Die 26 Mitglieder des Deutschen Ethikrates haben auf die öffentliche Debatte reagiert und nuneine Empfehlung ausgesprochen. Die Mehrzahl des unabhängigen Gremiums spricht sich dafür aus, eine Impfpflicht für bestimmte Berufsgruppen zu prüfen (ohne Gegenstimme, drei Enthaltungen). Bereits gestern hatte der Präsident der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina, Haug, eine Impfpflicht für bestimmte Gruppen als ein mögliches "Instrument" zur Eindämmung der Pandemie ins Gespräch gebracht. Von einer allgemeinen Impfpflicht jedoch nicht die Rede.
Als Argument führen die Experten des Ethikrates die Schutzpflicht und Verantwortung der Beschäftigten gegenüber "schwer oder chronisch kranken sowie hochbetagten Menschen" an, die vesorgt und behandelt werden müssen. Allerdings sieht der Ethikrat auch Vorbehalte der Betroffenen gegen eine mögliche Impfpflicht. So warnt er ganz offen vor "Berufsausstiegen" oder einer "Verstärkung struktureller Probleme in Einrichtungen", soll heißen: wenn Altenpfleger und Krankenschwestern ihren Job kündigen, könnte sich die Lage in Altenheimen und Krankenhäuser weiter verschlechtern.
Der Ethikrat spricht daher von "strukturellen Problemen", die auf keinen Fall verstärkt werden dürften. Der Prüfauftrag an die "Bundesregierung" ist deshalb auch unmissverständlich formuliert. "Vielfach diskutierte Sorgen um etwaige negative Konsequenzen einer solchen Maßnahme, müssen berücksichtigt werden."
Prinzip Hoffnung
Das Expertengremium verspricht sich von der jetzigen Debatte einen neuen Impuls für die Impfkampagne. So heißt es in der Stellungnahme:
"Es steht zu hoffen, dass bereits die Diskussion um die Einführung einer gesetzlichen Impfpflicht als ein Signal in den Institutionen wahrgenommen wird, zügig effektive, aufsuchende Impfkampagnen mit zielgruppenspezifischer Information und Aufklärung für die verschiedenen Berufsgruppen zu organisieren."
Zwar räumt der Ethikrat ein, dass in anderen europäischen Ländern bereits eine Impfpflicht gegen Covid-19 eingeführt ist. Gleichwohl betonen die Experten des Gremiums, dass "die – auf Freiwilligkeit, Information, Überzeugungsarbeit und Vertrauensbildung beruhende – Impfstrategie unverändert wichtig bleibe. So sollten die Anstrengungen, "möglichst alle Menschen von der Notwendigkeit der Impfung zu überzeugen", verstärkt werden.
Zur Begründung für den jetzt formulierten Prüfauftrag einer Impfpflicht verweist der Deutsche Ethikrat auf seine Stellungnahme zur Masernimpfung 2019. In einem Positionspapier mit der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina wurde damals noch eine "undifferenzierte, allgemeine Impfpflicht" ausgeschlossen. Eine Impfpflicht ließe sich (nur) durch schwerwiegende Gründe und für eine präzise (!) definierte Personengruppe rechtfertigen, um schwere Schäden von gefährdeten Menschen abzuwenden.
Wer gehört zur (präzisen) Berufsgruppe ?
Die evangelische Theologin und Ethikratsmitglied Petra Bahr warnte davor, den Blick auf bestimmte Personen zu verengen. Es gehe nicht pauschal um bestimmte Berufsgruppen, sagte Bahr dem EvangelischenPressedienst. Es müssten je nach Einrichtung auch Reinigungskräfte, Küchenhilfen und Ergotherapheutinnen im Blick sein. Bahr erklärte, Hintergrund der Vorsicht vor einer Impfpflicht in Deutschland sei ein Freiheitsverständnis, das allein vom Individuum ausgehe "und so tut, als wären Gemeinschaftspflichten nachrangig".
Ähnlich sieht es die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina. Auf Anfrage der Deutschen Presseagentur nannte sie unter anderem Pflegepersonal, Lehrer und andere Berufsgruppen mit viel Kontakt zu anderen Menschen.
Verfassung: Recht auf körperliche Unversehrtheit
Der Medizinrechtler Josef Franz Lindner betonte, dass eine Impfpflicht ein schwerer Eingriff in die körperliche Unversehrtheit des Bürgers sei, die vom Grundgesetz per se geschützt sei. Aber jedes Grundrecht könne auch eingeschränkt werden, wenn es dafür hinreichend gewichtige Gründe gebe, sagte Linder dem Evangelischen Pressedienst.
Seine Argumentation folgt eher der Schutzpflicht des Staates. Wenn der Staat nicht mehr die medizinische Versorgung der Menschen gewährleisten könne, sei die Voraussetzung für eine gesetzliche Impflicht gegeben. Mildere Maßnahmen im rechlichen Sinne sieht der Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Medizinrecht und Rechtsphilosophie an der Universität Augsburg angesichts eine drohenden Überlastung der Kliniken nicht.
Warnung vor Radikalisierung
Der Bielefelder Konfliktforscher Andreas Zick befürchtet angesichts der Debatte über eine Impfpflicht eine weitere Verschärfung der gesellschaftlichen Auseinandersetzungen über die Corona-Politik. Er rechne damit, dass bestimmte Gruppen unter den Impfgegnern noch sehr viel aggressiver aufträten, sagte Zick dem Redaktionsnetzwerk Deutschland.
2G anstatt "Impfzwang"
Zugleich sieht Zick das Instrumentarium des Staates in der Corona-Pandemie noch nicht ausgeschöpft. "Vor der Einführung eines Impfzwangs haben wir noch andere Möglichkeiten, 3G etwa oder 2G; da ist noch Luft nach oben". Auch könne die Wiedereinführung der kostenlosen Tests deeskalierend wirken. Darauf weist auch die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina hin: als weitere Optionen für die politisch Verantwortlichen werden eine "größere Geltungsreichweite der 2G-Regel" und "eine angemessenere Regelung zur Offenlegung des Impfstatus" genannt.
Plädoyer für Auffrischungsimpfungen
Ein Autorenteam von Wissenschaftlern hat in ihrem heute (11.11.) vorgelegten Strategiepapier "Nachhaltige Strategien gegen die COVID-19-Pandemie in Deutschland im Winter 2021/2022" die Frage nach einer Impfplicht für bestimmte Berufsgruppen nicht direkt beantwortet. Langfristig sei eine "generelle Impfpflicht" nicht "notwendigerweise zielführend", heißt es. Angesichts der Sorge um überfüllte Krankenhäuser sei es zwar verständlich, dass Rufe nach einer Impfpflicht lauter werden. Damit aber eine generelle Impfpflicht ihre Wirkung entfalte, dürfe man kaum Ausnahmen erlauben, müssten also Strafen verhängt werden. Die Wissenschaftler warnen: die Durchsetzung müsste flächendeckend funktionieren. Sei das nicht der Fall, laufe man Gefahr die Gesellschaft weiter zu polarisieren.
Mit Blick auf eine spezielle Impfpflicht für bestimmte Berufsgruppen, heißt es: Auch wenn Arbeitgeber Mitarbeitern, die sich nicht impfen lassen wollten, kündigen könnten, dürfe man ihnen nicht vorschreiben, sich impfen zu lassen. "Das ist ein kleiner, aber wichtiger Unterschied. Dies bringt erhebliche Herausforderungen für den Zusammenhalt am Arbeitsplatz und den Zusammenhalt der Gesellschaft mit sich."
Boosterkampagne könnte Welle abbremsen
Die Wissenschaftler werben in ihrem Stratgiepapier stattdessen für mehr und vor allem rasche Auffrischungsimpfungen. Eine dritte Impfung für 50 Prozent der Menschen, die bereits doppelt geimpft seien, könnte demnach die negativen epidemiologischen Effekte durch den relativ hohen Anteil von bislang Ungeimpften "teilweise" wettmachen. Wörtlich heißt es: "Eine konsequente Boosterkampagne kann auch in Deutschland wahrscheinlich eine Welle abbremsen, wenn ausreichend viele Menschen zügig erreicht werden". Dies würden Studien aus Israel nahelegen. Die Max-Planck-Forscherin Viola Priesemann, sagte im Deutschlandfunk (
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), wenn man das Boostern jetzt schnell hinbekomme, werde man die Zeit überbrücken können.