hat, ein Armenarzt aus den USA, der ist danach an Krebs erkrankt. Als ich das erfuhr, dachte ich, es muss ein anderes Verfahren geben. Das war etwas, was so tief in die Haut ging, dass man es auch unter der Dusche und so weiter nicht mehr abbekam. Ich habe in einem Asylbewerberheim damit übernachtet, neben wir war ein Somalier, mit dem ich mich dann auch anfreundete. Der sagte, du siehst aus wie mein Onkel. Also von hier lebenden Schwarzen wurde ich angenommen. Es gab aber einige, die daran Anstoß nahmen. Und wenn das ideologisch inzwischen als verboten, als Tabu gilt, dann wäre das eigentlich ein Berufsverbot für meine ganze Arbeit.
Koldehoff: Was wäre denn ein Thema, das Sie heute noch reizen würde, auch noch einmal selbst aktiv zu werden? Haben Sie da ein kleines Notizbuch, in dem noch drei, vier Punkte stehen?
Wallraff: Da möchte ich jetzt lieber nicht drüber reden, da habe ich schon noch was vor.
Koldehoff: Also wir hören auch noch in aktiven Rollen von Ihnen?
Wallraff: Ich hoffe, dass es gelingt und dass mir noch ein paar Jahre bleiben.
[*] Einen Fehler im Transkript des Mitschnitts des Interviews haben wir korrigiert.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.