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Brexit
"Das ist die große Stunde des britischen Parlaments"

Dass das britische Unterhaus per Abstimmung die Kontrolle über den Brexit-Prozess übernommen habe, sei eine Revolution, sagte die Rechtsexpertin Dagmar Schiek im Dlf. Damit sei Regierungschefin Theresa May nicht mehr Herrin des Verfahrens – es hätte für May aber auch noch viel schlimmer kommen können.

Dagmar Schiek im Gespräch mit Sarah Zerback | 26.03.2019
Die britische und die EU-Flagge vor dem Parlamentsgebäude in London
Das britische Parlament hat die Premierministerin im Brexit-Prozess entmachtet, meint die Juristin Dagmar Schiek (imago stock&people / Alberto Pezzali)
Sarah Zerback: Sie hat es mit Drohungen versucht, mit Druck und mit Schuldzuweisungen und mit beschwörenden Worten. Das hat alles nichts daran geändert, dass die Brexit-Pläne der Premierministerin krachend gescheitert sind. Zweimal hat das Parlament sie schon durchfallen lassen und in Brüssel stellt man sich bereits auf ein No-Deal-Szenario ein, den harten Brexit. Jetzt hat Theresa May die nächste Schlappe kassiert: Am späten Abend hat das Unterhaus entschieden, dass morgen über Alternativen zum Abkommen der Premierministerin abgestimmt werden soll – gegen den Willen der Regierung.
Am Telefon begrüße ich jetzt Dagmar Schiek. Sie forscht und lehrt schwerpunktmäßig über den Brexit an der Queen’s University im nordirischen Belfast. Guten Morgen, Frau Schiek!
Dagmar Schiek: Guten Morgen.
Zerback: Nach der spätabendlichen Abstimmung gestern, ist Theresa May da noch Herrin des Verfahrens?
Schiek: Das ist ja die Revolution von gestern Abend, dass das Parlament sich selbst zum Herren oder zu Herren und Damen des Verfahrens gemacht hat. Am Mittwoch wird jetzt die Tagesordnung des Parlaments vom Parlament bestimmt und nicht von der Regierung. Und deswegen ist Theresa May am Mittwoch nicht mehr Herrin des Verfahrens.
Regierung May wird noch gebraucht
Zerback: Was hat London den von einer entmachteten Regierung, mitten in diesem Brexit-Chaos?
Schiek: Ob die Regierung als solche entmachtet ist, das weiß man nicht ganz genau. Es ist so, dass das Parlament jetzt die Tagesordnung bestimmt. Aber was dabei rauskommt, das weiß man ja noch nicht. Das einzige was beschlossen wurde ist, dass es am Mittwoch einen Antrag zum Austritt aus der EU und den künftigen Beziehungen der EU geben wird. Aber der Inhalt des Antrags ist überhaupt noch nicht verhandelt. Und die Regierung, die braucht man nachher noch, um diesen Inhalt mit Leben zu füllen und nachher durchzusetzen und zum Europäischen Rat zu gehen und den umzusetzen.
Zerback: Damit ist jetzt erst mal klar, dass es da morgen weitere Abstimmungen …
Schiek: Übermorgen! Mittwoch, den 27. März!
Zerback: Genau! Das ist morgen nach meinem Kalender.
Schiek: Entschuldigung!
Zerback: Wir haben eine kleine Zeitverschiebung nach Belfast. Da kann man schon mal durcheinander geraten.
Schiek: Aber nur eine Stunde.
"Es könnte sein, dass es noch mal eine Volksabstimmung gibt"
Zerback: Vor allen Dingen bei den zahlreichen Abstimmungen, die wir beobachten. Auf jeden Fall geht es um Alternativen zu Mays Deal. Welche Optionen liegen denn da auf dem Tisch?
Schiek: Es wurden ja gestern nicht alle Optionen abgestimmt. Es wurden ja nur drei Anträge überhaupt aufgerufen. Der Antrag der Labour Party wurde nachher nicht abgestimmt. Aber das Modell des sogenannten Common Market 2.0, wohinter sich auch die Labour Party gestellt hat, das ist weiterhin auf dem Tisch. Das bedeutet, das Austrittsabkommen wird akzeptiert, wie es ist. Aber für die zukünftigen Beziehungen, da soll noch mal grundsätzlich geändert werden und da soll das Vereinigte Königreich dann im Binnenmarkt bleiben und darüber hinaus außerdem in einer Zollunion der EU. Das ist diese Common Market-2.0-Version, die nicht nur von Labour unterstützt wird, sondern auch von den neuen unabhängigen Abgeordneten, die bei Labour ausgetreten sind.
Dann gab es den Antrag von Vince Cable und anderen. Das war übrigens auch ein parteiübergreifender Antrag, der von Labour und Konservativen mit unterstützt wurde, nicht nur von den Lib Dems. Der fordert eine Volksabstimmung. Und dafür sind ja auch einige Leute, nach unterschiedlichen Angaben bis zu eine Million auf die Straße gegangen. Und es gibt ja auch den Antrag an das Parlament aus der Bevölkerung, der über vier Millionen Unterstützung hat. Es könnte durchaus sein, dass es noch mal eine Volksabstimmung gibt, was dann aber eine längere Mitgliedschaft des Vereinigten Königreichs erfordert und die Teilnahme an den Parlamentswahlen zum Europäischen Parlament.
Dazwischen gibt es dann noch weiterhin, dass man trotzdem mit dem Austrittsabkommen austritt, oder die Möglichkeit, dass man nicht mit diesem Austrittsabkommen austritt. Aber was das jetzt genau sein soll, diese dritte Vision, der Antrag, der nachher gewonnen hat mit 327 zu 300 Stimmen - darunter waren ja 117 Abgeordnete plus die fünf Stimmführerinnen und Stimmführer. Da war kein Inhalt drin, und die hoffen, dass es noch mal eine völlig neue Alternative gibt. Aber mir ist nicht klar, was das werden soll – ihnen aber auch nicht.
Parlament muss entscheiden, wie es weitergeht
Zerback: Alles auf dem Tisch und viele Fragezeichen. Rechtlich bindend ist das Abstimmungsergebnis am Mittwoch doch auch nicht.
Schiek: Das ist eine ganz schwierige Frage, was ist eigentlich richtig bindend im britischen Parlament. Wenn das britische Parlament ein Gesetz annimmt, dann ist es ja auch so, dass die Regierung das Gesetz in Kraft setzen muss. Und manchmal machen die das einfach nicht. Aber trotzdem ist das natürlich, wenn das Parlament ein Gesetz annimmt, rechtlich bindend. Was am Mittwoch passiert, das wird sich im Bereich der internationalen Beziehungen, der internationalen Politik bewegen, und da kann das Parlament die Regierung eigentlich nicht binden. Allerdings wird die Regierung politisch gebunden sein. Das denke ich schon, dass die das machen müssen, was das Parlament macht, politisch gesehen.
Zerback: Heißt das denn jetzt auch, dass nicht noch ein drittes Mal über Mays Deal abgestimmt wird? Oder ist der weiterhin auf dem Tisch?
Schiek: Das heißt es nicht, weil der Antrag, der angenommen wurde, der ist ja. Es gibt ja Anträge, die gesagt haben, das was May da vorgeschlagen hat als ihren Vorschlag, das heißt, dass das Parlament in Übereinstimmung mit Artikel 13 vom European Union Act agiert, dem dritten Statement considered -, das ist ja nicht aufgehoben worden, sondern nur dadurch ergänzt worden, dass jetzt das Parlament entscheiden muss, wie es weitergehen wird. Es ist durchaus möglich, dass das Austrittsabkommen noch mal abgestimmt wird, allerdings mit einer fundamentalen Änderung in Bezug auf die zukünftigen Beziehungen der EU und des UK, und dass damit dann die dritte Abstimmung auch ermöglicht wird. Das kann nicht mehr unverändert abgestimmt werden. Da steht ja der Parlamentssprecher davor.
May hat "ein ziemliches Durchhaltevermögen"
Zerback: Und dafür, für Mays Deal doch noch Stimmen zu bekommen, da würde May, hat sie gesagt, tatsächlich ihr Amt zur Verfügung stellen. Geht dieses Kalkül auf? Wird sie das wirklich tun?
Schiek: Sie hat ja gesagt, sie stellt das Amt zur Verfügung, wenn sie das durch hat – nicht vorher. Das ist ja so eine Art Erpressung. Bisher war es so: Wenn sie was gesagt hat, dann hat sie das auch gemacht. Das war auch schon die ganze Zeit so, als sie Innenministerin war: Wenn sie was zugesagt hat, dann hat sie das eingehalten. Von daher, die Erfahrung spricht dafür, dass sie das tun wird. Wenn die konservative Partei sie nicht bittet: Bleib doch, wir haben keine Alternative.
Zerback: Und wenn vor allen Dingen sich auch im Nachhinein alle an diesen Deal halten.
Schiek: Genau.
Zerback: Jetzt wetten britische Buchmacher darauf, dass sich Theresa May höchstens noch ein paar Tage halten kann. Ziehen Sie da mit?
Schiek: Mit Wetten habe ich immer ganz viel Pech. Ich gewinne auch nie im Lotto. Das weiß ich nicht. Sie hat schon ein ziemliches Durchhaltevermögen.
Zerback: Können oder wollen die Tories ihre Parteichefin nicht zum Rücktritt zwingen?
Schiek: Ich habe den Eindruck, das ist so ein Fall von "meine Frau muss das Gröbste, den Karren erst mal wieder aus dem Dreck ziehen". Und solange wir nicht raus sind aus dem Dreck, wird sich auch keiner von diesen Konkurrenten da vor den Karren spannen.
"Es hätte schlimmer sein können"
Zerback: Ist auch die Frage, was sich überhaupt ändern würde, wenn jemand anders die Brexit-Verhandlungen übernimmt.
Schiek: Naja, mit Boris Johnson wird nichts zum Positiven, würde ich mal sagen.
Zerback: Lassen Sie uns ganz kurz über diesen Präzedenzfall heute sprechen. Den nennt Theresa May ja selbst gefährlich und er würde das Gleichgewicht zwischen den demokratischen Institutionen durcheinanderbringen, dass sie da so massiv entmachtet wurde. Sehen Sie das auch so?
Schiek: Ich finde eigentlich, das ist die große Stunde des Parlaments. Das ist schon ziemlich revolutionär, dass ein Parlament gerade in internationalen Beziehungen das Ruder an sich reißt. Es hätte ja schlimmer sein können. Die Anträge, die das Statement von der Premierministerin ausradieren, die sind ja nicht durchgekommen. Das ist ein Antrag, der ihr Statement unterstützt. Das Parlament sagt nur, alleine mit deinem Statement gibt es hier anscheinend keinen Erfolg. Du hast es zweimal versucht, jetzt sind wir dran. Das finde ich gut! Ich finde das eine große Stunde des britischen Parlaments.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.