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Sieben Jahre nach dem Loveparade-Unglück
Die andauernde Katastrophe

Sieben Jahre nach dem Loveparade-Unglück in Duisburg sind die Hintergründe der Katastrophe weiterhin unklar. 21 Menschen starben damals, viele Betroffene sind noch immer traumatisiert. Im Dezember soll es zum Prozess kommen. Unterdessen leiden die Betroffenen weiter.

Von Moritz Küpper | 23.07.2017
    Gedenkstätte zur Loveparade 2010 am Karl-Lehr-Tunnel in Duisburg. Der Karl-Lehr-Tunnel und die Rampe des Loveparade-Geländes sind die Orte der Katastrophe vom 24. Juli 2010.
    Ein Teil der Gedenkstätte am Karl-Lehr-Tunnel in Duisburg. Der Karl-Lehr-Tunnel und die Rampe des Loveparade-Geländes waren die Orte der Katastrophe vom 24. Juli 2010. (picture alliance / Revierfoto/Revierfoto/dpa)
    Gabi Müller kann sich noch genau erinnern, an den 24. April dieses Jahres:
    "Ich war gerade im Auto und hatte die Elf-Uhr-Nachrichten … Und dann hörte ich nur: Loveparade. Heh. Ich denk, was? Lauter gemacht. Ich denk, wie? Es gibt doch einen Prozess!? Ich konnte es gar nicht fassen. Selbst am anderen Morgen, hab ich gedacht: Hast Du das jetzt geträumt oder ist das wahr?"
    Die 59-jährige Friseurin – kurze, blonde Haare, wuchtige Brille mit schwarzem Gestell, schwarz-weiß-kariertes Oberteil – sitzt in einem Café in der Innenstadt von Hamm, vor sich einen Cappuccino. Es war ein besonderer Tag, an dem das Oberlandesgericht Düsseldorf dem Einspruch der Staatsanwaltschaft Duisburg stattgab und anordnete, dass es doch einen Strafprozess geben muss. Dass sich doch zehn Mitarbeiter der Stadt und des Loveparade-Veranstalters für die Katastrophe am 24. Juli 2010 in Duisburg – also am Montag vor sieben Jahren – verantworten müssen.
    Eines der größten Unglücke Nordrhein-Westfalens
    21 Menschen verloren damals ihr Leben, darunter auch Christian, der 25-jährige Sohn von Gabi Müller. Einige Hundert wurden teilweise schwer verletzt. Es war eine der größten Katastrophen Nordrhein-Westfalens, wenn nicht sogar bundesweit. Und eben jener 24. Juli 2010 war in den Augen vieler Opfer, der Angehörigen wie auch Betroffenen, nicht das Ende, sondern der Ausgangspunkt einer Katastrophe, die aus ihrer Sicht bis heute andauert. "Es gab weder eine juristische Aufarbeitung über sechs Jahre und politisch auch nicht. Und das finde ich schon sehr schlimm. Ja, da kommt man sich benutzt vor."

    Duisburgs damaliger Oberbürgermeister Adolf Sauerland lehnte die Verantwortung ab, wurde letztendlich von seiner eigenen Bevölkerung in einem beispiellosen Vorgang abgewählt; einige Zivilprozesse liefen ins Leere, die Klagen, unter anderem von Feuerwehrleuten oder anderen Funktionsträgern wurden abgewiesen; die strafrechtliche Verfolgung von politischen Entscheidungsträgern wie eben dem Oberbürgermeister, dem Veranstalter Rainer Schaller oder auch den damals beteiligten Polizisten verjährte. Und als das Landgericht Duisburg nach Ermittlungen die Eröffnung des Hauptverfahrens ablehnte, reichte es Gabi Müller: Sie startete eine Petition im Internet. Für einen Strafprozess. Innerhalb kürzester Zeit unterschrieben über 380.000 Menschen.
    Besucher versuchen dem Gedränge bei der Loveparade am 24. Juli 2010 in Duisburg zu entkommen.
    Besucher versuchen dem Gedränge bei der Loveparade 2010 in Duisburg zu entkommen. (dpa / picture-alliance / Erik Wiffers)
    Das ist ein kurzer Moment in dem Gespräch im Café, in dem Müller stolz wirkt. Für sie war die Petition der Beweis, die Bestätigung, doch nicht falsch zu liegen, den Glauben an die Gesellschaft nicht zu verlieren. "Ich bin Friseurin und wenn zu mir eine Kundin kommt, mit blau-schwarzen Haaren und sagt zu mir, sie möchte blond werden, dann sag ich ihr: Es tut mir leid, das ist nicht machbar. So. Kommt dann mein Chef und sagt, ich soll das machen. Dann weigere mich, weil es nicht machbar ist. In dem Falle würden der Kundin nur die Haare ausgehen, die wachsen wieder nach. Aber genau dieses Verhalten, dieses Duckmäuser, ja, das hat 21 Menschen das Leben gekostet."
    Bis heute wartet eine Mutter auf eine Entschuldigung
    Müller sieht in der Politik, bei der Stadt, der Verwaltung und auch bei der Polizei, die Verantwortung: Die Loveparade sei doch von allen gewollt gewesen. Sie kann nicht verstehen, dass dafür niemand die Verantwortung übernehmen will oder soll. Ihren Christian habe sie doch auch so erzogen: "Wenn man irgendwas angestellt hat, dann hat man dafür gerade zu stehen. Oder auch zu sagen: Es tut mir leid. Also, das macht einen auch sprachlos, ne." Bis heute wartet Müller – und zwar auf die Bitte um Entschuldigung. "Nichts, gar nichts. Ja, natürlich ist man da enttäuscht. Man fragt sich: Was sind das für Menschen. Jeder Mensch hat doch eigentlich ein Gewissen. Ja. Und. Aber: Da kommt nichts. Das einzige, was da kommt: Ich war das nicht und ich war das nicht. Also: Keiner ist es gewesen. Das ist das einzige, was da kommt."
    Gabi Müllers Blick ist leer. Ihre Trauer um ihren Sohn, ihr Kampf für Gerechtigkeit – das ist nur eine von unzähligen Geschichten, die ihren Ausgang an jenem Sommernachmittag in Duisburg fanden. Auf jener Rampe, auf der am Vorabend, und am siebten Jahrestag, wieder einmal den Opfern gedacht wird. Angehörige und Freunde aus Italien, Spanien, den Niederlanden, China, Australien und natürlich Deutschland werden zusammenkommen. Um zu trauern, zu erinnern – und zu hoffen.
    Erstmals soll das zentrale Gedenken für alle öffentlich zugänglich sein
    Die Räume der Loveparade-Stiftung "Duisburg 24.07.2010". Von hier, inmitten der Duisburger Innenstadt, versuchen Opfer, Vertreter der Stadt Duisburg und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens seit Jahren mit bescheidenen Mitteln die Auswirkungen der Katastrophe abzumildern, sich um die Opfer zu kümmern, die Gedenkstelle zu pflegen und auch den Jahrestag zu organisieren. Und jetzt, vor dem siebten Jahrestag, soll es eine Neuerung geben: Erstmals soll das zentrale Gedenken für alle öffentlich zugänglich sein. "Wir hatten so das Empfinden, das jetzt, mit dem siebten Jahrestag, vielleicht eine leichte Veränderung möglich sein kann, dass wir eine zentrale Veranstaltung an dem Nachmittag des 24. um 17 Uhr in der Gedenkstätte durchführen", sagt Jürgen Thiesbonenkamp, ehemaliger Chef der Kindernothilfe und seit Jahren Sprecher des Kuratoriums der Stiftung.
    Die Entscheidung war nicht unumstritten: Es gab Opfereltern, die weiterhin zum Zeitpunkt der Tragödie alleine an der Gedenkstätte sein wollten. Doch Thiesbonenkamp und seine Mitstreiter hörten auch den Wunsch von Betroffenen, von Duisburgerinnen und Duisburgern, dabei sein zu dürfen. "Sieben Jahre ist ein gewisser Abstand zu einem Ereignis. Man hat neue Jahre vor sich. Und wenn man so an den eigenen Bio- oder Lebensrhythmus denkt, dann kann man feststellen: So alle sieben Jahre gibt es ein bisschen Veränderungen. Und von daher kam das, dass eben das Oberlandesgericht in Düsseldorf eben den Prozessbeginn in diesem Jahr auf den 8. Dezember festgelegt hat. Wir waren vorher alle ein bisschen in Depression…", die nun, so scheint es zumindest, ein stückweit gewichen ist.

    Und in der Tat: Wer sich in den vergangenen Jahren, aber vor allem auch in den letzten Monaten und Wochen unter Opfern, Angehörigen und Beteiligten rund um die Katastrophe umgehört hat, kann kleine Zeichen der Bewegung feststellen, kleine Zeichen der Hoffnung. Denn: Die Ereignisse am 24. Juli 2010 waren eine Katastrophe. Die Abläufe, Entscheidungen und Vorgänge, die in den bis heute 2.550 Tagen seitdem passiert oder nicht passiert sind, die zweite Katastrophe. Mit gewichtigen Folgen: "Wir haben auch hier bei der Loveparade das Phänomen, was uns von psychologischen Experten immer wieder auch gesagt worden ist, dass es nach Katastrophen, in der Regel, zu Streit kommt unter den Opfern. So. Das haben wir in der Loveparade lange Zeit kaum gehabt. Das ist aber, möglicherweise auch ausgelöst, weil es zeitlich zusammenhängt, mit dem vorherigen Jahr, wo der Prozess erstmal abgesagt worden ist, seitdem haben wir das aber verstärkt", sagt Jürgen Widera, Ombudsmann der Stadt Duisburg, Vorstand der Loveparade-Stiftung und wohl der Mann, mit den besten Einblicken in die Gruppe der Opfer: Angehörige gegen Betroffene, das ist mitunter eine Trennlinie. Aber nur eine.
    Kerzen, Kränze und Bilder erinnern in Duisburg an die Opfer der Loveparade-Katastrophe.
    Am sechsten Jahrestag der Katastrophe wird der Opfer gedacht. (Deutschlandradio/ Moritz Küpper)
    Zwei Gründungsmitglieder der Stiftung, beides Betroffene, haben mittlerweile den Beirat im Streit verlassen. Sieben Jahre, so Widera, seien eben eine lange Zeit: "Ich denke, dass das auch oft mit den Krankheitsbildern zusammenhängt. Dass Traumatisierte mit ihrem Leben schwer klarkommen, sich natürlich subjektiv alleine gelassen fühlen und mehr Hilfe erwarten. Die sie aber nicht bekommen. Das ist die subjektive Seite. Die andere Seite ist aber, dass oft eben denen, die Hilfe anbieten und die Hilfe leisten, auch Grenzen gesetzt sind."
    (Aus dem Film: "Das Leben danach")
    "Ich habe einen an der Klatsche. Ich war bei der Loveparade."
    "Warum zertrampelst Du dann die Gedenkstätte?"
    "Weil die tot sind und ich lebe."
    "Aber ist doch gut. Dass Du lebst."
    "Aber die, die tot sind, das sind die Guten, die ach so Wunderbaren, um die alle trauern können, und die, die überlebt haben, wir sind die Kaputten, die Arschlöcher, die nichts auf die Reihe kriegen."
    "Das Leben danach", so heißt ein Spielfilm, der Ende September zur besten Sendezeit in der ARD laufen wird. Es ist die Geschichte von Antonia, einem jungen Mädchen, dem die Welt offenstand, bevor die Loveparade-Katastrophe sie aus der Bahn warf.
    "Was wird nicht mehr?"
    "Deine Tochter, die ist kaputt, die wird einfach nicht mehr."
    "Ich glaube, wenn man sich mit dem Thema befasst, dann kommt das raus. Wenn man sich mit so einer Figur befasst, dann kommt dieser Satz fast zwangsläufig. Unsere Figur spürt ja selbst, dass sie das Leben nicht mehr auf die Reihe kriegt und den anderen auf die Nerven geht. Und dann so eine Eifersucht auf die, die tot sind, das ist… Ah, da kriege ich Gänsehaut, ist tragisch…. Das ist einfach so."
    "Das ist halt unser Job. Wir erzählen Geschichten natürlich. Wir erzählen eine fiktive Geschichte, aber wir recherchieren natürlich genau und wir hören sehr genau zu." Die Drehbuch-Autoren Eva und Volker Zahn sitzen in ihrer Kölner Wohnung. "Das Leben danach" ist ihre fiktive Geschichte, die auf dem Unglück aufsetzt – und vor allem eines schaffen will: Die Katastrophe nach der Katastrophe –die psychischen Belastungen, die Traumata, die ausgebliebene politische Aufarbeitung – in aller Öffentlichkeit zu verdeutlichen:
    "Wir haben schon den Anspruch, Menschen da draußen auch noch mal klar zu machen, was jenseits der medialen Aufwallung, die mal so kurz nach so einer Tragödie aufkommt, was auch Jahre später noch, so etwas anrichten kann. Und dass man einfach Menschen, die ein Trauma erlitten haben, auch verstehen muss in all ihren Schrägheiten und Fehlerhaftigkeiten. Dass so Sprüche, die leider viele Betroffene tagtäglich hören, wie: Jetzt ist aber mal gut. Oder: Komm, ist doch jetzt schon ein paar Jahre her, jetzt reiß Dich mal zusammen. Dass man das einfach mal beiseitelässt, und sieht: Hier, diese Tragödie hat wirklich Leben zerstört." Auch deswegen, so Zahn, sei eben der nun beginnende Strafprozess so wichtig. "Weil, dieses Gefühl: Wir werden vergessen, dieses Gefühl: Das verläuft im Sand. Diese Angst wird durch den Prozess jetzt erst einmal aufgelöst, weil jetzt eine sehr intensive Auseinandersetzung damit passieren wird, was da schiefgelaufen ist."
    Der Prozess hat einen enormen Umfang
    "Ja, wir stehen jetzt hier im Eingangsbereich, draußen, vor dem CCD-Ost, dem Congress Center Düsseldorf-Ost." Markus Demuth steht in einer Halle der Düsseldorfer Messe, wo er arbeitet. Hier, in der Landeshauptstadt wird der wohl größte öffentliche Strafprozess stattfinden, den das Land je gesehen hat, wie es aus dem NRW-Justizministerium hieß: "Sehr gute Infrastruktur, wir haben eine Vorfahrtssituation für das Publikum, ein Parkhaus direkt neben dem Eingang."
    Denn neben dem zu erwartenden internationalen Interesse hat der Prozess einen enormen Umfang: Neben Richtern, Staatsanwälten und den zehn Beklagten und ihren Anwälten, gibt es bereits über 60 Nebenkläger, die ebenfalls einen Rechtsbeistand haben. Dazu Angehörige, Betroffene und eben normale Zuschauer.
    Demuth führt in den Vorraum, bleibt stehen und zeigt ins Foyer: "Wir werden hier Personenkontrollen haben, es wird Personenkontrollen auch in Form von Röntgengeräten und Metalldetektoren geben. So wie das in einem richtigen Gerichtssaal beim Landgericht auch der Fall wäre."

    Ab dem 8. Dezember tagt das Gericht jeweils Dienstags, Mittwochs und Donnerstags. Demuth fährt mit der Rolltreppe in den ersten Stock. Er geht ein paar Schritte. Hauptversammlungen, Unternehmensveranstaltungen, Parteitage, Fachmessen, alles habe seine Firma schon ausgerichtet, einen Gerichtssaal gab es bisher aber noch nicht. Von den Aufbauten sei das zwar ähnlich, aber: "Hausherr ist das Landgericht Duisburg und das wird hier während des Verfahrens zu einer Außenstelle des Landgerichts Duisburg, von daher geben wir sozusagen alle Gewalt in die Hände der Justiz. Das ist der große Unterschiede." Inklusive großer Schilder, die die Außenstelle markieren.
    Fotos der Opfer, Kerzen und Blumen an der Loveparade-Gedenkstätte in Duisburg.
    Fotos der Opfer, Kerzen und Blumen an der Loveparade-Gedenkstätte in Duisburg. (picture alliance / dpa / Monika Skolimowska)
    Demuth betritt jenen Raum, in dem ab Dezember getagt werden soll: "Hier sieht man tatsächlich in den Saal, dass dieses Kongress-Center multifunktional ist. Dieser Raum ist jetzt auch nicht ein Raum, sondern es sind jetzt drei Räume, die wir hier sehen, mit mobilen schallisolierenden Wänden versehen, die werden natürlich aufgefahren und zum Verfahren wird es ein großer Raum".
    750 Quadratmeter insgesamt. Drei Leinwände werden dann aufgestellt sein, das Großteil des Mobiliars komme von der Messe selbst. "Der Richtertisch ist allerdings, in Zusammenarbeit mit der Kammer, entwickelt worden, und zwar im Hinblick darauf, dass eine Steuerung der Tonanlage, der Videoanlage, möglichst optimal und intuitiv durch den Richter erfolgen kann."
    Das extra geschreinerte Modell lagere auch bereits in der Messe. Doch ungeachtet dieser außergewöhnlichen organisatorischen Vorbereitungen handelt es sich bei dem Loveparade-Strafverfahren natürlich auch juristisch um einen besonderen Prozess. "Allein der Aktenumfang ist immens. Wir sind jetzt der Hauptakte, mit dem 113 Band, auf Seite 52.000-und … Darüber hinaus gibt es nahezu 900 Ordner an Anlagen jetzt, diverse Festplatten mit 1.000 Stunden Videomaterial. Es sind mehrere tausend Zeugen vernommen worden. Also, das Aktenmaterial alleine ist immense", erklärt Matthias Breidenstein, Sprecher des Landgerichts Duisburg.
    2020 droht die Verjährung
    Zehn Beklagte gibt es, sechs Mitarbeiter der Stadt Duisburg sowie vier des Veranstalters Lopavent. Der Vorwurf lautet unter anderem auf fahrlässige Tötung und fahrlässige Körperverletzung. Die Kernfrage des Prozesses: Inwieweit lässt sich den Angeklagten nachweisen, dass ihr Handeln ursächlich für die Katastrophe war? "Also, wir haben auf der tatsächlichen Ebene das Problem, dass wir hier ein unglaublich komplexes Großereignis mit sehr vielen Beteiligten haben und es extrem kompliziert werden wird, für jeden einzelnen der Beteiligten ein, ja, erforderliches Fehlverhalten überhaupt festzustellen und dann zu schauen, inwieweit dieses Fehlverhalten kausal ist, für das eigentliche Unglück", sagt Björn Gercke aus Köln. Er ist Strafverteidiger eines der Beklagten. Seine Prognose: "Ich glaube, dass das Verfahren mit unserem Strafverfahrensrecht nicht verhandelbar ist. Ich glaube, dass der Umfang und die Komplexität so außergewöhnlich ist, dass man, auch mit Blick auf die Verjährung, die ja dann 2020 droht, in diesem Zeitraum, aber auch wahrscheinlich darüber hinaus, letztlich nicht aufklärbar sein wird."
    Das sah das Landgericht Duisburg im letzten Jahr ähnlich, und lehnte die Eröffnung des Strafprozesses ab, auch weil das zentrale Beweisstück der Staatsanwaltschaft aus seiner Sicht nicht verwertbar war; ein Gutachten des britischen Sicherheitsexperten für Großveranstaltungen, Keith Still. Das alles sah das Oberlandesgericht Düsseldorf im April diesen Jahres anders – und ordnete die Eröffnung des Prozesses an: "Nach Auffassung des Senates, sind die den Angeklagten vorgeworfenen Taten mit den in der Anklage aufgeführten Beweismitteln mit hinreichender Wahrscheinlichkeit nachweisbar. Dass die den Angeklagten vorgeworfenen Sorgfaltspflichtverletzungen ursächlich für die Todes- und Verletzungsfolgen waren, dränge sich nach dem Ermittlungsergebnis auf", gab Anne-José Paulsen, Präsidentin des OLG, damals bekannt.
    Rund zweieinhalb Jahre Zeit verbleiben also nun, den Prozess zu einem Abschluss zu führen – sonst droht im Juli 2020 die Verjährung. "Es ist natürlich richtig, dass es eine Vielzahl von Verfahrensbeteiligten gibt, die auch Einfluss auf die Hauptverhandlungen nehmen können, zum Beispiel, indem sie ihr Fragerecht oder ihr Beweisantragsrecht wahrnehmen, aber da sind wir auch zuversichtlich, dass die Strafkammer damit dann entsprechend umgehen wird", sagt Anna Christiana Weiler, Sprecherin der Staatsanwaltschaft. In der Gruppe der Opfer jedenfalls liegen große Hoffnungen auf diesem Prozess – was dem Duisburger Ombudsmann Jürgen Widera aber durchaus auch Sorgen macht: Denn diese können auch enttäuscht werden. Die Zeitschiene, sagt er, sei die eine Sorge. "Und das andere ist die Frage: Bringt der Prozess tatsächlich das ans Licht, was sich fast alle erhoffen. Nämlich, dass klar ist, welche Ursachen zu der Katastrophe geführt hat und wo die Verantwortlichkeit dafür liegt. Auch das ist etwas, wo ich im Moment auch noch ein dickes Fragezeichen hinter mache. Weil: Wir alle sind Ahnungslose, was diesen Prozess und einen solchen Prozess angeht."
    Die Loveparade-Stiftung plant daher, die Opfer bei dem Prozess zu unterstützen. Und will sich auch wegen finanzieller Unterstützung an die neue schwarz-gelbe Landesregierung in Nordrhein-Westfalen wenden. "Die Loveparade-Katastrophe war sicher einer der größten Katastrophen in der 70-jährigen Geschichte des Landes Nordrhein-Westfalen und sie ist für viele Menschen so präsent, weil sie alle die Bilder noch vor Augen haben und sie noch so naheliegt. Und insofern sind die Wunden noch offen."
    Im Koalitionsvertrag ist die Einführung eines Opferschutzbeauftragten verankert
    Armin Laschet ist seit nunmehr knapp einem Monat neuer Ministerpräsident in NRW. Es sei ein Fehler gewesen, damals keinen parlamentarischen Untersuchungsausschuss eingesetzt zu haben, betont er im Gespräch mit dem Deutschlandfunk. "Was aber eine Lehre ist, ist, dass man sich sehr frühzeitig den Opfern widmen muss. Die Opfer sind in diesem Moment völlig alleine, sie werden wahrscheinlich von vielen Seiten bestürmt, sie haben emotional einen riesigen Verlust erlitten und begegnen dann einem großen organisatorischen Wust, dem sie vielleicht nicht gewachsen sind."

    Das Land Berlin beispielsweise habe extra einen Opferschutzbeauftragten, mit dem Laschet vor einigen Monaten gesprochen hat. "Wir haben deshalb jetzt im Koalitionsvertrag verankert: Wir wollen auch einen solchen Opferschutzbeauftragten, der in Zukunft sofort ansprechbar ist in allen Dingen, die die Familien zu erleiden haben." So könne man aktiv helfen, hilft das auch den Opfern der Loveparade-Katastrophe? "Naja, das ist wahrscheinlich jetzt etwas spät, weil ja viele der Opfer inzwischen ihre Anwälte haben, sich in Selbsthilfegruppen organisiert haben. Dazu liegt das zu weit zurück. Ich glaube, für Opfer ist es wichtig, im Moment, wenn etwas passiert, wo niemand anderer da ist, dann eine Stelle zu haben, die einem viele Sorgen wegnimmt. Und insofern ist der Gedanke eher in die Zukunft gerichtet, als in die Vergangenheit."
    Der stellvertretende Bundesvorsitzende der CDU, Armin Laschet
    Für die Angehörigen und Betroffenen der Loveparade-Tragödie kommt die Idee eines Opferschutzbeauftragten von NRW-Ministerpräsident Armin Laschet vermutlich zu spät. (dpa / picture-alliance / Rolf Vennenbernd)
    Doch für die Angehörigen und Betroffenen der Loveparade-Tragödie kommt diese Idee zu spät. Wieder einmal. Es passt in das Bild der Katastrophe nach der Katastrophe.