Barbara Schmidt-Mattern: Cem Özdemir, herzlich willkommen beim Deutschlandfunk. Heute geht eine Woche zu Ende, in der Europa wieder von einem Terroranschlag getroffen worden ist. Unter anderem in Barcelona kamen Menschen zu Tode oder wurden schwer verletzt, nachdem ein Lieferwagen mit hoher Geschwindigkeit mitten durch eine Menschenmenge gerast ist. Sie haben den Anschlag noch am Donnerstagabend verurteilt. Sie haben aber auch gesagt, es gibt keinen absoluten Schutz vor Terroristen. Nun ist für viele Wähler hier in Deutschland, gerade so kurz vor der Bundestagswahl, wichtig zu wissen: Was tut der Staat, um seine Bürger zu schützen gegen den Terror? Ich erinnere an den Anschlag auf dem Breitscheidplatz, den wir alle in Erinnerung haben, im vergangenen Dezember in Berlin und gebe diese Frage, die viele sich im Moment wieder stellen, gleich an Sie weiter. Herr Özdemir, Sie als Grüne, Sie als Spitzenkandidat, wie wollen Sie den Terror in Deutschland konkret bekämpfen?
Cem Özdemir: Also, erst mal mein Beileid an die Familien und die Angehörigen, die dort ihre Liebsten verloren haben. Und ich hoffe, dass die, die jetzt verletzt sind, bald hoffentlich wieder genesen und vollständig genesen. Aber es ist leider schon so, dass - die Terroristen suchen sich ja nicht umsonst genau solche Ziele aus, weil sie maximal Angst verbreiten wollen und uns natürlich auch zeigen wollen, dass wir nirgendwo sicher sind. Also, was wir tun müssen, das tun unsere Sicherheitsbehörden - nicht nur in Deutschland -, dass sie nach menschlichem Ermessen alles tun, um die Sicherheit zu erhöhen. Es gibt sicherlich ein paar Bereiche, wo wir noch deutlich besser werden können und besser werden müssen. Das ist die europäische Zusammenarbeit.
Schmidt- Mattern: Aber Herr Özdemir, lassen Sie uns vielleicht, wenn ich Sie kurz unterbrechen darf …
Özdemir: Gerne.
"An die Gefährder müssen wir rankommen"
Schmidt-Mattern: … noch einen Moment in Deutschland bleiben, bevor wir dann nach Europa gucken und die dortige Zusammenarbeit. Im Hinblick auf die Debatte hier in Deutschland: Brauchen wir mehr Videoüberwachung zur Terrorabwehr in Deutschland?
Özdemir: Da, wo sie sinnvoll ist, da, wo sie tatsächlich was bringt und zu einem Sicherheitsgewinn beiträgt, ist ja niemand bei Verstand dagegen. Aber wir brauchen sicherlich keine flächendeckende Videoüberwachung. In Großbritannien haben wir die de facto und wir haben sicherlich nicht weniger Terroranschläge dort. Und, um Ihre nächste Frage vielleicht vorwegzunehmen, die Vorratsdatenspeicherung hatten wir in Frankreich und in anderen Ländern. Auch dort gibt es nicht weniger Terroranschläge. Also, "viel hilft viel" ist, glaube ich, nicht unser Problem, sondern die Gefährder. Sie haben sich in Gefängnissen radikalisiert. Sie hatten oft eine kriminelle Karriere. Also, es gibt ja bestimmte Verhaltensmuster, die identisch sind bei allen. Und das müssen wir, glaube ich, präzisieren, gemeinsam mit unserem Dienst, mit einer Polizei, wie wir an die rankommen. Also, nicht jetzt 80 Millionen Deutsche überwachen. Das ist nicht die Antwort. Sondern die Gefährder, an die müssen wir rankommen. Einsperren, wo es geht, abschieben, wo möglich und dafür sorgen, dass sie ihre schrecklichen Mordtaten nicht verüben können.
"Fluchtursachenbekämpfung muss die erste Priorität Europas sein"
Schmidt-Mattern: Ich würde gerne beim Thema Terror bleiben, aber eine andere Art von Terror, nämlich den, den wir zurzeit in den Flüchtlingslagern in Libyen erleben. Das Auswärtige Amt spricht von "KZ-ähnlichen Verhältnissen" in diesen Lagern. Vor diesem Hintergrund die Frage an Sie: Sollen/müssen wir Deutsche trotzdem stärker mit Libyen zusammenarbeiten? Oder müssen wir im Gegenteil sagen: Das ist kein Partner, mit dem wir das Thema Flüchtlinge gemeinsam angehen können?
Özdemir: Wenn ich jetzt noch wüsste, wer in Libyen, welche Regierung - da gibt es ja eine offizielle, anerkannte, eine Gegenregierung. Dann gibt es noch mehrere Warlords, die sich gegenseitig bekriegen. In jedem Fall wird die Europäische Union gefragt sein. Ich bin sehr dankbar, dass Präsident Macron, der Präsident Frankreichs, versucht, dort einen Versöhnungsprozess zu machen mit dem Ziel, dass es eine gemeinsame Regierung gibt. Wir sollten ihm dabei helfen.
Schmidt-Mattern: Einer der Vorschläge oder der zentrale Vorschlag, Idee von Macron lautet ja, Hotspots, Zentren in Nordafrika einzurichten und dort eine Art Vorprüfung von Asylanträgen vorzunehmen. Befürworten Sie diesen Vorschlag oder lehnen Sie diese Hotspots, die ja auch der deutsche Innenminister Thomas de Maizière immer wieder ins Spiel gebracht hat, lehnen Sie diese Hotspots ab?
Özdemir: Schauen Sie, wenn es sich da um Demokratien handelt mit unseren Standards, dann kann man selbstverständlich drüber nachdenken. Aber wenn es sich um Libyen handelt, wo ja staatliche Strukturen nicht existieren, wo sich die einen mit den anderen streiten und bekämpfen und bekriegen, stelle ich mir das praktisch sehr schwierig vor. Wie soll das funktionieren?
Schmidt-Mattern: Das heißt, aus Ihrer Sicht ist dieser Vorschlag im Moment nur ein Papiertiger?
Özdemir: Ich sehe es praktisch nicht, wie es umgesetzt werden kann. Also, wer soll für die Sicherheit garantieren? Wollen wir da wirklich deutsche Beamte hinschicken, europäische Beamte hinschicken? Also, in einem hochkorrupten Regime, wo keinerlei Sicherheit für die einheimische Bevölkerung existiert, wie soll sie denn dann bitteschön für andere existieren? Das scheint mir doch sehr am grünen Tisch gedacht zu sein. Ich will damit gar nicht ausschließen, dass wir vielleicht eines Tages mal dazu übergehen, dass es auch die Möglichkeit gibt, im Ausland Anträge zu stellen. Ich habe ja gerade selber gesagt, dass wir so ein Kontingentsystem eigentlich bräuchten, um Druck rauszunehmen. Und es muss das Thema Fluchtursachenbekämpfung die erste Priorität Europas sein. Und das hat übrigens auch was mit dem Klimaschutz zu tun.
Schmidt-Mattern: Genau. Da würde ich gerne noch mal kurz näher drauf eingehen. Stichwort Fluchtursachen. Da sagen viele Experten, das ist völlig richtig, dieser Ansatzpunkt, ist aber ein Projekt, das sich über Jahre, Jahrzehnte hinziehen wird, wenn man wirklich in puncto …
Özdemir: Das hat man vor zehn Jahren und vor 20 Jahren auch gesagt. Und jetzt sind wir wieder - also, wollen wir in zehn Jahren wieder dieselbe Diskussion führen? Es gibt auch Dinge, die könnte man sehr schnell machen. Nehmen Sie die Landwirtschaftspolitik. Fleischkonsum in Deutschland geht jedes Jahr zurück. Fleischproduktion geht jedes hoch. Wohin geht das Fleisch? Zum Beispiel nach Afrika.
"Nicht wie der Elefant im Porzellanladen auftreten"
Schmidt-Mattern: Herr Özdemir, im Gespräch sind auch immer wieder im Rahmen einer europäischen Flüchtlingspolitik Sanktionen, die man verhängen müsste gegen EU-Mitgliedsstaaten wie zum Beispiel Polen oder Ungarn, weil sie sich weigern, Flüchtlinge aufzunehmen. Das ist unter anderem ein Vorschlag, den der SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz macht. Stimmen Sie Martin Schulz zu? Braucht es Sanktionen? Muss man Ungarn oder Polen den Geldhahn in Brüssel abdrehen, wenn sie keine Flüchtlinge aufnehmen?
Özdemir: Viele Länder profitieren schon auch ganz gut von den Milliardenzahlungen aus Brüssel für Landwirtschaft und für andere Dinge, für die Infrastruktur, tun dann aber so, als ob sie beispielsweise mit der Aufnahme von Flüchtlingen nichts zu tun hätten. Trotzdem finde ich, dass die Bundesrepublik Deutschland nicht wie der Elefant im Porzellanladen auftreten sollte. Also, es wäre schon ganz gut gewesen, wenn man die Aufnahme von Flüchtlingen auch mit den Nachbarländern bespricht. Man sieht sich immer zweimal im Leben. Wir Deutsche waren es, die gesagt haben, die Flüchtlingsfrage ist national, nicht europäisch. Dann, als wir selber die Flüchtlinge im Land hatten, wollten wir auf einmal, dass es europäisch gelöst wird. Also mein Plädoyer: Bitte nicht großmäulig reden in Europa. Sprüche wie 'ihr müsst jetzt, sonst gibt es eins auf die Mütze' oder 'Europa spricht Deutsch', die helfen uns nicht.
Schmidt-Mattern: Sind das Vorwürfe, die sich auch an die Kanzlerin richten?
Özdemir: Das richtet sich an die gesamte Große Koalition. Wir müssen erkennen - gerade angesichts dessen, wie sich Trump in den USA aufstellt, angesichts dessen, dass es mit China neue Akteure gibt - kein Land der Europäischen Union für sich genommen ist stark genug, groß genug, mächtig genug, um noch irgendwas in der Welt zu beeinflussen. Die gute Nachricht: Wir haben jetzt in Frankreich einen tollen Partner mit Macron. Ich glaube, eine deutschlandfreundlichere Regierung wie jetzt unter Präsident Macron gab es, glaube ich, lange nicht in Frankreich. Also es gibt doch keinen Hinderungsgrund, dass die nächste deutsche Bundesregierung mit Macron und natürlich den anderen Partnern in Europa vorangeht und dafür sorgt, dass alles das, was wir besser in Brüssel machen, dort machen.
Schmidt-Mattern: War das jetzt eine Bewerbungsrede für das Amt des Außenministers von Ihnen, Herr Özdemir?
Özdemir: Da zitiere ich einen baden- württembergischen Landsmann von mir, den ehemaligen Ministerpräsidenten Erwin Teufel. Der hat mal gesagt: 'Das Amt kommt zum Manne.' Und da ich Grüner bin, füge ich dazu: 'Und natürlich auch zur Frau - und nicht umgekehrt.'
Schmidt-Mattern: Aber abgeneigt wären Sie nicht?
Özdemir: Ich bin gar nicht abgeneigt, dass die Grünen möglichst stark werden, drittstärkste Fraktion, in der nächsten deutschen …
Schmidt-Mattern: Ja, das war nicht die Frage.
Özdemir: … Bundesregierung sitzen. Und wenn wir das alles geschafft haben, dann unterhalten wir uns darüber, wer was macht und keine Sekunde früher.
"Die Türkei braucht uns mindestens so sehr wir die Türkei"
Schmidt-Mattern: Cem Özdemir, wenn Sie Außenminister denn wären in einer künftigen Bundesregierung, würden Sie eigentlich in der Türkeipolitik, würden Sie das Flüchtlingsabkommen, das Deutschland mit der Türkei geschlossen hat, in einer grün mitgeführten Regierung aufrechterhalten oder würden Sie das aufkündigen?
Özdemir: Als die Flüchtlingskrise auftrat, hat die Bundeskanzlerin die Türkei auf ihrem Atlas wiederentdeckt, war dann häufiger in der Türkei, wie wahrscheinlich ich in den Jahren davor und danach. Und es hat schon ein bisschen den Eindruck erweckt, als ob ihr Reiseprogramm doch sehr eng abgestimmt wird mit dem Wahlkalender von Herrn Erdogan. Ich will nicht sagen, dass man nicht bei der Flüchtlingsunterbringung der Türkei helfen muss. Das gehört ja auch zur Ehrlichkeit dazu, dass es notwendig ist. Es war sogar richtig, ausdrücklich, nicht nur der Türkei, sondern Irak, Kurdistan, dem Libanon und allen anderen Nachbarstaaten wie Jordanien zu helfen. Aber helfen kann doch nicht bedeuten, dass man einen Paycheck überweist und dann sagt: Macht mit dem Geld, was ihr wollt. Und das Allerwichtigste: Es kann niemals akzeptiert werden, dass es explizit oder implizit einen Deal gibt: Ihr haltet uns die Flüchtlinge vom Leib und dafür schauen wir bei Menschenrechtsverletzungen weg. Das kann die Bundesrepublik Deutschland niemals akzeptieren.
Schmidt-Mattern: Dann sagen Sie uns doch bitte - und damit auch den Hörern: Was ist der Alternativvorschlag der Grünen im Umgang mit der Türkei, gerade im Hinblick auf die Flüchtlingspolitik?
Özdemir: Die Türkei braucht uns mindestens so sehr wie umgekehrt wir die Türkei und alle anderen Nachbarländer Syriens. Das hat man jetzt gesehen, als die Türkei in einem Anflug von Wahnsinn ja eine neue Terrorliste veröffentlicht hat, wo auch deutsche Unternehmen draufstanden wie Daimler und andere. Und es hat keine 24 Stunden gedauert, als der Bundesaußenminister meinen Vorschlag aufgenommen hat, in dem ich gesagt habe, die Hermesbürgschaften müssen ausgesetzt werden. Er hat 'die Prüfung' gesagt und alleine das hat bewirkt, dass Herr Erdogan erst sagte: Missverständnis, diese Terrorliste gibt es gar nicht. Und dann hat ihn sein Wirtschaftsminister korrigiert und gesagt: Doch, die gab es doch, aber das sei auch ein Missverständnis, sei nicht so gemeint. Die verantwortlichen Beamten seien übereifrig gewesen. Also, Herr Erdogan versteht eine Sprache - die Sprache des Geldes und der Wirtschaft. Ich würde dafür sorgen, dass Herr Erdogan versteht: Wir akzeptieren nicht alles. Schlimm genug, dass Herr Erdogan die Türkei in ein offenes Gefängnis verwandelt. Der Versuch von Herrn Erdogan und der AKP-Regierung, diesen langen Arm nach Deutschland zu tragen, hier Angst zu verbreiten, dass türkische Oppositionelle, anders Denkende hier in Deutschland Angst haben müssen, der ist nicht akzeptabel. Da ist mir Frau Merkel zu sanft. Da ist mir die Große Koalition zu sehr immer noch auf Kuschelkurs mit Ankara. Das muss man ändern. Man muss mit Ankara …
Schmidt-Mattern: Aber Ihnen als Grüne gelingt es ja auch im Moment nicht, dieses Thema im Wahlkampf zu setzen.
Özdemir: Also ich glaube schon, dass ich selber, aber auch meine Partei da sehr klar ist. Schauen Sie sich Frau Wagenknecht, die Linkspartei an. Die sympathisieren mit Herrn Maduro, der in Venezuela dafür sorgt, dass die Opposition zusammengeschossen wird. Herr Seehofer von der CSU findet Herrn Orbán irgendwie ganz toll. Und die SPD, ihr ehemaliger Bundeskanzler ist in Diensten von Herrn Putin. Bündnis 90/Die Grünen ist im Dienste des deutschen Grundgesetzes unterwegs.
"Regierung und Opposition sind im engen Austausch "
Schmidt-Mattern: Cem Özdemir bei uns zu Gast im Deutschlandfunk Interview der Woche. Kommenden Mittwoch besucht Botschafter Martin Erdmann Deniz Yücel, den verhafteten deutschen Journalisten, in der Türkei im Gefängnis. Ein Sprecher des Auswärtigen Amtes hat vorab schon gesagt, dieser Besuch sei eine symbolische Handlung. Da würde ich Sie gerne fragen: Reicht das und muss sich nicht, nachdem Sie jetzt schon viel Kritik an der Türkeipolitik der Großen Koalition geäußert haben, muss sich die Bundesregierung, könnte sie sich nicht viel stärker und offensiver einsetzen für die Freilassung von Deniz Yücel?
Özdemir: Ich kritisiere die Bundesregierung scharf. Das wissen Sie. Das hören Sie auch immer wieder, auch im Umgang mit Herrn Erdogan und der Türkei. Aber es gibt natürlich auch Dinge, da versuchen wir uns, Opposition und Regierung - wo es um unsere Staatsbürger geht, muss es darum gehen: Was hilft, damit wir ihn da rausbekommen aus dieser schrecklichen Haft? Und das gilt ja nicht nur für ihn. Wir haben ja auch andere deutsche Staatsbürger, die dort in Haft sind, als Geiseln gehalten werden quasi, um Gegengeschäfte, schmutzige Geschäfte zu erpressen. Das hat ja schon mafiöse Anwandlungen, was da in Ankara gerade passiert. Und da ist es, glaube ich, gut, dass wir, Regierung und Opposition, im engen Austausch sind und schauen: Was hilft am besten? Wir unterstützen die Bemühungen der Bundesregierung, ihn da rauszuholen und tun das uns Mögliche, das zu tun. Das ist klar. Es kann keinerlei Normalisierung mit Ankara geben, solange deutsche Staatsbürger dort im Gefängnis sind.
Schmidt-Mattern: Selbst wenn es jetzt, wie Sie sagen, ja um deutsche Staatsbürger geht, bin ich doch, ehrlich gesagt, überrascht über Ihre Antwort. Denn müsste es nicht eigentlich Aufgabe der Opposition sein, dass sie gerade im Falle einer offenbar illegalen Festnahme von deutschen Staatsbürgern in der Türkei ganz klar von der Bundesregierung fordert: Tut da bitte mehr für diese Freilassung. Beispielsweise die Androhung, das Zollabkommen mit der Türkei aufzukündigen auf europäischer Ebene. Also, es sind ja Drohgebärden da, die durchaus ausgesprochen werden. Aber nicht im Fall Yücel. Das müssen Sie doch kritisieren.
Özdemir: Doch, das machen wir schon. Und gehen Sie mal davon aus, dass wir das auch im Gespräch mit der Bundesregierung tun. Da geht es jetzt nicht darum, dass man sich im Wahlkampf profiliert zu Lasten von jemandem, der im Gefängnis sitzt, sondern schaut: Was hilft am besten? Sie haben das Zollhandelsabkommen angesprochen. Es gibt ja Pläne, das auszudehnen. Ich sehe nicht, wodurch sich die Türkei dafür qualifiziert hat, das auszudehnen - ganz im Gegenteil. Ich finde, dass es jetzt notwendig ist, ein wirkungsvolles Rüstungsembargo gegenüber der Türkei zu verhängen. Herr Erdogan versucht auch in Deutschland mitzuentscheiden. Er versucht, seine Moschee-Gemeinden hier, auch türkische Vereine, gleichzuschalten. Ich wage mal folgende Prognose: Wenn das so weitergeht, auch mit dem schläfrigen Kurs der Großen Koalition, wird es keine fünf Jahre dauern und die Mehrheit der deutsch-türkischen Vereine hier wird mehr oder weniger Herrn Erdogan unterstehen. Die Konsulate …
"Die Bundesregierung hat zu lange weggeschaut"
"Ich begrüße es, dass man jetzt im Umgang mit der Türkei offensichtlich eine Kursrevision vorgenommen hat"
Schmidt-Mattern: Was würden Sie denn als Grüne, angenommen, Sie wären an der nächsten Bundesregierung beteiligt, was wollen Sie da konkret tun, um diesen wachsenden Einfluss türkischer Behörden in Deutschland zu unterbinden?
Özdemir: Die UETD ist eine Vorfeldorganisation, geht gerade von Moschee-Gemeinde zu Moschee- Gemeinde, während wir hier sitzen, setzt die Vorstände ab, sorgt dafür, dass da Erdogan genehme Leute hinkommen oder die anderen werden mundtot gemacht. Ich habe Fälle, da kommen Leute zu mir und erzählen mir, dass sie unter Druck gesetzt werden, dass sie bedroht werden in der Bundesrepublik Deutschland. Wir haben Fälle, wo Leute mir erzählen, dass seltsame Gestalten aus der Türkei kommen und sagen: 'Wir wissen, was du hier machst, glaub bloß nicht, dass du in Deutschland sicher bist.' Wir leben in Deutschland.
Schmidt-Mattern: Und wer konkret ist aus Ihrer Sicht verantwortlich dafür, dass es diese Entwicklung gibt?
Özdemir: Es gibt konkrete Fälle von Leuten, die Spionage betreiben gegen die Bundesrepublik Deutschland, die Bürger dieses Landes unter Druck setzen. Und man wartet lange genug, bis auch die letzten Beweismittel vernichtet sind, bis der letzte Imam abgezogen wurde in die Türkei, damit man sich es mit Herrn Erdogan nicht verscherzt.
Schmidt-Mattern: Also, Sie erheben Vorwürfe gegen die Bundesanwaltschaft und auf politischer Ebene?
Özdemir: Ich erhebe Vorwürfe gegen die Bundesregierung, dass die Bundesregierung zu lange weggeschaut hat. Ich begrüße es, dass man jetzt im Umgang mit der Türkei offensichtlich eine Kursrevision vorgenommen hat. Was ich vermisse, ist, dass man auch sieht, dass Erdogans Politik Auswirkungen Richtung Deutschland hat. Also, ich stelle fest: Viele Deutsch-Türken konsumieren Medien, also die Herrn Erdogan nahestehen, aus der Türkei. Wo ist denn die mediale Offensive, dass wir ein Angebot machen für Deutsch- Türken, auch in türkischer Sprache, sich zu informieren über das, was hier passiert, ohne die Propaganda aus dem Herkunftsland? Übrigens, ein ähnliches Phänomen haben wir natürlich auch bei dem Teil der Deutsch-Russen und im Versuch von Herrn Putin, hier eine Parallelgesellschaft zu machen. Wir müssen wachsam sein.
Schmidt-Mattern: An dieser Stelle ein harter, zumindest thematischer Schnitt - mit Blick auf die Uhr. Das Interview der Woche im Deutschlandfunk mit Cem Özdemir - lassen Sie uns auf den Diesel zu sprechen kommen.
Özdemir: Das ist allerdings wirklich ein harter Schnitt.
"Nicht das Auto der Zukunft verschlafen"
Schmidt-Mattern: Es sind ausgerechnet die Umweltverbände, die ja eigentlich traditionell den Grünen nahestehen, die aber in dieser Woche die Grünen kritisiert haben. Jürgen Resch von der Deutschen Umwelthilfe hat im ARD-Fernsehen gesagt: "Überall dort, wo Grüne in Regierungen sind, verhalten sie sich nicht viel anders als andere Parteien. Selbst Winfried Kretschmann lässt sich - Zitat - 'von der Autoindustrie am Nasenring durch die Manege ziehen'". Hat Jürgen Resch damit Recht?
Özdemir: Also, es sind erstmal nicht die Umweltverbände, sondern einer: die DUH. Und ich habe ja auch vorgeschlagen, eine Zukunftskommission 'Umweltfreundliche Mobilität' mit der Automobilindustrie, mit Gewerkschaft, mit Wissenschaft, mit Umweltverbänden, damit wir in Deutschland nicht das Auto der Zukunft verschlafen.
Schmidt-Mattern: Genau. Cem Özdemir, Sie sind aber ja die Partei in Deutschland, die sagt: 'Niemand steht weiterhin so für den Umwelt- und Klimaschutz wie wir, Die Grünen'. Sie schlagen jetzt eine Reihe von Maßnahmen vor im Umgang mit der Dieselaffäre, die eigentlich viele andere Parteien so auch im Angebot haben.
Özdemir: Die blaue Plakette fordert außer uns niemand. Die Zukunftskommission haben nur wir vorgeschlagen.
Schmidt-Mattern: Sie haben aber im Angebot, in Ihrem Wahlprogramm, noch einige andere Vorschläge, die Sie öffentlich jetzt gar nicht besonders laut bewerben. Und da frage ich mich: Warum?
Özdemir: Was denn?
"Mobilität in Deutschland wird sich radikal verändern"
Schmidt-Mattern: Ich habe zum Beispiel in Ihrem Wahlprogramm gelesen, dass Sie ein Tempolimit vorschlagen auf deutschen Autobahnen: Tempo 120. Ich lese, dass Sie das Dienstwagenprivileg zumindest so beschneiden wollen, dass eine Besteuerung von Dienstwagen an den CO2-Verbraucht gekoppelt wird. Das sind alles Maßnahmen, die nicht unbedingt populär sind bei den Autofahrern oder auch bei den Steuerzahlern. Ist das der Grund, warum Sie diese Vorschläge zwar ins Wahlprogramm schreiben, aber sie gar nicht dann groß an die Glocke hängen jetzt im Wahlkampf?
Özdemir: Ich habe doch selber gerade eben angesprochen, dass der Verbrennungsmotor ein Enddatum hat.
Schmidt-Mattern: Ja, das meinte ich nicht. Ich meinte das Tempolimit und ...
Özdemir: Ja, aber das ist doch die radikalste Aussage von allen.
Schmidt-Mattern: Steht aber im Wahlprogramm.
Özdemir: Also, die Art, wie wir in Deutschland die Mobilität organisieren, die wird sich radikal verändern. Und man darf da nicht glauben, dass man um Deutschland quasi da eine Art Schutzzaun errichten kann. Und ich sage Ihnen: Wir werden keinen Koalitionsvertrag unterschreiben, in dem nicht drin ist: a), es muss wirkungsvoll nachgerüstet werden bei den Dieseln. Es kann nicht sein, dass diejenigen, die sich in gutem Glauben ein Auto gekauft haben, jetzt die Leidtragenden sind. Die Automobilindustrie muss wirkungsvoll, nachprüfbar und auf eigene Kosten dafür sorgen, dass die Grenzwerte eingehalten werden. Gleichzeitig muss aber jetzt die Wende eingeläutet werden in Richtung emissionsfreie Mobilität. Dazu gehört natürlich auch massiv der Ausbau des Öffentlichen Verkehrs. Eine Milliarde Euro in den Nahverkehr. Radwege, Radschnellwege massiv ausbauen, damit die Leute komfortabel, umweltfreundlich und bitte überall in Deutschland - auch im ländlichen Raum - von A nach B kommen. Das muss das Schwerpunktthema der künftigen Regierung sein und keine unsinnige Maut mehr.
Schmidt-Mattern: Herr Özdemir, ich probiere es noch einmal und zitiere Ihr Wahlprogramm, das der Grünen: Tempo 20 - Tempo 120 auf Autobahnen.
Özdemir: Also Tempo 20 haben wir bisher nicht gefordert, aber wäre mal eine interessante Forderung.
Schmidt-Mattern: Genau. Tempo 120 fordern Sie auf Autobahnen - so steht es in Ihrem aktuellen Wahlprogramm drin.
Özdemir: Das werden wir auch bei der nächsten Koalitionsverhandlung, wenn wir in die Verlegenheit kommen, fordern. Und außer uns fordert das niemand. Wir haben das auch damals gefordert, als wir mit der SPD sieben Jahre regiert haben. Natürlich fordern wir das - deshalb schreiben wir es ja ins Programm rein, weil wir davon überzeugt sind. Das ist ja physikalisch einfach eine Exponentialfunktion: Je schneller die Geschwindigkeit, umso höher der Verbrauch, umso höher die Ausstöße - übrigens umso gefährlicher auch die Unfälle, die entstehen. Insofern ist es eine kluge und eine sinnvolle Forderung. Und erst gestern Abend habe ich in einem Town Hall Meeting darüber gesprochen.
"So viel Geschlossenheit wie jetzt war noch nie bei den Grünen"
Schmidt-Mattern: Aber das ist doch genau das, was Ihnen Ihre Kritiker auch in der eigenen Partei vorwerfen. Ich zitiere mal Christian Ströbele, der in diesen Tagen aus dem Bundestag ausscheidet, der der Zeit ein großes Interview zum Abschied gegeben hat und dort ziemlich gegen die eigene Partei vom Leder zieht. Unter anderem den Grünen empfiehlt, sie sollten doch mal wieder revolutionärer werden. Das könnten Sie ja mit der Forderung nach einem Tempolimit jetzt im Wahlkampf ganz schnell erreichen und würden vielleicht damit einige Ihrer Stammwähler zurückgewinnen, die Sie in früheren Jahrzehnten genau dafür gewählt haben, dass die Grünen frecher und revolutionärer waren. Was ist davon übrig geblieben?
Özdemir: Ich glaube, was Revolutionäreres als nach 130 Jahren Verbrennungsmotor einen radikalen Umstieg zu fordern und zu sagen, wir wollen emissionsfrei und zwar vollständig emissionsfrei werden, ...
Schmidt-Mattern: Aber das fordern ja alle, Herr Özdemir. Das ist ja kein Alleinstellungsmerkmal.
Özdemir: Verstehen Sie, was Sie jetzt gerade machen, das ist quasi ein Spiegelstrich, der eine kleine Forderung ist im Verhältnis zu Riesenforderung, dass wir 800.000 Jobs radikal ummodeln - was ja dramatische Konsequenzen für die Zuliefererindustrie hat. Das ist doch die eigentlich radikale Forderung. Und da sind wir der Antreiber. Und was das Thema Streit angeht: Ich glaube, so viel Geschlossenheit wie jetzt war noch nie bei den Grünen. Ich bin ja jetzt schon länger dabei; Sie kennen uns auch schon länger und werden mir sicherlich recht geben, wenn man das mal vergleicht mit früher, den letzten Bundesparteitag, wie dort mit Mehrheiten beschlossen wurde, die Vorschläge der Spitzenkandidaten - von Winfried Kretschmann bis zu Jürgen Trittin - mitgetragen werden, wann gab es das schon mal?
Schmidt-Mattern: Lassen Sie uns in dieser Schlussrunde unseres Interviews noch einen Moment bei Ihrer Partei verweilen. Sie sprechen von Geschlossenheit. Öffentlich bekannt geworden ist aber das Video vom Bundesparteitag der Grünen, in dem Winfried Kretschmann hergezogen ist über die Beschlüsse, einige der Beschlüsse, die Sie auf Ihrem Parteitag verabschiedet haben. Unter anderem hat er den Ausstieg aus aus dem Verbrennungsmotor bis zum Jahr 2030 als "Schwachsinn" bezeichnet. Ist das die Geschlossenheit, die Sie meinen?
Özdemir: Also, man kann sich darüber streiten, ob man von rechtsextremen Websites die Sachen teilen sollte oder nicht - das muss jeder für sich entscheiden.
Schmidt-Mattern: Gesagt ist gesagt.
Özdemir: Ja, ja, gesagt ist gesagt. Aber das Mittel heiligt nicht immer den Zweck - das war zumindest immer meine politische Einstellung. Aber das müssen andere diskutieren, ob sie das richtig finden, dass solche Rechtsfanatiker - Ich meine, schauen Sie sich mal die Website an von denen, die das machen, ob die jetzt unbedingt, wenn die da geheim Leute abhorchen, ob das jetzt künftig die Art sein soll, über die wir kommunizieren. Aber in der Sache selber, was hat denn Winfried Kretschmann noch gesagt? Er hat gesagt: "Das ist ein Weckruf für die Automobilindustrie." Und er hat gesagt - ich darf ihn zitieren: "Ob es jetzt zwei Jahre früher oder zwei Jahre später ist, das ist nicht entscheidend." Das ist exakt meine Position - ein Weckruf für die deutsche Automobilindustrie. Praktisch jedes meiner Gespräche, das ich mit den Autobossen, mit den Gewerkschaften, mit der Zulieferindustrie habe, endet immer damit - leider nicht zitierfähig, was ich sehr bedaure -, dass die sagen: Auch wir geben zu, ohne dass es Druck gibt, ohne dass es einen Antrieb gibt, ohne dass es klare Ansagen aus der Politik gibt, passiert nichts.
Schmidt-Mattern: Also die Grünen - dann fasse ich das mal abschließend so zusammen - sind geschlossen, für den Preis, dass sie möglicherweise etwas langweiliger als früher daherkommen in der Sicht ihrer Kritiker.
Özdemir: Finden Sie das langweilig, wenn wir sagen: Wir wollen eine Dekarbonisierung?
"Mit allen reden heißt nicht, über alles reden"
Schmidt-Mattern: Sage nicht ich, sagen Ihre Kritiker. Ist der Grund für das Ganze, dass Sie sich für eine Regierungsbeteiligung einfach die Optionen offen halten wollen und Zeichen senden wollen für eine mögliche Jamaika-Koalition nach der Wahl? Die schließen Sie ja nicht aus.
Özdemir: Also, demokratische Parteien müssen grundsätzlich immer miteinander gesprächsfähig sein - außer mit der AfD, die teilt nicht das Menschenbild des Grundgesetzes. Ich will keine spanischen Verhältnisse, wo man die Leute solange wählen lässt, bis am Ende das Ergebnis herauskommt, das ich gerne hätte. Aber mit allen reden, heißt nicht, über alles reden - um das mal sehr klar zu sagen. Wenn Christian Lindner und die FDP - wie sie sich in Nordrhein-Westfalen jetzt in einer Regierung aufstellt - in den Windrädern das größte Problem sieht, statt in schmutzigen Kohlekraftwerken aus der Zeit von Sepp Herberger, wird es ein sehr kurzes Gespräch. Oder wenn Herr Lindner jetzt sich von Frau Sahra Wagenknecht loben lässt und von Gerhard Schröder loben lässt, für seine neue Russlandpolitik, für das Kuscheln mit Putin, werde ich auch sehr klar sagen: Wir machen eine wertegeleitete Außenpolitik, bei uns stehen Menschenrechte im Zentrum. Wenn Herr Lindner jetzt mit der Linkspartei zusammen eine andere Russlandpolitik machen möchte, soll er gerne mit der Linkspartei koalieren. Dann wird das nichts.
Schmidt-Mattern: Aber der Ausstieg aus der Kohle bis zum Jahr 2030, den machen Sie ja nicht zur Koalitionsbedingung. Das heißt, das ist schon jetzt ein Entgegenkommen an die FDP?
Özdemir: Also, gewöhnlich sind Legislaturperioden in Deutschland vier Jahre lang - es sei denn, es hätte sich während unseres Gespräches etwas verändert. Wir verlangen, dass die 20 schmutzigsten Kohlekraftwerke in den nächsten vier Jahren geschlossen werden, aus der Zeit von Sepp Herberger. Und genauso wie beim Verbrennungsmotor oder bei Null-Emissions-Autos jetzt der Einstieg dafür geschaffen wird, damit wir 2030 - wenn wir hoffentlich immer noch regieren - dann gemeinsam, Frau Schmidt- Mattern und ich, Cem Özdemir, feiern können, dass wir in Deutschland das letzte Kohlekraftwerk gemeinsam abgeschaltet haben.
Schmidt-Mattern: Dann eine Schlussfrage, Herr Özdemir: Welches Ergebnis sehen wir am 24. September abends auf den Bildschirmen für die Grünen?
Özdemir: Bündnis 90/Die Grünen drittstärkste Fraktion. Und hoffentlich reicht es für die Regierungsbeteiligung.
Schmidt-Mattern: Ein- oder zweistellig am 24.09.?
Özdemir: Wenn es nach mir geht, natürlich zweistellig. Da schaffen wir jetzt dafür.
Schmidt-Mattern: Cem Özdemir, vielen Dank.
Özdemir: Bitte.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.