
Es war eine im wahrsten Sinne des Wortes bewegende Erfolgsmeldung, die 2018 die Runde machte: "Yeah, yeah, yeah… three steps!" So freute sich damals der Querschnittgelähmte David Mzee über seine ersten Schritte seit seinem Unfall.
Ein Forscherteam um den französischen Neurowissenschaftler Grégoire Courtine hatte dem Schweizer Sportlehrer als einem von drei Patienten einen Rückenmarksstimulator implantiert. Elektroden, die Nervenbahnen unterhalb der lähmenden Verletzung aktivieren und so die Beine wieder beweglich machen.
Auch für komplett Querschnittgelähmte geeignet
Der Erfolg des Ansatzes beeindruckte damals Experten und Öffentlichkeit. Doch von einem neuen Therapieverfahren war man noch weit entfernt. Jetzt, knapp dreieinhalb Jahre später, präsentieren Gregoire Courtine und sein Team an der Technischen Hochschule Lausanne eine Folgestudie, in der sie ihre Stimulationstechnik weiter verbessert haben.
"Bisher haben wir – genau wie alle anderen Gruppen, die auf diesem Feld arbeiten – immer Elektrodenarrays benutzt, die eigentlich für die Behandlung von chronischen Schmerzen entwickelt wurden. Damit konnten wir zeigen, dass unser Ansatz grundsätzlich funktioniert. Aber jetzt, mit unserem bedarfsangepassten Implantat, wird die Therapie präziser und effektiver. 2018 haben wir mit inkomplett gelähmten Patienten begonnen, die ihre Beine nicht bewegen, aber noch etwas spüren konnten. Diesmal haben wir Patienten eingeschlossen, deren Unterkörper komplett querschnittgelähmt ist, also keine Bewegung, keine Gefühle hat."
Erste Erfolge nach nur wenigen Stunden
Die Elektroden des neuen Implantats sind länger und breiter. Außerdem haben die Wissenschaftler eine Software entwickelt, durch die die notwendige Individualisierung der Stimulation erleichtert wird, erklärt Jocelyne Bloch. Sie arbeitet am Universitätsklinikum Lausanne und ist die Neurochirurgin im Team von Grégoire Courtine:
"Wir konnten so nicht nur die Beine ansprechen, sondern auch Rumpfmuskeln aktivieren – und das war ganz neu für uns. Dank der technischen Verbesserungen konnten alle drei Patienten unmittelbar nach der Operation aufstehen und Schritte und Gehbewegungen machen."
Wenn auch erstmal nur mit beträchtlicher Stützhilfe. Ohne Belastung gehen die Muskeln verloren, die das Eigengewicht tragen. Sie müssen erst allmählich wieder aufgebaut werden. Auch das Gleichgewicht muss neu erlernt werden.
"Unser Stimulator ermöglicht keine Wunder"
Um tatsächlich selbstständig auf den eigenen Beinen zu stehen und mit einem Rollator Schritte zu machen oder sogar zu gehen, trainierten die drei Studienteilnehmer über Monate hinweg mehrere Stunden am Tag.
"Unser Stimulator vollbringt keine Wunder. Aber er macht es möglich, direkt mit dem Training zu beginnen."
Dass das funktioniert, zeigt, wieviel die Forschenden inzwischen über die Anatomie und Funktion des Rückenmarks gelernt und in ihrer Steuerungssoftware umgesetzt haben.
Stehen, gehen, schwimmen
"Wenn ich die Stimulation anschalte, kann ich damit stehen, gehen, schwimmen oder auch meine Bauchmuskeln trainieren."
Berichtet Michel Rocatti. Er ist einer der drei Männer, die in der aktuellen Studie trotz kompletter Querschnittlähmung der Beine von dem implantierten Schrittmacher profitieren. Ohne Stimulation kann er seine Beine nach wie vor weder spüren noch bewegen.
Bewegungsfreiheit nur mit Schrittmacher
Anders als bei dem inkomplett Gelähmten David Mzee, der 2018 erste selbstständige Schritte machte und inzwischen mit Rollator 470 Meter gehen kann, hat Michel Rocatti durch das Training keine willkürliche Kontrolle über seinen Körper zurückbekommen. Wenn er stehen, gehen oder Bauchaufzüge machen will, muss er dafür ein entsprechendes Programm auf der Steuereinheit seines individualisierten Stimulators auswählen.
Das gehört jetzt zu meinem Alltag und das ist gut, sagt er. Wenn es ein Geländer gibt, kommt er inzwischen sogar eine kurze Treppe hoch. Bei der Arbeit begrüßt er Klienten gerne im Stehen – auf Augenhöhe. Dieses Frühjahr möchte der sportbegeisterte Italiener es schaffen, einen Kilometer am Stück zu gehen.
Goldstandard: Rollstuhl
Ein Video der Technischen Hochschule Lausanne zeigt ihn beim Training. Sehr langsam, mit fast rechteckigen Schritten schiebt er einen Rollator. Es sieht aus als würde er gegangen werden. Einen knappen viertel Meter schafft er pro Sekunde – und ist damit der Schnellste der drei Studienteilnehmer. Um als Fußgänger bei Grün eine Straße zu überqueren, muss man etwa viermal so schnell gehen. Für Norbert Weidner, den ärztlichen Direktor der Klinik für Paraplegiologie der Uniklinik Heidelberg, ganz klar ein Grund, vor zu hohen Erwartungen zu warnen:
"Das wissen wir zum Beispiel auch von Patienten, sogenannten Grenzgängern, die so gerade eben gehfähig, eine Rehabilitationsbehandlung abschließen und ins häusliche Umfeld kommen. Also die sind in der Lage wenige Meter mit Hilfsmitteln, mit Rollator zu gehen. Und es ist halt in nicht wenigen Fällen so, dass dieses Level oder Niveau nicht gehalten werden kann, sondern am Ende des Tages die Patienten sich dann dazu entscheiden, dass sie dann sagen: Dann nutze ich lieber den Rollstuhl."
Auch wenn Michel Rocatti weiter läuft als jeder komplett Querschnittgelähmte vor ihm – um schnell von A nach B zu kommen, nutzt er seinen Rollstuhl. Wie sehr ein Rückenmarksstimulator das Leben eines Patienten bereichert, wird individuell sehr verschieden bleiben und auch von der persönlichen Motivation abhängen.
Noch nicht ganz da, aber auf dem Weg in die klinische Praxis
Die Probanden in Gregoire Courtins Studien waren sportbegeisterte, hoch motivierte Männer deutlich unter 50. Norbert Weidners Patienten sind meist über 60 und nicht durch einen Sportunfall sondern durch eine Krankheit gelähmt.
"Insofern: Ich erachte das als ein sehr wichtiges und interessantes Therapieverfahren, was aber schlichtweg noch weiterentwickelt werden muss. Und das wird es auch, um dann auch noch eine höhere Alltagsrelevanz zu erhalten."
Dass der Weg noch weit ist, wissen auch Grégoire Courtin und Joyceline Bloch. Derzeit planen Sie unter anderem eine große klinische Studie. Die amerikanische Arzneimittelbehörde FDA hat die Genehmigung dafür bereits erteilt.












