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Zugewanderte Schüler
Heterogene Klassen fordern die Schulen heraus

Sie kommen aus Syrien, dem Iran und Irak, aus Bosnien, Griechenland und der Türkei – zugewanderte Kinder, die nicht nur in eine ihnen fremde Kultur, sondern auch in das Sprachbad Deutsch eintauchen. In internationalen Klassen versuchen viele Schulen, die heterogene Schülerschaft mit der deutschen Sprache vertraut zu machen - denn die ist der Schlüssel zur Integration.

Von Dörte Hinrichs | 24.03.2016
    Kinder einer Willkommensklasse nehmen in Berlin in der Leo-Lionni Grundschule am Deutschunterricht teil.
    Kinder einer Willkommensklasse nehmen in Berlin in der Leo-Lionni Grundschule am Deutschunterricht teil. (picture alliance / dpa / Britta Pedersen)
    Doch wie muss sich der Unterricht verändern, welche erfolgreichen Konzepte aus der Bildungsforschung werden aufgegriffen und wie werden Lehrer für diese Aufgabe aus- und fortgebildet? Die Deutsche Schulakademie sieht angesichts der vielen Flüchtlinge hierzulande auch die Chance, dass sich die Schulen und das Schulsystem insgesamt weiterentwickeln - zugunsten aller Schüler. Wir sprechen mit Bildungsforschern und begleiten Lehrer und zugewanderte Schüler beim sprachsensiblen Unterricht.

    "So, wie viele sind das jetzt? Zähl doch mal durch."
    "Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben, acht, neun."
    "Neun Punkte für Kathrin. Schreibt ihr neun für Kathrin an? Sehr schön!"
    "Ich schreibe Worte, Thema: Frühling. Und ich schreibe Sonne, Grün, Baum, Blumen, warm, Gras, Vögel und Schmetterling."
    "Die Aufgabe ist, aus den einzelnen Puzzleteilen Wörter zu einem bestimmten Thema zu finden. Oder manchmal machen wir das auch mit Substantiven, mit dem Artikel 'der' oder 'die', also, um die Artikel zu schulen. Das kann man alleine oder in Mannschaften spielen, das geht auch mit jedem Lernniveau, um den Wortschatz einzuschleifen, machen wir das."
    Dienstag Vormittag in der Internationalen Klasse im Stadtgymnasium Köln-Porz. Lehrerin Antje Petersen schreibt den Punktestand der Spielrunde an die Tafel. Die Tische davor sind in U-Form aufgestellt, hinten in der Ecke des großen Klassenraums steht ein gemütliches grünes Sofa, an den Wänden hängen Landkarten und Plakate mit Wortsammlungen zum Thema Frühling. Klassischer Frontalunterricht ist hier eher die Ausnahme. Die Schülerinnen und Schüler arbeiten in kleinen Gruppen, nach dem Stand ihrer jeweiligen Deutschkenntnisse.
    Sprachförderung als Schlüsselkompetenz zur Integration
    Binnendifferenzierung heißt das Fachwort. In der Praxis bedeutet dies, dass die Schülerinnen und Schüler so individuell und spielerisch wie möglich die Deutsche Sprache erlernen - eine Schlüsselkompetenz zur Integration. Zwölf Schüler aus ganz verschiedenen Nationen treffen hier aufeinander, alle mit dem Ziel, sich in Deutschland einzuleben, das Land, die Menschen und die Sprache kennenzulernen. Eine von ihnen ist die 14-jährige Kathrin:
    "Ich komme aus Syrien, ich bin in Deutschland fünf Monate, aber in diese Schule drei Monate. Ich spreche arabisch, englisch, russisch und ein bisschen deutsch. Ich habe normale Klasse 8a, ich habe da Mathe und Englisch und Sport und Musik. Ich verstehen alles, aber in Mathe neue Vokabeln, ich musste die Vokabeln erst lernen und dann verstehen."
    Kathrin war zunächst in der Turnhalle der Schule untergebracht, die momentan als Flüchtlingsunterkunft genutzt wird. Der Sprung von der Turnhalle in das dazugehörige Gymnasium ist für die meisten Flüchtlingskinder aber alles andere als naheliegend. Denn Kinder aus Zuwandererfamilien landen überproportional häufiger in Hauptschulen und seltener an Gymnasien als nicht zugewanderte Schüler, haben empirische Studien ergeben.
    Die Internationale Schulklasse am Stadtgymnasium Köln-Porz
    "Wenn ein Kind nach Deutschland, nach Köln kommt, muss es zu allererst zum kommunalen Integrationszentrum gehen mit seinen Eltern. Dort wird geschaut, wenn Zeugnisse noch vorhanden sind aus dem Heimatland, dann werden die natürlich betrachtet, auch verschiedene Tests gemacht, ist das Kind lateinisch alphabetisiert, dann gibt das kommunale Integrationszentrum eine Empfehlung ans Schulamt weiter.
    Das Kind ist ein Gymnasialkind, war im Heimatland ein Gymnasialkind, und dann wird natürlich auch hier versucht, dass das Kind eine Chance hat, das Gymnasium zu besuchen. Mit der Empfehlung guckt das Schulamt, ist ein Gymnasium in der Nähe, wo auch noch Platz ist in einer internationalen Klasse, denn es sollen nicht mehr als 18 sein. Und dann schicken sie uns den Schüler oder die Schülerin."
    Mathias Fehn leitet seit zwei Jahren die internationale Klasse am Stadtgymnasium Köln-Porz. Insgesamt 1.200 Schülerinnen und Schüler gehen hier zur Schule, ca. 60 Prozent von ihnen haben einen Migrationshintergrund. Vor fünf Jahren hat man hier angefangen, gezielt Kinder und Jugendliche aus anderen Ländern in einer internationalen Klasse zu unterrichten.
    Die 10-16-Jährigen aus Syrien, Iran, Irak, Nigeria, der Ukraine, Griechenland oder Türkei sprechen alle mehrere Sprachen. Nur die deutsche Sprache ist ihnen zunächst noch sehr fremd. Doch die Schüler sind sehr motiviert und lernen schnell, freut sich Mathias Fehn, der neben Englisch und Musik auch das Fach Deutsch als Zweitsprache studiert hat.
    Er und seine Kolleginnen müssen immer flexibel auf das jeweilige Sprachniveau ihrer Schüler reagieren. Denn im laufenden Schuljahr kommen immer wieder neue Kinder hinzu, andere sind von heute auf morgen in eine andere Stadt oder in einen anderen Stadtteil gezogen. Der Einstieg der zugewanderten Schüler in den deutschen Schulalltag erfolgt am Stadtgymnasium Köln-Porz nach einem bestimmten Schema:
    "Das heißt, schon nach ein paar Wochen im Deutschkurs gehen die Schülerinnen und Schüler in eine Regelklasse, meistens ihrem Alter entsprechend und gehen da schon zum Sport oder Englisch-Unterricht, sie gehen zum Kunst- oder zum Musikunterricht, haben Mathematik, also Fächer mit denen sie auch schon mit geringeren sprachlichen Kenntnissen schon gut mitmachen können, das ist einfach der Integration geschuldet. Und mit zunehmenden Deutschkenntnissen, in den anderen Stunden, wenn ihre Regelklasse dann Erdkunde, Physik, Chemie, Biologie hat, kommen sie dann zu uns in den Deutschkurs."
    Heterogenität im Klassenzimmer als pädagogische Herausforderung
    So setzt sich die Internationale Klasse fast jede Stunde aus anderen Schülern zusammen. Insgesamt fünf Pädagogen unterrichten abwechselnd in der Klasse, in Ausnahmefällen sind sie auch mal zu zweit und werden von Referendaren oder Praktikanten unterstützt. Dann können sie gezielter in verschiedenen Lerngruppen auf die Schüler eingehen. Eine Herausforderung ist die Arbeit in einer solchen Klasse aber allemal, so Mathias Fehn:
    "Wir haben am Anfang auch wirklich gekämpft bis wir einen Fuß am Boden hatten, denn die Strukturen sind völlig anders als in einer normalen Schulklasse. Dadurch, dass es so unglaublich heterogen ist, dass wir eigentlich immer nur mit Binnendifferenzierung arbeiten können. Aber mit der Zeit lernt man eben die Verfahren, die funktionieren und man wird auch schneller und man kriegt bei allem, was man tut, auch immer gleich die Idee, O.K., wie mache ich das für die, die sprachlich noch nicht so weit sind, wie baue ich das aus für die aus, die sprachlich weiter sind."
    Die Situation in Köln-Porz ist typisch für viele Schulen in Deutschland, wo tagtäglich Schülerinnen und Schüler verschiedener Nationen unterrichtet werden - teilweise mit traumatischen Fluchterlebnissen und ungewissen Bleibeperspektiven. Doch wie kann angesichts dieser Herausforderung guter Unterricht gelingen? Auf welche Erfahrungen kann man aufbauen und welche Unterrichtsmethoden haben sich als erfolgversprechend erwiesen?
    Die Deutsche Schulakademie fördert die Schul-und Unterrichtsentwicklung
    Antworten auf diese Fragen versucht die Deutsche Schulakademie zu finden, eine bundesweite, unabhängige Institution für Schulentwicklung und Lehrerfortbildung. Die Akademie wurde im letzten Jahr von der Robert Bosch Stiftung und der Heidehof-Stiftung gegründet, die auch seit zehn Jahren den Deutschen Schulpreis vergeben. 2015 hat die Gesamtschule Barmen in Wuppertal den Hauptpreis gewonnen.
    Die Expertise der Gewinnerschulen will die Deutsche Schulakademie an möglichst viele Schulen weitergeben. Unterstützt von Wissenschaftlern werden erfolgreiche Konzepte aus der Praxis aufbereitet und Fortbildungsangebote organisiert. Professor Hans Anand Pant, Geschäftsführer der Deutschen Schulakademie, sieht angesichts der Heterogenität in deutschen Klassenzimmern auch die Chance, dass sich die Schulen grundsätzlich weiterentwickeln:
    "Durch die Massivität und Akutheit des Flüchtlingsstroms auch an Schulen geschieht etwas, was seit mehreren Jahrzehnten nicht passiert ist: nämlich, dass durchgängig durch alle Ebenen plötzlich neue und kreative, nicht formale Lösungen gesucht werden müssen. Das heißt, der ruhige, lange Fluss des deutschen Schulsystems wird massiv in Bewegung gebracht. Und das heißt, man könnte auch fast davon sprechen, dass die deutsche Bildungsverwaltung und deutsche Bildungspolitik jetzt integriert werden muss in eine globale Situation. Und nicht umgekehrt, dass Kinder, die aus allen Teilen der Welt kommen, integriert werden müssen in das deutsche Schulsystem."
    Die Deutsche Schulakademie setzt auf lernende Schulen durch Netzwerkbildung:
    "Wir haben ein Programm das heißt 'Anderssein ist Normal', das ist ein Netzwerk, wo Schulen die Urzelle sind von einer Fortbildung, die immer in Schulen stattfindet und die konzeptionell so aufgebaut ist, dass immer ein Teil des Kollegiums und ein Teil der Schulleitung daran teilnimmt und die sozusagen eine bis zu zweijährige Fortbildung machen, um sich auseinanderzusetzen mit den eigenen Problemen, mit heterogen zusammengesetzten Klassen zu arbeiten, Fremdheitsgefühle bei sich selber zu erkennen und auch kommunikativ verfügbar zu machen."
    In den Kollegien einiger Schulen muss allerdings noch Überzeugungsarbeit geleistet werden, damit der Unterricht der veränderten Schülerschaft angepasst wird:
    "Viele Lehrer haben natürlich zunächst eine Reserviertheit, weil sie eine eigene Haltung haben zu fremden Menschen, fremden Kulturen. Jeder kennt das und da anzusetzen und zu schauen: Und was bedeutet das für die Unterrichtsgestaltung, welche Konzepte auf der Organisation von Personal, von Kooperation im Kollegium sind sinnvoll, um mit diesen Schülerschaften gut umzugehen?
    Das lernen die und dann gehen die selber als Fortbildner in weitere fünf Schulen rein jeweils pro Schule, um das in den Schulen von Schulen für Schulen, sozusagen im peer-to-peer-Ansatz zu verbreiten. Und Sie glauben gar nicht, wie viel wirksamer oder wie viel motivierter andere Schulen sind, wenn das von Kollegen, also von Gleichgestellten versucht wird zu vermitteln, die geschult sind, als wenn es von einer externen Stelle kommt."
    Erfolgreiche Konzepte im Sprachlernunterricht
    Was wirklich konkret im Unterricht wirkt, welche Konzepte beim Erlernen der deutschen Sprache erfolgversprechend sind, damit beschäftigt sich auch Professor Michael Becker-Mrotzek, Direktor des Mercator-Instituts für Sprachförderung und Deutsch als Zweitsprache an der Universität Köln:
    "Das eine ist ja die erste Phase, wenn die Kinder und Jugendlichen zu uns kommen und überhaupt kein Deutsch können, da kann man viele Elemente aus dem Fremdsprachenunterricht übernehmen: also viel mündlich machen, viel in den Kontext einbetten, aber natürlich müssen auch der Wortschatz und die grammatischen Strukturen am Anfang erworben werden."
    So hat auch Hassan angefangen, der vor zweieinhalb Jahren aus der Türkei nach Deutschland gekommen ist. Während seine Mitschüler am Stadtgymnasium Köln-Porz Französisch oder Lateinunterricht haben, besucht er die Internationale Klasse, um sein Deutsch weiter zu verbessern:
    "Vorher hat es mir schwergefallen die Grammatik und die Artikel, aber jetzt macht es Spaß, hier weiter zu lernen und weiter zu kommen. Es gibt so ein Artikelspiel, das spielen wir immer und das finde ich cool, das spiel ich immer gerne. Gleich werde ich weggehen zu Physik. Man muss sich immer anders konzentrieren. In Physik arbeiten wir mit Experimente, in Chemie auch."
    Sprachsensibler Unterricht und flüssiges Lesen
    Dem Fachunterricht zu folgen, ist für Schüler ohne gute Deutschkenntnisse besonders schwierig. Lehrerin Antje Petersen hat sich fortgebildet in Deutsch als Zweitsprache. Sie weiß, dass zugewanderte Schüler der Internationalen Klasse auch in allen Schulfächern auf sprachsensiblen Unterricht angewiesen sind. Konkret bedeutet das:
    "Dass man zum Beispiel die Artikel mit auf die Arbeitsblätter schreibt. Dass man einen Sachtext zu einem Fachthema, das relativ anspruchsvoll ist, dass man die neuen Fremdwörter schon vorher thematisiert und nicht einfach den Text so rein gibt und viele sich die Zähne daran ausbeißen und auch schnell frustriert sind."
    Die Lehrer lernen von den Kollegen, aber auch die Schulen bekommen gezielte Unterstützung. Professor Michael Becker-Mrotzek:
    "Was wir aktuell haben ist das große Bund-Länder-Programm "Bildung durch Sprache und Schrift" (BISS), was ja darauf setzt, diese Bildungsungleichheit, die wir immer noch beobachten können, dadurch abzubauen, dass man sehr gezielt den Schulen Programme anbietet, wie sie ihren Unterricht und ihre Schule weiterentwickeln können.
    Ein Beispiel ist, dass wir wissen, die Leseflüssigkeit ist eine wichtige Voraussetzung, dass man flüssig einzelne Buchstaben, Wörter und Sätze lesen kann. Dass man Texte verstehen kann. Von daher ist ein Beispiel von BISS, dass man den Schulen sagt, probiert doch mal in bestimmten Klassen aus, was passiert, wenn Kinder so ein Flüssigkeitstraining machen, damit sie sich überhaupt auf längere Texte einlassen können und wollen auch."
    "Farben schütteln, mit der Schere trennen, Spitze abschneiden und jede Farbe in einen anderen Becher füllen."
    In der internationalen Klasse am Stadtgymnasium Köln-Porz lesen die Schüler abwechselnd vor aus einer Bedienungsanleitung für das Färben von Ostereiern. Mehrere Tische wurden zusammengeschoben und mit Zeitungspapier bedeckt. Es dauert nicht lange, bis die ersten Eier in bunten Farben schillern und mit lustigen Gesichtern verziert sind.
    Antje Petersen, die normalerweise Englisch und Spanisch unterrichtet, genießt es hier, ohne Notenzwang und in kleineren Gruppen, die Schüler aus aller Welt mit der deutschen Sprache und mit typischen Ritualen vertraut zu machen.
    Deutsch als Zweitsprache in der Lehrerausbildung
    Nicht nur die Lehrer müssen ihren Unterricht der heterogenen Schülerschaft anpassen, auch die Kultusministerien haben Hausaufgaben zu erledigen. Die Inhalte der Lehrerausbildung an den Universitäten wandeln sich langsam, um den aktuellen Erfordernissen gerecht zu werden.
    "In den meisten Bundesländern ist es mittlerweile so, dass Deutsch als Zweitsprache Bestandteil der Ausbildung ist. In einzelnen Bundesländern wie in Berlin und NRW verpflichtend für alle Lehrer, in anderen Bereichen ist es eine Querschnittsaufgabe wie in Baden-Württemberg, da wird es so gemacht, auch in Niedersachsen, d.h. es kommt heute keiner, der ein Lehramtsstudium hinter sich gebracht hat, ohne diese Kenntnisse in die Praxis. Die sind allerdings eher im Umfang einer Sensibilisierung.
    Darüber hinaus brauchen wir wirklich auch, und da ist Bayern das einzige Bundesland, das das anbietet, dass man Deutsch als Zweitsprache anstelle eines weiteren Faches studieren kann. Das könnten dann solche Sprachexperten sein, die dann entsprechende Konzepte an den Schulen umsetzen."
    So wie es zum Beispiel der Lehrer Matthias Fehn am Stadtgymnasium Köln-Porz macht: Mit den sprachlich versierteren Schülern übt er gerade das Argumentieren:
    "Der Kellner hat Kleidung eine Schürze der Pilot hat auch sehr teuer, ein Polizist trägt immer so eine Kugelweste kugelsichere Weste ja, immer so Waffen."
    Und am Nachbartisch bei Lehrerin Antje Petersen haben die Schüler auch beim Ostereierfärben Fortschritte gemacht:
    "Die Eier mit einem Esslöffel rausnehmen, mit Küchenpapier abtupfen und trocken lassen. Wer Glanz mag, reibt die Eier mit Öl oder Fett ein. Fröhliche Ostern!"