Ulrike Burgwinkel: Erziehung bedeutet die Ausübung von Macht über Menschen. Dieser Ausspruch des Reformpädagogen Wilhelm Flitner wurde gerne genutzt zur Eröffnung in einer Erstsemestervorlesung an der Humboldt-Uni Berlin, so heißt es zumindest, von Professor Heinz-Elmar Tenorth. Der Erziehungswissenschaftler hat die Bildungspolitik hierzulande begleitet und durchaus auch kritisiert, heute nun hält der Forscher und Lehrer seine Abschiedsvorlesung. "Pädagogik, eine ungeliebte Disziplin" ist das Generalthema. Herr Professor Tenorth, guten Tag nach Berlin!
Heinz-Elmar Tenorth: Guten Tag, Frau Burgwinkel!
Burgwinkel: Worüber werden Sie denn heute sprechen? Versuchen Sie es bei uns in, sagen wir, drei, vier Sätzen?
Tenorth: In drei, vier Sätzen werde ich es vielleicht doch nicht schaffen. Der letzte Teil, der fehlte für die Vorlesung und für die Studierenden, war die Frage: Wenn man die Pädagogik nicht allgemein als ein Wissenssystem betrachtet, das es in unterschiedlicher Gestalt gibt, welche spezifische Rolle hat denn die Pädagogik an Universitäten? Was kann man hier an Universitäten in besonderer Weise über pädagogische Verhältnisse, über das Wissen von Erziehung lernen, und mit welchen Erwartungen von außen lebt die Pädagogik in der Universität und kann sie leisten, was an Erwartungen existieren?
Burgwinkel: Und was kann sie leisten?
Tenorth: Die Pädagogik kann weniger leisten, als die Öffentlichkeit erwartet. Ich mache das bildungshistorisch, und man kann sehen, die Pädagogik kommt in die Universität hinein in einer Zeit, in der die Gesellschaft merkte, dass Pluralität von Meinungen und Werten existieren, Kontroversen über das richtige Aufwachsen. Und die Pädagogik an Universitäten sollte Einheit stiften, eine neue Gesamtidee der Bildung, eine neue Gesamtidee für die öffentliche Erziehung. Also das, was die Politik nicht mehr selbst leisten konnte, sollte die universitäre Pädagogik leisten. Und das wissen wir natürlich, das ist etwa 100 Jahre her und 100 Jahre lang probiert worden, das genau kann sie nicht. Sie kann nicht die Rolle der Politik, sie kann nicht die Rolle der Öffentlichkeit nehmen und übersetzen. Was sie tun kann, die Pädagogik, sind relativ einfache, aber schwierig manchmal zu leistende Dinge. Sie kann das, was an Bildungspolitik, an Erziehungen, an den Bedingungen des Aufwachsens geschieht, analytisch und aus der Distanz und kritisch beobachten, dass wir wissen, welche Effekte richten Erzieher an, denn sie richten etwas an, sie haben die Macht über Menschen - Sie haben dieses berühmte Flitner-Zitat ja selbst erwähnt. Wir haben, wenn Sie sich zurückerinnern, in den letzten anderthalb Jahren ganz stark über Missbrauch in der Erziehung gesprochen, und dieses Zitat, das Flitner wählt, stammt aus einem solchen Kontext. Es war die Erinnerung seiner Kollegen daran, dass man die Gewalt, die der Erziehung innewohnt, nur legitim ausüben darf, dass man sie nur in einer Form ausüben darf, dass man die freiwillige Zustimmung des Adressaten bekommt. Solche Fragen kann die Erziehung systematisch klären. Und das Zweite, was sie dann tun kann als Bildungsforschung, uns die Effekte zeigen, die sich, auf die Biografie von Individuen bezogen, mit dem Erziehungssystem verbinden. Ob wir genügend qualifiziert sind, ob wir die Kompetenzen erwerben, die wir erwerben sollen, und die Kompetenzen, die wir im Lebenslauf brauchen, woher Ungerechtigkeit in Bildungsprozessen kommt, wie ungleichheitig Erziehung stabilisiert oder abgebaut wird, das kann man in empirischer Forschung sehr gut machen. Das Paradebeispiel dafür, das alle kennen, sind die PISA-Studien, aber die sind nur ein ganz kleiner Baustein in dem großen empirischen Feld der Beobachtung der Erziehung, das wir auch seit 100 Jahren in immer besserer Qualität und immer größerer Breite haben. Man darf das gar nicht nur auf PISA reduzieren. Diese beiden Dinge, kritische Reflexion auf der einen Seite und Beobachtung der Effekte auf der anderen, das sind die Kerngeschäfte, die wir können. Das Dritte können wir schon viel weniger: Wir haben nicht gute Rezepte für unmittelbares Handeln, also eine Zeit lang die Erwartung, als könnten wir den Lehrern in der Ausbildung Rezepte mitgeben, wie sie das richtig machen - das ist falsch, nach allem, was wir wissen. Die Lehrer sind selbst sehr kompetent, die müssen eher lernen, mit Wissen umzugehen, um in ihrem Handeln im Alltag autonom zu bleiben, aber die können nicht Rezepte aus der Uni holen und mitnehmen, sozusagen nach dem Nürnberger-Trichter-Modell. Es hat eine Zeit lang diese Vision und diese Erwartung, diese falsche Erwartung gegeben, davon sind wir weg. Wir machen Lehrer zu klugen, handlungsfähigen, gegenüber Theorie resistenten Akteuren, aber wir regieren nicht in ihre Köpfe hinein.
Burgwinkel: Dann beziehe ich mich jetzt noch mal ganz kurz auf eine Sache, die Sie kurz angeschnitten haben auch nur: Wie ließe sich denn Ihrer Meinung nach die derzeit bei den Politikern hoch im Kurs stehende Bildungsgerechtigkeit verwirklichen? Kann die Pädagogik da ihren Beitrag zu leisten?
Tenorth: Ja, sie kann in der ersten Dimension, die ich genannt habe, zunächst mal klären, was darf man legitimerweise erwarten, was bedeutet Bildungsgerechtigkeit. Bedeutet Bildungsgerechtigkeit - das ist nämlich etwas, was wir nicht leisten können -, dass jeder am Ende seines Lernprozesses die gleichen Ziele, den gleichen sozialen Status, das geht nicht. Bildungsgerechtigkeit darf nicht verwechselt werden mit der Herstellung von Zielgleichheit. Bildungsgerechtigkeit muss sein, dass wir Lerngelegenheiten anbieten und schaffen, bei denen jeder die Chance hat, in seinen eigenen Möglichkeiten möglichst stark und intensiv gefördert zu werden. Und da kann die Erziehungswissenschaft schon sagen, wie solche Lerngelegenheiten aussehen müssen. Einen Teil, wissen wir, hat das mit Schule zu tun, wir können inzwischen deutlicher sagen, wie viele Kontextbedingungen man dabei verändern muss, Unterstützung von Familien, einen relativ frühen Beginn. Ich finde ganz wichtig eine zweite Chance im Lebenslauf für die Absolventen der Pflichtschulen, beim Übergang in den Beruf und in den Lebenslauf hinein muss man eine zweite Gelegenheit anbieten, die als Lerngelegenheit Bildungsbenachteiligungen auszugleichen hilft. Das kann man sagen. Man kann auch etwas Triviales - gerade wenn man die Hartz-IV-Verhandlungen beobachtet hat - Triviales sagen: Das bedarf der finanziellen Unterstützung. Wir haben kein vernünftiges Stipendiensystem, wir haben nicht genügend Finanzierung in den Zwischenbereichen zwischen Schule, Beruf und Lebenswelten. Das wissen wir relativ gut, und wir wissen das Dritte, was ein wesentlicher Faktor ist, vielleicht nicht der einzige, aber wesentlich unterschätzt: Lerngelegenheiten bedeutet immer auch neue und mehr Lernzeiten anzubieten, denjenigen, die mit Benachteiligung, was Bildungschancenwahrnehmung angeht, in den Lebenslauf eintreten. Die müssen zusätzliche Lernzeiten bekommen, zusätzliche betreute, sinnvoll ausgefüllte Lernzeiten. Ganztagsschule alleine reicht gar nicht aus.
Burgwinkel: Herzlichen Dank, das war ja fast ein Plädoyer. Alles Gute ...
Tenorth: Ich danke Ihnen!
Burgwinkel: ... für Ihre Zeit danach. Professor Heinz-Elmar Tenorth war das. Der renommierte Bildungshistoriker hält heute um 16 Uhr seine Abschiedsvorlesung an der Humboldt-Universität in Berlin.
Heinz-Elmar Tenorth: Guten Tag, Frau Burgwinkel!
Burgwinkel: Worüber werden Sie denn heute sprechen? Versuchen Sie es bei uns in, sagen wir, drei, vier Sätzen?
Tenorth: In drei, vier Sätzen werde ich es vielleicht doch nicht schaffen. Der letzte Teil, der fehlte für die Vorlesung und für die Studierenden, war die Frage: Wenn man die Pädagogik nicht allgemein als ein Wissenssystem betrachtet, das es in unterschiedlicher Gestalt gibt, welche spezifische Rolle hat denn die Pädagogik an Universitäten? Was kann man hier an Universitäten in besonderer Weise über pädagogische Verhältnisse, über das Wissen von Erziehung lernen, und mit welchen Erwartungen von außen lebt die Pädagogik in der Universität und kann sie leisten, was an Erwartungen existieren?
Burgwinkel: Und was kann sie leisten?
Tenorth: Die Pädagogik kann weniger leisten, als die Öffentlichkeit erwartet. Ich mache das bildungshistorisch, und man kann sehen, die Pädagogik kommt in die Universität hinein in einer Zeit, in der die Gesellschaft merkte, dass Pluralität von Meinungen und Werten existieren, Kontroversen über das richtige Aufwachsen. Und die Pädagogik an Universitäten sollte Einheit stiften, eine neue Gesamtidee der Bildung, eine neue Gesamtidee für die öffentliche Erziehung. Also das, was die Politik nicht mehr selbst leisten konnte, sollte die universitäre Pädagogik leisten. Und das wissen wir natürlich, das ist etwa 100 Jahre her und 100 Jahre lang probiert worden, das genau kann sie nicht. Sie kann nicht die Rolle der Politik, sie kann nicht die Rolle der Öffentlichkeit nehmen und übersetzen. Was sie tun kann, die Pädagogik, sind relativ einfache, aber schwierig manchmal zu leistende Dinge. Sie kann das, was an Bildungspolitik, an Erziehungen, an den Bedingungen des Aufwachsens geschieht, analytisch und aus der Distanz und kritisch beobachten, dass wir wissen, welche Effekte richten Erzieher an, denn sie richten etwas an, sie haben die Macht über Menschen - Sie haben dieses berühmte Flitner-Zitat ja selbst erwähnt. Wir haben, wenn Sie sich zurückerinnern, in den letzten anderthalb Jahren ganz stark über Missbrauch in der Erziehung gesprochen, und dieses Zitat, das Flitner wählt, stammt aus einem solchen Kontext. Es war die Erinnerung seiner Kollegen daran, dass man die Gewalt, die der Erziehung innewohnt, nur legitim ausüben darf, dass man sie nur in einer Form ausüben darf, dass man die freiwillige Zustimmung des Adressaten bekommt. Solche Fragen kann die Erziehung systematisch klären. Und das Zweite, was sie dann tun kann als Bildungsforschung, uns die Effekte zeigen, die sich, auf die Biografie von Individuen bezogen, mit dem Erziehungssystem verbinden. Ob wir genügend qualifiziert sind, ob wir die Kompetenzen erwerben, die wir erwerben sollen, und die Kompetenzen, die wir im Lebenslauf brauchen, woher Ungerechtigkeit in Bildungsprozessen kommt, wie ungleichheitig Erziehung stabilisiert oder abgebaut wird, das kann man in empirischer Forschung sehr gut machen. Das Paradebeispiel dafür, das alle kennen, sind die PISA-Studien, aber die sind nur ein ganz kleiner Baustein in dem großen empirischen Feld der Beobachtung der Erziehung, das wir auch seit 100 Jahren in immer besserer Qualität und immer größerer Breite haben. Man darf das gar nicht nur auf PISA reduzieren. Diese beiden Dinge, kritische Reflexion auf der einen Seite und Beobachtung der Effekte auf der anderen, das sind die Kerngeschäfte, die wir können. Das Dritte können wir schon viel weniger: Wir haben nicht gute Rezepte für unmittelbares Handeln, also eine Zeit lang die Erwartung, als könnten wir den Lehrern in der Ausbildung Rezepte mitgeben, wie sie das richtig machen - das ist falsch, nach allem, was wir wissen. Die Lehrer sind selbst sehr kompetent, die müssen eher lernen, mit Wissen umzugehen, um in ihrem Handeln im Alltag autonom zu bleiben, aber die können nicht Rezepte aus der Uni holen und mitnehmen, sozusagen nach dem Nürnberger-Trichter-Modell. Es hat eine Zeit lang diese Vision und diese Erwartung, diese falsche Erwartung gegeben, davon sind wir weg. Wir machen Lehrer zu klugen, handlungsfähigen, gegenüber Theorie resistenten Akteuren, aber wir regieren nicht in ihre Köpfe hinein.
Burgwinkel: Dann beziehe ich mich jetzt noch mal ganz kurz auf eine Sache, die Sie kurz angeschnitten haben auch nur: Wie ließe sich denn Ihrer Meinung nach die derzeit bei den Politikern hoch im Kurs stehende Bildungsgerechtigkeit verwirklichen? Kann die Pädagogik da ihren Beitrag zu leisten?
Tenorth: Ja, sie kann in der ersten Dimension, die ich genannt habe, zunächst mal klären, was darf man legitimerweise erwarten, was bedeutet Bildungsgerechtigkeit. Bedeutet Bildungsgerechtigkeit - das ist nämlich etwas, was wir nicht leisten können -, dass jeder am Ende seines Lernprozesses die gleichen Ziele, den gleichen sozialen Status, das geht nicht. Bildungsgerechtigkeit darf nicht verwechselt werden mit der Herstellung von Zielgleichheit. Bildungsgerechtigkeit muss sein, dass wir Lerngelegenheiten anbieten und schaffen, bei denen jeder die Chance hat, in seinen eigenen Möglichkeiten möglichst stark und intensiv gefördert zu werden. Und da kann die Erziehungswissenschaft schon sagen, wie solche Lerngelegenheiten aussehen müssen. Einen Teil, wissen wir, hat das mit Schule zu tun, wir können inzwischen deutlicher sagen, wie viele Kontextbedingungen man dabei verändern muss, Unterstützung von Familien, einen relativ frühen Beginn. Ich finde ganz wichtig eine zweite Chance im Lebenslauf für die Absolventen der Pflichtschulen, beim Übergang in den Beruf und in den Lebenslauf hinein muss man eine zweite Gelegenheit anbieten, die als Lerngelegenheit Bildungsbenachteiligungen auszugleichen hilft. Das kann man sagen. Man kann auch etwas Triviales - gerade wenn man die Hartz-IV-Verhandlungen beobachtet hat - Triviales sagen: Das bedarf der finanziellen Unterstützung. Wir haben kein vernünftiges Stipendiensystem, wir haben nicht genügend Finanzierung in den Zwischenbereichen zwischen Schule, Beruf und Lebenswelten. Das wissen wir relativ gut, und wir wissen das Dritte, was ein wesentlicher Faktor ist, vielleicht nicht der einzige, aber wesentlich unterschätzt: Lerngelegenheiten bedeutet immer auch neue und mehr Lernzeiten anzubieten, denjenigen, die mit Benachteiligung, was Bildungschancenwahrnehmung angeht, in den Lebenslauf eintreten. Die müssen zusätzliche Lernzeiten bekommen, zusätzliche betreute, sinnvoll ausgefüllte Lernzeiten. Ganztagsschule alleine reicht gar nicht aus.
Burgwinkel: Herzlichen Dank, das war ja fast ein Plädoyer. Alles Gute ...
Tenorth: Ich danke Ihnen!
Burgwinkel: ... für Ihre Zeit danach. Professor Heinz-Elmar Tenorth war das. Der renommierte Bildungshistoriker hält heute um 16 Uhr seine Abschiedsvorlesung an der Humboldt-Universität in Berlin.