Wolfgang Schäuble (CDU) "In unserer Gesellschaft driftet vieles auseinander"
Wolfgang Schäuble (CDU) darf mit fast 50 Jahren im Parlament als Urgestein des Deutschen Bundestags und seiner Partei gelten. Im Dlf mahnt er seine Landsleute, an einer gemeinsamen Öffentlichkeit festzuhalten, Politik und Gesellschaft nicht in partikulare Interessensphären zerfallen zu lassen.
Wolfgang Schäuble war mehrmals Minister, übte wichtige CDU-Parteiämter aus, als Bundestagspräsident hatte er zuletzt das protokollarisch zweitwichtigste Amt im Staat inne. Jetzt ist er, nach seiner Direktwahl im Wahlkreis Offenburg im September, wieder einfacher Abgeordneter.
Im Dlf verspricht er Oppositionsarbeit, um die Regierung zu beflügeln, betont die Verdienste von Fridays for Future - und erinnert Abgeordnete an ihren grundgesetzlichen Auftrag, die gesamte Bevölkerung zu vertreten und nicht nur Teile.
Schäuble: In unserer Gesellschaft driftet vieles auseinander (lange Version des Interviews)
Das Interview im Wortlaut:
Philipp May: 48,7 Jahre, das ist das Durchschnittsalter der Abgeordneten des Deutschen Bundestags in dieser Legislaturperiode. Das heißt, der oder die durchschnittliche Abgeordnete war 1972 noch gar nicht geboren, als Wolfgang Schäuble in den Bundestag einzog. Niemand hat die deutsche Politik also so lange, so maßgeblich mitgestaltet. Er war CDU-Vorsitzender, Fraktionsvorsitzender, Kanzleramtschef, Innenminister, Finanzminister und zuletzt – bis Oktober – Präsident des Deutschen Bundestags. Und jetzt, am Ende der politischen Laufbahn, ist er wieder einfacher Abgeordneter. Man könnte sagen, ein Kreis schließt sich.
Reden wir also über dieses Jahr, Herr Schäuble. Sie haben in Ihren fast 50 Jahren im Parlament viele Krisen erlebt, den RAF-Terror, 9/11 (den 11. September 2001), der Euro, Griechenland, Syrien, und dann der folgende Flüchtlingsstrom. Wo sortieren Sie dieses zweite Pandemiejahr 2021 ein?
Wolfgang Schäuble: Das gehört zu den schlimmeren Erfahrungen, weil wir wieder einmal sehen, was ja übrigens auch bei großen Naturkatastrophen so der Fall ist, dass wir mit aller unseren großen Fortschritten dann doch manchmal plötzlich ganz klein werden, dass sich die Natur oder die Schöpfung oder wer immer das, wie immer man das für sich persönlich glauben mag oder nicht, größer ist, als wir mit all unserer Klugheit bestreiten können. Insofern macht eine solche Erfahrung auch demütig.
Wir haben keine gemeinsame Öffentlichkeit mehr. Und wenn wir keine gemeinsame, geteilte Lebenswirklichkeit, keine gemeinsame Öffentlichkeit, keine gemeinsamen Debatten haben, dann macht mir das um den Bestand unserer Werteordnung [...] Sorgen.
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May: Was bereitet Ihnen denn mehr Sorgen, die medizinische Bewältigung der Pandemie oder die gesellschaftlichen Friktionen, die die Pandemie in diesem Jahr auch wieder sehr sichtbar gemacht hat?
Schäuble: Die medizinische Bewältigung macht natürlich jedem große Sorgen, aber auf der anderen Seite, so ist der Mensch, wir haben bisher immer es geschafft. Und wir haben ja wirklich bis jetzt gute Chancen in der ganzen Welt, dass wir die Erfahrungen früherer großer Pandemien nicht in diesem Ausmaße erleiden müssen, wie das früher der Fall gewesen ist. So schnell ist noch niemals ein Impfstoff erfunden worden. Das heißt, es zeigt sich ja, dass der Mensch, die Menschheit zu vielen Fortschritten in der Lage ist, aber insofern ist das Schlimme dabei in der Tat nicht nur die Medizin, sondern die Tatsache, dass wir auch bei solchen Anlässen, wo eigentlich alle enger zusammenrücken sollten, erfahren, dass in unserer Gesellschaft vieles auseinanderdriftet. Das hat vielleicht auch mit dem schnellen Wandel zu tun, die Lebensverhältnisse in Berlin am Prenzlauer Berg oder in Berlin Kreuzberg oder Neukölln oder in Stuttgart oder in Köln sind eben andere als bei mir zu Hause im Ortenaukreis, wo es auch sehr schön ist. Das ist ja eine Erfahrung, die wir in anderen Ländern auch machen, dass die Lebenswirklichkeiten der Menschen ganz unterschiedlich sind, wir haben nicht mehr die Einheit, wir haben nicht mehr die gemeinsamen Medien. Meine Enkel waren gerade über Weihnachten bei mir, die lesen gar keine Zeitung, die lachen über den Großvater, wenn er die Zeitung liest, und sagen: Guck mal, das haben wir doch alles auf dem Handy und so lange Sachen lesen wir sowieso nicht. Das zeigt nur, wir haben keine gemeinsame Öffentlichkeit mehr. Und wenn wir keine gemeinsame, geteilte Lebenswirklichkeit, keine gemeinsame Öffentlichkeit, keine gemeinsamen Debatten haben, dann macht mir das um den Bestand unserer Werteordnung, unserer freiheitlich, rechtsstaatlichen Demokratie und um die Errungenschaften der beiden großen Revolutionen Ende des 18. Jahrhunderts – in den Vereinigten Staaten von Amerika und der Französischen Revolution –, das macht mir wirklich Sorgen.
May: Es ist viel von Spaltung der Gesellschaft die Rede. Würden Sie so weit gehen?
Schäuble: Man kann das immer so sehen. Ich meine, Spaltung ist gar nicht das große Problem, das ist eine kleine Minderheit, die allermeisten Menschen, das zeigen doch alle Meinungsumfragen, sind ja ganz vernünftig. Und mit Minderheiten muss man immer umgehen, muss man immer auch respektieren. Aber die Tatsache, dass wir für vernünftige Argumente die Menschen nicht mehr erreichen … Ich finde es zum Beispiel wirklich … Es nervt mich, wenn Menschen, die von Medizin so wenig Ahnung haben wie ich, mir dann erklären wollen, warum die führenden Virologen in der ganzen Welt, nicht nur in Deutschland, in der Sache der Pandemie oder des Coronavirus nicht recht hätten. Da denke ich immer, wie kommt man auf die Idee, woher maßt ihr euch an, das besser zu wissen? Ich weiß schon, es gibt keine absolute Mehrheit, und die Wissenschaft kann ja auch immer nur ihren Stand der Erkenntnisse darlegen, und der wissenschaftliche Fortschritt besteht oft darin, dass man eine bestimmte wissenschaftliche Theorie falsifiziert, um wieder weiter voranzukommen. Dass wir nicht ein Stück weit auf diejenigen hören, denen wir ja auch bestimmte Aufgaben anvertrauen, übrigens auch Politikern oder auch der Justiz, den Gerichten.
Weltärztepräsident "hat irgendwas nicht richtig verstanden"
Wenn ich dann höre, dass ein Mensch, der auch in der Ärzteselbstverwaltung eine wichtige Funktion hat, von Richterlein redet…
May: Sie sprechen Frank Ulrich Montgomery an, den Weltärztepräsidenten…
Schäuble: … dann finde ich auch, der hat irgendwas nicht richtig verstanden. Ich würde auch nicht gerne von Ärztelein reden, sondern sagen, nein, jeder gibt sich seine beste Mühe, dann müssen wir uns gegenseitig auch vertrauen. Und natürlich muss jeder sich auch bemühen, das Vertrauen, das in ihn gesetzt wird, auch zu rechtfertigen.
Weltärztepräsident Montgomery über sein umstrittenes „Richterlein“-Zitat
May: Es ist interessant, dass Sie jetzt Frank Ulrich Montgomery ansprechen, es zeigt ja, dass die Gereiztheit auf allen Seiten im Prinzip groß ist. Die einen, die Minderheit, wie Sie richtig sagen, die lehnen quasi alle Maßnahmen ab. Die anderen, meistens eine deutliche Mehrheit, ist aber auch nicht zufrieden und sagt: Die Politik, das sage ich jetzt bewusst verallgemeinernd, um alle einzuschließen, nimmt auf die wenigen zu viel Rücksicht und agiert deswegen permanent zu zögerlich in dieser Pandemie.
Schäuble: Ja, die Politik muss immer auch erklären, dass auf der einen Seite die Mehrheit entscheidet, das ist in der Demokratie richtigerweise so, weil ja keiner im Besitz der Wahrheit ist, also hat man immer nur die relative Entscheidungsgrundlage, dass man sagt, gut, nach gründlicher Debatte – aber das ist ja eines unserer Probleme, dass wir die nicht mehr haben, ein Zustand unserer veröffentlichten, medial vermittelten öffentlichen Meinung –, aber dass wir dann nach bestem Wissen und dann eben mit der Mehrheit entscheiden. Was aber eben nicht heißt, dass wir nicht genauso das Recht jedes Einzelnen, anderer Meinung zu sein, verteidigen. Deswegen darf man auch gegen Mehrheitsentscheidungen demonstrieren, aber natürlich muss man dann am Ende sich auch wieder den rechtlich verbindlichen Entscheidungen beugen.
May: Jetzt ist es ja das Problem, dass es, wenn Sie sagen, man muss sich den rechtlich verbindlichen Entscheidungen beugen, dass es einige Regionen gibt, wo diese Minderheit eben doch gar nicht mehr so klein ist, wo sich die Ablehnung dann teilweise ja sogar bis hinein in die Rathäuser, bis in die Verwaltung zieht.
Schäuble: Na ja, das sind aber Ausnahmen, da muss der Rechtsstaat auch konsequent sein. Auf der einen Seite muss die Politik immer erklären, dass jeder das Recht hat, anderer Meinung zu sein, aber dass jeder eben auch verpflichtet ist, selbst wenn er persönlich anderer Meinung ist, er kann Gerichte anrufen, aber ansonsten muss er das akzeptieren, was von denjenigen, die da für die Entscheidung zuständig sind, auch entschieden wurde. Sonst funktioniert friedliches Zusammenleben zwischen Menschen nicht, dann ist die Antwort, dass nur noch mit Zwang und Gewalt und mit Terror die Menschen zusammengehalten werden, das ist das Gegenteil von dem, was wir wollen und was im Übrigen die Deutschen in dem letzten Jahrhundert im Übermaß erlitten haben.
Gute Pandemiepolitik, aber mit manchen Schwachstellen
May: Finden Sie, die deutsche Politik hat sich in dieser Pandemie bewährt?
Schäuble: Im Wesentlichen ja. Es wird bei uns immer ein bisschen viel geredet, das ist so in der offenen Gesellschaft, aber insgesamt haben wir doch… Wissen Sie, man muss eben immer wieder sagen, auch die besten Wissenschaftler waren ja vor eine völlig neue Situation gestellt. Sie wussten es auch nicht, was ja gar kein Vorwurf ist. Sie haben es auch gesagt, nein, wir können das noch gar nicht einschätzen. Die Politik muss aber in jedem Zeitpunkt auch handeln. Und dann muss sie immer im Grunde auch sagen, wir handeln jetzt nach bestem Wissen und Gewissen, aber es kann gut sein, dass sich in acht oder 14 Tagen unsere Entscheidung als falsch herausstellt. Dann muss man sie eben entsprechend korrigieren. Das ist ja im Grunde der Prozess, in dem freiheitliche Ordnungen funktionieren, den Karl Popper einmal, das war Ende des Zweiten Weltkriegs, mit dem Prozess von Trial and Error beschrieben hat. Man wird immer irren, aber wenn man in der Lage ist, Irrtümer zuzugeben, zu korrigieren, dann ist die Freiheit in Ordnung. Und in diesem Sinne hat die deutsche Politik schon ganz gut funktioniert. Ein paar Schwachstellen sind auch sichtbar geworden, manche waren gar nicht neu, anderes ist besser gewesen, als wir vorher geglaubt haben, zum Beispiel unser Gesundheitssystem, von dem haben die allermeisten vor der Pandemie ja eher abfällig geredet. Und dann haben wir relativ schnell festgestellt, dass uns der Rest der Welt oder jedenfalls der Rest Europas um unser Gesundheitssystem eher beneidet.
May: Wenn Sie sagen, es sind Schwachstellen sichtbar geworden, einige waren gar nicht so neu, welche Schwachstellen haben Sie denn überrascht?
Schäuble: Na ja, dass unser föderales System ein gutes System ist, aber dann in der Entscheidungsfindung wahnsinnig schwerfällig ist und natürlich auch diesen Eindruck der Geschwätzigkeit mitgeführt hat – oder dass wir in der Digitalisierung der Verwaltung, na ja, schon wirklich nicht an der Spitze des Fortschritts sind, sondern uns manchmal eher lächerlich machen, das ist auch wahr. Dass wir manches übertreiben, zum Beispiel den Datenschutz, dass wir keine vernünftige Corona-Warn-App machen können, weil wir den Datenschutz so übertreiben, dass wir die Möglichkeiten, mit den modernen Technologien besser solche Pandemien zu bekämpfen, nicht nutzen, das finde ich auch, dass wir da nicht die richtige Abwägung getroffen haben. Aber da können wir ja darüber diskutieren, dann werden wir feststellen, dass sich auch neue Meinungen bilden.
Wir verdanken den jungen Menschen, die sich bei Fridays for Future engagieren, dass jetzt die Menschheit und die Politik die dramatischen Probleme der Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen ernster nehmen.
May: Herr Schäuble, Sie haben gerade eben schon den Unterschied aufgemacht zwischen Wissenschaft auf der einen Seite und politischem Handeln, Entscheidungen treffen, für die man dann auch geradestehen muss, auf der anderen Seite, das führt mich zu Ihrer Rede als Alterspräsident der konstituierenden Sitzung des Bundestags, das haben Sie da auch schon sinngemäß angemahnt. Wissenschaft und Aktivismus ersetzt eben nicht politisches Handeln. Mein Eindruck: Das war vor allem an die vielen neuen jüngeren Abgeordneten, gerade bei den Grünen, aber auch bei der SPD gerichtet, von denen viele auch bei Fridays for Future engagiert waren. War das der richtige Eindruck?
Schäuble: Nur zum Teil. Ich meine, es ist doch völlig richtig, dass sich junge Leute engagieren für Dinge, von denen sie überzeugt sind, dass das so nicht weitergehen kann. Und wir verdanken ja den jungen Menschen, die sich bei Fridays for Future seit einigen Jahren engagieren, wirklich, dass jetzt die Menschheit und auch wir, die Politik, die dramatischen Probleme der Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen ernster nehmen. Es ist ja gar nicht nur der Klimawandel, der Verlust von Artenvielfalt ist mindestens genauso schlimm und viele andere Dinge, wie wir unseren Globus in einem Maße ausbeuten, was das Gegenteil von nachhaltig ist. Und das haben wir durch diese Bewegung besser begriffen, damit ist die Frage nicht beantwortet, wie machen wir das. Und das dürfen dann Ältere auch den Jüngeren sagen, aus der Einsicht heraus, dass es so nicht weitergehen kann, müssen wir um den Weg diskutieren und ringen, wie wir es in der Zukunft besser machen.
Schäuble: Abgeordnete vertreten immer die Gesamtbevölkerung
May: Jetzt würden die Jüngeren den Älteren an dieser Stelle wahrscheinlich entgegenhalten, weil ihr 30 Jahre zu wenig gehandelt habt, auch politisch, brauchen wir jetzt ein relativ radikales Umsteuern. Denn dann kommt der Satz: Der Klimawandel verträgt keine Kompromisse.
Schäuble: Ja, gut, solche Sätze sind immer ein bisschen in ihrer Absolutheit auch nicht so ganz unproblematisch. Aber dass die Jüngeren den Älteren diese Vorwürfe machen, dazu haben sie jedes Recht. Allerdings würde ich als Älterer dann Jüngeren, wenn sie mir den Vorwurf machen, erwidern: Es hat wohl in der deutschen Geschichte keine so lange Zeitspanne gegeben, in der wir ohne Gewalt und ohne kriegerische Auseinandersetzungen leben durften, wir haben alle Chancen, das auch in den nächsten 70 Jahren zu schaffen, das haben ja offenbar nicht die Jüngeren geleistet, sondern eher die Älteren, indem sie gelernt haben, was sind Katastrophen der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts. Insofern haben wir Älteren auch nicht alles schlecht gemacht, und wenn Sie sich den Zustand unseres Landes oder auch der Welt von heute anschauen, kann man sagen, ja, vieles ist nicht in Ordnung, aber wenn man sagt, es ist alles schlechter als früher, dann weiß man offenbar gar nichts davon, wie es früher gewesen ist.
Jeder einzelne Abgeordnete, ob Frau oder Mann, jung oder alt, Wissenschaftler oder Arbeiter, ist immer nicht nur Vertreter eines Wahlkreises, sondern [...] des ganzen deutschen Volks, das steht zu Recht im Grundgesetz. [...] Ich könnte auch sagen, ich interessiere mich nur für Rollstuhlfahrer, denn ich bin ja seit 30 Jahren Rollstuhlfahrer. Nein, ich bin Abgeordneter auch für Nicht-Rollstuhlfahrer. Darauf beruht das Prinzip der Demokratie, das ist Repräsentation.
May: Ein anderes Thema, das Sie in dieser Rede angesprochen haben, das auch hohe Wellen geschlagen hat, ist der Unterschied zwischen Repräsentation und Repräsentativität – also dass grundsätzlich jeder, jede Abgeordnete die Interessen aller vertritt und vertreten muss, nicht nur eines bestimmten Teils der Gesellschaft. Das haben viele als eine Verteidigungsrede wahrgenommen gegen mehr Vielfalt im Parlament.
Schäuble: Das hat damit gar nichts zu tun.
May: Nein?
Schäuble: Mehr Vielfalt im Parlament ist völlig richtig. Aber trotzdem muss jeder einzelne Abgeordnete, ob Frau oder Mann, ob jung oder alt, ob Wissenschaftler oder Arbeiter, ob aus einem ländlichen Raum – er ist immer nicht nur Vertreter eines Wahlkreises, sondern im Grundgesetz steht sogar, das ist das Prinzip der Demokratie, diejenigen, die die Aufgabe anvertraut bekommen, das sind nun mal die gewählten Abgeordneten, sind jeder einzelne, jede einzelne, aber auch alle zusammen dem ganzen deutschen Volk... Sie sind Abgeordnete des ganzen deutschen Volks, das steht zurecht im Grundgesetz. Deswegen ist die Ersetzung dieses Prinzips, dass jeder nicht nur für seine eigene Gruppe, ich könnte auch sagen, ich interessiere mich nur für Rollstuhlfahrer, denn ich bin ja seit 30 Jahren Rollstuhlfahrer. Nein, ich bin Abgeordneter auch für Nicht-Rollstuhlfahrer. Darauf beruht das Prinzip der Demokratie, das ist Repräsentation. Die kann ich nicht ersetzen, indem ich das Parlament gewissermaßen prozentual zum Abbild mache der Vielfalt unserer Gesellschaft. Im Übrigen ist unsere Gesellschaft unendlich viel vielfältiger. Wenn Sie sich einmal sich selber anschauen oder ich mich definiere, welchen Minderheiten ich alles angehöre. Ich bin Protestant, ich stamme aus dem Schwarzwald, ich bin Rollstuhlfahrer, ich bin sportbegeistert, ich bin Jurist, lauter Minderheiten.
May: Im Bundestag ist das keine Minderheit, Jurist.
Schäuble: Doch, ist auch eine Minderheit, ist auch nicht die Mehrheit. Das hilft…
May: Aber Sie wären die größte Fraktion.
Schäuble: Es führt in eine völlig falsche Richtung, wenn wir die Verantwortung für das Ganze, die jeder, jede einzelne hat, ersetzen, indem nur noch Gruppen im Bundestag vertreten sind. Dann kommt man doch nicht mehr zu gemeinsamen Entscheidungen, sondern dann genau treibt man es auseinander, dann wird es eben zu einer sehr volatilen Diktatur von Minderheiten, das ist das genaue Gegenteil von dem, was wir wollen.
Personalentscheidungen nicht nur nach Proporz treffen
May: Haben Sie denn das Gefühl, dass das zugenommen hat?
Schäuble: In den öffentlichen Debatten hat es zum Teil zugenommen, Sie spüren aber auch, wenn Sie Meinungsumfragen sehen oder wenn Sie auf die Resonanz von Menschen auch auf Reden oder in öffentlichen Debatten achten, dann sehen Sie, dass auch da ein Großteil der Menschen sagt: Ja, das stimmt ja. Es ist keiner nur als Frau Mitglied des Bundestags, oder weiß der Kuckuck was, sondern es ist jeder verantwortlich für das Ganze. Jede einzelne Person ist Repräsentant des Ganzen. Das muss man begreifen, das ist eine hohe Verantwortung, da muss man sich selber auch immer wieder drüber im Klaren sein. Ich habe den Satz schon bei der Debatte über den Sitz der Hauptstadt, Berlin oder Bonn damals, gesagt, wo ja auch die Debatte ging, da haben viele gesagt, Menschen, die allgemein als klug gegolten haben, sie seien natürlich für Bonn, weil sie in Bonn gewählt sind oder weiß der Kuckuck was. Dann habe ich gesagt, das ist doch kein Argument. Das Argument, was der richtige Sitz von Parlament und Regierung für Deutschland ist, schert nicht die Frage, wo ich jetzt gerade meinen Wahlkreis habe. Deswegen sind wir alle, so steht es zurecht im Grundgesetz, Abgeordnete des ganzen deutschen Volkes, darüber müssen wir uns im Klaren sein. Deswegen können wir im Übrigen auch nicht Personalentscheidungen ständig nur noch durch Proporzentscheidungen machen und dann ausrechnen, ob jetzt der Prozentsatz zwischen Männern und Frauen oder Wähler des einen oder der anderen, ob der genau richtig ist, der ändert sich im Übrigen immer. Nein, ob Mann, ob Frau, ob divers, jeder hat seine eigene Verantwortung. Das ist übrigens das Prinzip der Freiheit jedes Einzelnen, ich muss so geachtet werden und respektiert werden, wie ich bin, und nicht nur als eine prozentuale Vertretung dieser oder jener Minderheit.
"Wir zerlegen den Einzelnen und nehmen ihm seine Würde"
Cem Özdemir ist nicht Minister geworden, weil seine Eltern aus der Türkei zugewandert sind oder seine Großeltern, sondern weil er ein leistungsstarker Politiker ist. Da kann er türkischer Abstammung sein oder schwäbischer oder bayerischer oder australischer.
May: Aber muss es nicht dennoch ein Anliegen sein, dass sich eben ein zunehmend bunter werdendes Deutschland auch im Parlament widerspiegelt, Teilhabe misst sich dann ja eben nun mal auch ganz stark daran, dass beispielsweise Vertreter oder Vertreterinnen der türkischstämmigen Community sieht, oh, in diesem Land ist es ganz selbstverständlich, dass ein Cem Özdemir beispielsweise Minister wird, das ist gar nichts Besonderes – wie es jetzt ist.
Schäuble: Ja. So ist es auch. Cem Özdemir ist ja auch nicht Minister geworden, weil seine Eltern aus der Türkei zugewandert sind oder seine Großeltern, sondern weil er ein leistungsstarker Politiker ist. Da kann er türkischer Abstammung sein oder schwäbischer oder bayerischer oder australischer, wir zerlegen ja den einzelnen und nehmen ihm seine eigene Würde, jeder einzelne. Und deswegen noch einmal: Ich finde es falsch. Wir sollten sagen, wer ist für welche Position die bestmögliche Lösung. Und wenn die Wählerinnen und Wähler der Meinung sind, wir sollten mehr Frauen im Bundestag haben, und wenn die Parteien der Meinung sind, wir sollten mehr Frauen im Bundestag haben, dafür gibt es gute Gründe, für diese Position, dann sollen sie halt entsprechend wählen, und die Parteien entsprechende Kandidatinnen aufstellen. Das ist übrigens in diesem Bundestag so, das hat sich schon sehr verändert, wenn Sie sich das Bild der Abgeordneten anschauen, gerade übrigens auch was den Migrationshintergrund oder was die Frage anbetrifft, wo die Menschen herkommen. Wenn Sie den Namensaufruf der Wahl der Bundestagspräsidentin oder auch des Bundeskanzlers verfolgt haben, dann haben Sie festgestellt, dass keineswegs alle nur noch Wolfgang Meyer oder Werner Müller heißen, sondern dass es sehr viel bunter geworden ist. Aber noch einmal: Warum sollen wir den Wählern vorschreiben, den Wählerinnen und Wählern, zu wie viel Prozent sie Männer und zu wie viel Prozent sie Frauen wählen dürfen. Im Übrigen: Unter diesem Gesichtspunkt kann ich dann auch nicht verstehen, warum bei der Bundestagswahl ausgerechnet die einzige weibliche Kandidatin als Kanzlerkandidatin von allen drei Kandidaten das schlechteste Wahlergebnis erzielt hat, wenn man es auf die Kanzlerkandidaten reduziert – ich nehme das nicht ernst. Es hat auch in den vergangenen 16 Jahren keinen Mann gestört, dass wir 16 Jahre lang als Bundeskanzler, "Bundeskanzler" ist die Sprache des Grundgesetzes, eine Frau hatten, die das hervorragend gemacht hat, die aber nicht deswegen Bundeskanzler geworden ist, weil sie Frau war, sondern weil sie gut war und weil sie 16 Jahre lang gut regiert hat.
Jetzt bin ich wieder einfacher Abgeordneter der Opposition, und der Kreis schließt sich.
May: Wie erleben Sie denn den neue Bundestag und den für Sie und Ihre ja auch schmerzhaften Regierungswechsel?
Schäuble: Na ja, Sie haben ja bei der Anmoderation gesagt, das Bild habe ich auch für mich selber schon oft gebraucht, für mich schließt sich ein Kreis. Ich bin ja als junger Mensch in den Bundestag gekommen, da war die Union in der Opposition. Dann habe ich eine lange Laufbahn mit vielen ganz unterschiedlichen Erfahrungen machen dürfen. Und jetzt bin ich wieder ein einfacher Abgeordneter der Opposition, und der Kreis schließt sich. Das ist ja dann auch nicht ganz uninteressant, wenn man das so mit einer Distanz von fast einem halben Jahrhundert vergleichen kann.
May: Und zu welcher Schlussforderung kommen Sie denn, wenn wir zum Beispiel diesen Regierungswechsel in Deutschland mit dem vergleichen, was beispielsweise in den USA passiert ist?
Schäuble: Na ja, wir sind doch eine sehr gefestigte Demokratie, gerade vorher haben Sie mich gefragt, ob ich mir die Sorge mache, wie schwer unser Land gespalten sei.
May: Das ist die Ambiguität.
Schäuble: Die ganze Welt hat uns bewundert – oder was heißt die ganze Welt –, aber jedenfalls die demokratisch interessierte Welt hat uns bewundert, mit welcher zivilen Selbstverständlichkeit eben ein Regierungswechsel stattfindet. Für die, die die Wahlen nicht gewinnen, also für mich zum Beispiel auch, für die CDU/CSU, ist das ja nicht erfreulich, aber so ist die Demokratie, das ist im Sport ja auch nicht anders. Ich meine, man darf nicht nur ein guter Sieger sein, man muss auch ein guter Verlierer sein, wir haben alle unsere eigene Verantwortung, aber mit welcher Selbstverständlichkeit sogar in einer schweren Krise wie der Pandemie der Regierungswechsel sich vollzogen hat, das war doch toll. Und wenn Sie jetzt einmal das vergleichen mit dem Gewürge der Koalitionsverhandlungen vor vier Jahren, wo am Ende dieselbe Koalition rauskam, die wir vier Jahre zuvor auch schon hatten, dann war das doch jetzt richtig erfreulich. Das scheint mir doch ein Fortschritt, zu sehen, es gibt gar keinen Grund, immer schlechter Laune zu sein. Es gibt allen Grund, sich anzustrengen, es gibt allen Grund, die Probleme ernst zu nehmen, aber wenn wir uns richtig anstrengen, können wir auch in Zukunft die Probleme gut meistern.
Die Regierung unter Druck setzen, um sie zu beflügeln
May: Noch eine persönliche Frage: Wenn Sie sagen, für Sie schließt sich der Kreis, ich habe es gerade ja auch schon der Anmoderation gesagt, Sie waren Bundestagspräsident und sie wären sicher gerne Bundestagspräsident geblieben. Jetzt hat die Union, gemessen an der Ausgangslage, ja sehr überraschend die Wahl verloren. Sie selbst haben in den unionsinternen Machtkämpfen, zumindest wenn man den Aussagen einiger Beteiligten Glauben schenken kann, selbst Federn lassen müssen und sind jetzt eben einfacher Abgeordneter. Denken Sie manchmal, hätte ich es doch gemacht wie Angela Merkel, raus mit Applaus, aus eigenem Antrieb – ohne Wahlniederlage?
Schäuble: Ich habe Angela Merkel immer dafür bewundert, dass sie das so, wie sie das gemacht hat, gemacht hat. Das ist aber auch gar nicht mehr zu vergleichen, ich hatte ja meinen Abschied aus diesem Teil der Politik, die eine große exekutive Verantwortung hat, wobei ich nie Kanzler gewesen bin, aber den hatte ich ja freiwillig 2017 vollzogen, als ich vor der Wahl mich entschieden habe, nicht mehr Mitglied der Regierung sein zu wollen, weil ich gedacht habe, meine Kräfte, damals war ich 75 Jahre alt, reichen für diese Verantwortung nicht aus. Dann muss man sich überlegen, will man noch weiter kandidieren oder nicht, und da ich das Vertrauen in meinem Wahlkreis und bei vielen auch jüngeren Parteifreunden habe, habe ich gesagt: Ja, das mache ich gerne. Ich nehme auch die Aufgabe jetzt ernst mit voller Verantwortung, aber natürlich ist das heute eine andere Situation, als sie vor 50 Jahren war. Und deswegen ist das Bild, das Sie gebraucht haben, ein schönes, es schließt sich ein Kreis.
Union jetzt Opposition - mit Interview mit Fraktionsvize Nadine Schön
May: Okay. Schauen wir noch einmal kurz auf die CDU. Da übernimmt jetzt der alte Merkel-Widersacher Friedrich Merz, für den Sie zuvor zweimal vergeblich geworben haben. Wir könnten dieses Bild ja jetzt eigentlich auch weiterführen, schließt sich da auch ein Kreis?
Schäuble: Nein, ich meine, Friedrich Merz ist ja übrigens gar nicht alt, wie alt ist er denn gleich, 64 Jahre, da können Sie …
May: Dann spezifiziere ich, der langjährige Merkel-Widersacher, können Sie damit leben?
Schäuble: Er war gar nicht Merkel-Widersacher. Wissen Sie, als ich Partei- und Fraktionsvorsitzender war und diese Ämter aufgeben musste, weil mich die von Helmut Kohl verursachte Spendenaffäre natürlich in den Strudel mitgerissen hat, das ist alles okay, das ist längst Vergangenheit, da hatte ich zwei Nachfolger. Fraktionsvorsitzender war ohne jede Frage Friedrich Merz, Parteivorsitzende wurde Angela Merkel, ich habe mich sehr dafür eingesetzt. Es gab einige Ältere damals, die das auch werden wollten, und ich habe mich dafür eingesetzt, dass sie es wurde. Und die beiden hatten dann die beiden maßgeblichen Positionen in der CDU, natürlich gab es auch Edmund Stoiber, den Vorsitzenden der CSU. Und wir haben ziemlich gut den Übergang dann nach der Wahlniederlage 1998 gemeistert. Dann haben die beiden sich irgendwann nicht mehr so gut vertragen, da müssen Sie die beiden fragen, ob die sich dazu äußern wollen. Ich habe in der Frage, ich habe in der Tat Friedrich Merz gewählt, sowohl 2018 als auch 2021, und jetzt beim Mitgliederentscheid, wenn Sie es genau wissen wollen, noch einmal. Aber da habe ich meine persönlichen Gründe. Aber ich habe immer respektiert, wenn die Entscheidung anders war, ich habe Annegret Kramp-Karrenbauer unterstützt, als sie Parteivorsitzende war. Ich wollte sie daran hindern, als sie zurückgetreten ist, so schnell zu sagen, dass sie auch als Parteivorsitzende zurücktritt. Ich habe Armin Laschet unterstützt, obwohl ich ihn nicht gewählt habe, wie jeder weiß. Aber weil er gewählt war, habe ich ihn natürlich unterstützt. Und weil er der gewählte Parteivorsitzende der CDU war, und damit ja die CDU die Erwartung verbunden hat, dass er auch unser gemeinsamer Kanzlerkandidat wird, habe ich in den Debatten mit der CSU, als ich darum gebeten wurde, mich daran zu beteiligen, ich habe mich überhaupt nicht aufgedrängt, ich wollte gar nicht, aber dann habe ich gesagt, dass meine Meinung ist, in der Tat, dass die Erwartung der CDU ist, dass sie den Vorsitzenden, den sie gerade gewählt hat, dass der auch Kanzlerkandidat wird. Dann ist die Sache so gelaufen, wie sie gelaufen ist, und nun ist es auch gut. Und Olaf Scholz ist unser Bundeskanzler, Ralph Brinkhaus ist Fraktionsvorsitzender, Friedrich Merz ist Parteivorsitzender – und damit kann die CDU als Opposition den Beitrag leisten, CDU/CSU natürlich, Söder als CSU-Vorsitzender, den die Opposition leisten muss, nämlich die Regierung unter den Druck von alternativen Lösungsmöglichkeiten, auch unter den Druck von Kritik zu setzen, um unter anderem die Regierung zu beflügeln, das ihr Bestmögliche zu leisten. So funktioniert Demokratie.
May: Dann habe ich nur noch eine, die wichtigste Frage zum Schluss: Haben Sie Pläne oder Vorsätze für 2022?
Schäuble: Na gut, für 2022 habe ich bisher nicht so viel, in meinem Alter hat man nicht mehr so viele Vorsätze, aber ich will versuchen, mit der ganz unterschiedlichen Rolle, darüber haben wir jetzt geredet, gut zurechtzukommen. Und natürlich versuche ich, in meiner Familie, mit meinen Kindern und Enkelkindern auch die Rolle wahrzunehmen, die ein älter werdender und natürlich auch nicht so ganz gesunder Großvater, in meinem Alter kann man nicht mehr so ganz gesund sein, spielen muss, um nicht aufzudrängen, aber doch, wenn sie wollen, den einen oder anderen Hinweis zu geben, in welche Richtung sie nach ihren eigenen Entscheidungen ihr Leben entwickeln sollten.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.