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Der Weg zum "Luxemburger Abkommen"
Vor 70 Jahren verhandelten Israel und die Bundesrepublik über "Wiedergutmachung"

Als am 21. März 1952 Gespräche zwischen der Bundesrepublik und Israel über eine materielle Entschädigung für das NS-Unrecht begannen, erregte das in beiden Ländern massive, teils gewaltsame Proteste. Doch die Regierungen ließen sich nicht beirren.

Von Matthias Bertsch | 21.03.2022
Linkes Bild: Bundeskanzler Konrad Adenauer bei der Unterzeichnung des Wiedergutmachungsabkommens. Rechts neben ihm: der Leiter der deutschen Verhandlungsdelegation, Boehm. Rechte Bildhälfte: Nahum Goldman Chef der israelischen Verhandlungsdelegation bei der Unterzeichnung. Im Vordergrund links der israelische Außenminister Moshe Sharett.
10. September 1952 in Luxemburg: Bundeskanzler Konrad Adenauer (ganz links) und der israelische Chef-Unterhändler Nahum Goldman unterzeichnen das Wiedergutmachungsabkommen - Ergebnis eines halben Jahres schwieriger Verhandlungen (picture alliance / AP)
"Das deutsche Volk hat in seiner überwiegenden Mehrheit die an den Juden begangenen Verbrechen verabscheut und hat sich an ihnen nicht beteiligt!"
Als Bundeskanzler Konrad Adenauer im September 1951 im Bundestag eine Regierungserklärung zum Umgang der Bundesrepublik mit der Vernichtung der Juden im NS-Staat abgab, betonte er zunächst die Unschuld weiter Teile der deutschen Bevölkerung und ihre Hilfsbereitschaft gegenüber ihren jüdischen Mitbürgern.
"Im Namen des deutschen Volkes sind aber unsagbare Verbrechen begangen worden, die zur moralischen und materiellen Wiedergutmachung verpflichten, sowohl hinsichtlich der individuellen Schäden, die Juden erlitten haben, als auch des jüdischen Eigentums, für das heute individuell Berechtigte nicht mehr vorhanden sind.“

Vor der Knesset flogen Steine

Die von Adenauer angekündigte Wiedergutmachung traf keineswegs auf ungeteilte Zustimmung. CDU und SPD unterstützten sie zwar prinzipiell – schließlich war sie nicht nur für das eigene Selbstbild wichtig, sondern auch für die internationale Anerkennung Deutschlands. Doch die Frage des finanziellen Umfangs war höchst umstritten, zumal die Vorbereitungen für die Londoner Schuldenkonferenz liefen, auf der über die Rückzahlung der Hilfen aus dem Marshallplan verhandelt wurde. Viele Deutsche lehnten Verhandlungen mit Israel und der Jewish Claims Conference, dem Dachverband Jüdischer Organisationen in der Diaspora, ab. In Israel fielen die Proteste deutlich drastischer aus, betont der Historiker Michael Wolffsohn, vor allem die Opposition um Menachem Begin wies Verhandlungen mit dem Land der Mörder kategorisch zurück.
"In der Knesset gab es im Januar 1952, als über die Aufnahme von Verhandlungen diskutiert wurde, tumultartige Szenen, die Begin-Anhänger marschierten vor die Knesset, es flogen Steine, und es bestand tatsächlich damals bei den Akteuren der Regierung die Angst vor einem Bürgerkrieg.“

Begins Aufforderung, ein Abkommen mit allen Mitteln zu verhindern, blieb nicht ohne Konsequenzen. Anhänger des späteren israelischen Ministerpräsidenten verschickten eine Briefbombe an Adenauer, bei deren Entschärfung Ende März 1952 ein Sprengmeister ums Leben kam. Wenige Tage zuvor, am 21. März, hatten bei Den Haag die Verhandlungen über ein Wiedergutmachungsabkommen begonnen.

Israels pragmatische Verhandlungsziele

"In Israel hieß das ganz einfach und heißt das heute noch: Schilumim. Das kommt von dem Wort Le Shalem: zahlen. Also die Übersetzung hieße: Zahlungen, die Zahlungen der Bundesrepublik Deutschland an Israel, ein wertefreier Begriff. Begriffe sagen sehr viel. Die Bundesrepublik wollte Wiedergutmachung leisten, es war ihr wichtig, um ein gutes Image zu haben, das war für die deutsche Seite wichtig, für die Israelis war wichtig, den pragmatischen Charakter zu zeigen.“

Und Pragmatismus hieß für den israelischen Premierminister David Ben Gurion vor allem, der ökonomischen Realität im gerade einmal knapp vier Jahre alten jüdischen Staat ins Gesicht zu sehen. Denn, so Michael Wolffsohn:

„Der Staat pfiff finanziell aus dem allerletzten Loch, der Staat war pleite, Geld gab es nirgends, die Diaspora-Juden haben nicht viel gesammelt. Es gab sowieso nur die in Amerika, die waren weitgehend nicht zionistisch orientiert. Die Administration der Vereinigten Staaten hat auch nichts überwiesen, weder Geld noch Waffen – wird auch oft vergessen. Es blieb als einziger möglicher Geldgeber die Bundesrepublik Deutschland.“

Das Luxemburger Abkommen von 1952

Und so wurde – nach sechs Monaten zäher Verhandlungen, die immer wieder zu scheitern drohten – im September 1952 in Luxemburg ein Abkommen unterzeichnet, das Geld und Waren im Wert von 3,5 Milliarden Mark vorsah. Der Großteil der Lieferungen sollte Israel bei der Eingliederung jüdischer Flüchtlinge unterstützen, knapp 500 Millionen Mark erhielt die Claims Conference. Der Leiter der israelischen Delegation, der in Stuttgart aufgewachsene Felix Schinnar, nannte das Abkommen rückblickend eines der denkwürdigsten der Menschheitsgeschichte.

"Obwohl es sich um die Regelung eines materiellen Schadens handelte, stand hier selbstverständlich zur Diskussion die Wiederbegegnung zwischen dem deutschen Volk und dem israelischen Volk nach der Zeit des Unrechtes und der Gewalt unter Hitler.“
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1965 wurde die letzte Rate aus dem Luxemburger Abkommen getilgt. Im selben Jahr nahmen Israel und die Bundesrepublik offiziell diplomatische Beziehungen auf.