Freitag, 26. April 2024

Sozialdumping
Verzweifelte Lkw-Fahrer streiken

Alle sind auf sie angewiesen: Lastwagenfahrer, die Waren quer durch Europa transportieren. Aus Protest gegen ausstehende Löhne und schlechte Arbeitsbedingungen streiken Trucker auf einer Raststätte in Hessen.

22.09.2023
    Roman Koval aus Lemberg (Ukraine) geht an einem Anhänger vorbei, auf dessen Plane die Worte "No Money" mit Klebeband aufgeklebt sind.
    Kein Geld für Trucker: Noch immer warten die streikenden Lkw-Fahrer auf der Raststätte Gräfenhausen auf ihre ausstehenden Löhne. (picture alliance / dpa / Arne Dedert)
    Raststätte Gräfenhausen West an der A5 in Südhessen: Seit Monaten streiken hier immer wieder Lastwagenfahrer. Sie kommen überwiegend aus osteuropäischen und zentralasiatischen Staaten. Ihr Forderung: Sie wollen ihre ausstehenden Löhne ausbezahlt bekommen. Weil sich nichts bewegte, sind einige von ihnen mittlerweile in den Hungerstreik getreten. Ihr Ausstand hat die Arbeitsbedingungen im internationalen Gütertransport in den Fokus gerückt.

    Inhaltsverzeichnis

    Warum streiken Lkw-Fahrer in Hessen?

    Die streikenden Lkw-Fahrer auf der Raststätte Gräfenhausen verlangen von ihrem polnischen Spediteur Mazur insgesamt 500.000 Euro für Arbeit, die sie geleistet haben. Bislang hat der aber nur mit einer Anzeige bei der Staatsanwaltschaft Darmstadt reagiert. Erpressung wirft er den Fahrern vor, die unter anderem aus Usbekistan, Georgien und Kasachstan kommen.
    Die Situation ist festgefahren, und die Fahrer haben offenbar nur eine Möglichkeit gesehen: Anfang der Woche traten sie nach eigenen Angaben in einen Hungerstreik. Laut HR befinden sich 30 Fahrer im Hungerstreik. Schon im Frühjahr hatten rund 60 Fahrer den betreffenden Spediteur wochenlang bestreikt. Am Ende erhielten sie 300.000 Euro. Diesmal scheint es aussichtsloser zu sein.
    Der Niederländer Edwin Atema von der Internationalen Transportarbeitergewerkschaft ist Verhandlungsführer der Fahrer. Er glaubt nicht mehr, dass der bestreikte polnische Spediteur zahlt.
    Atema fordert jetzt von den Unternehmen, für die die Lkw-Fahrer Waren quer durch Europa transportieren, dass sie einspringen und die Fahrer direkt bezahlen sollen. Das seien teilweise große deutsche Konzerne aus der Logistik oder der Autobranche sowie große Handelsketten. Die seien aber nicht bereit dazu, sagt Atema, obwohl auf ihren Internetseiten was von Menschenrechten stehe.
    Der niederländische Gewerkschafter Edwin Atema (r), der von den osteuropäischen Lkw-Fahrern mit der Verhandlungsführung beauftragt wurde, unterhält sich mit Roman Koval aus Lemberg (Ukraine). Seit fast sechs Wochen streiken die Fahrer eines polnischen Speditionsunternehmens aus Usbekistan, Georgien und anderen Staaten Osteuropas und Zentralasiens auf der südhessischen Raststätte. Die Männer fordern ausstehenden Lohn. (zu dpa «Europaparlamentarierin bei streikenden Fahrern: mehr Kontrollen nötig»)
    An der Seite der Fahrer: Der Gewerkschafter Edwin Atema (rechts) fordert Hilfe von der Politik (picture alliance / dpa / Arne Dedert)
    Die Fahrer hätten ihren Glauben an Europa verloren, sagt der Gewerkschafter. Bis auf Solidaritätsbekundungen von der Politik sei bislang nichts passiert.

    Was wollen Politiker für die Lkw-Fahrer tun?

    Die Europaabgeordnete Gaby Bischoff (SPD) sagte: „Das sollte in Europa nicht passieren, dass Leute streiken oder in den Hungerstreik gehen, nur um den ihnen zustehenden Lohn zu bekommen.“ Das Problem sei, „dass diese Lastwagenfahrer einen polnischen Arbeitsvertrag haben, dass sie aus Drittstaaten kommen, aber im Wesentlichen in Westeuropa oder in Deutschland fahren“.
    Das Problem: Es gebe dazu keine klaren Regelungen. Die Europäische Arbeitsagentur habe keine Kompetenzen, um Menschen aus Drittstaaten zu helfen. Abgeordnete hätten einen Brief an die EU-Kommission geschrieben, so Bischoff, damit sie mit einem Runden Tisch im „Dickicht“ zwischen verschiedenen nationalen Kompetenzen vermittelt.
    Der CDU-Europaabgeordnete Dennis Radtke sagte bereits im August 2023, das europäische Recht sei mit dem Mobilitätspaket „auf der Höhe“. Es brauche endlich eine Durchsetzung des Rechts. Die Gewerkschaft Verdi hatte Mängel bei der Umsetzung des Pakets kritisiert, mit dem unter anderem die Einhaltung von Mindestlöhnen durchgesetzt werden sollte.
    Ein LKW-Fahrer hält auf dem Parkplatz der Raststätte Gräfenhausen einen Zettel mit der Aufschrift â10440,- Euroâ in den Händen, was den ihm bislang nicht ausgezahlten Lohn beziffern soll. Die aus mehreren Ländern Osteuropas stammenden Fahrer harren seit fast zwei Monaten auf dem Parkplatz der Raststätte Gräfenhausen in ihren LKW aus und warten auf die Auszahlung ihres Lohnes.
    Streikende LKW-Fahrer an der A5: Viele tausend Euro schulde ihnen eine Spedition (picture alliance / dpa / Boris Roessler)
    Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) sagte der „Frankfurter Rundschau“: „Lkw-Fahrer halten unser Land und unsere Wirtschaft am Laufen. Sie um ihren hart verdienten Lohn zu betrügen, dulden wir nicht.“ Die verzweifelten Fahrer in Gräfenhausen bräuchten Unterstützung. Sie hätten ein Recht auf ihren Lohn, so Heil.
    Ausbeuterische Speditionen müssten von unseren Straßen verschwinden. Heil forderte deutsche Großunternehmen auf, „bei der Auswahl ihrer Speditionen ihrer Verantwortung gerecht zu werden. Gegen schwarze Schafe gehen wir mit dem Lieferkettengesetz vor.“

    Wie soll das Lieferkettengesetz den Lkw-Fahrern helfen?

    Bei den Prüfungen nach dem Lieferkettengesetz sollen dem „FR“-Bericht zufolge alle verfügbaren Informationen verwendet werden, beispielsweise Hinweise aus veröffentlichten Frachtpapieren zu möglichen Auftraggebern. Das zuständige Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle habe sein Monitoring bei Zulieferern der Transportbranche verstärkt, um Verstößen gegen das Gesetz und Beschwerden gegen Unternehmen konsequent nachzugehen.
    Das seit 2023 gültige Gesetz verpflichtet Unternehmen dazu, menschenrechtliche Standards in ihren Lieferketten einzuhalten. Die Verantwortung der Unternehmen soll sich, abgestuft nach Einflussmöglichkeiten, auf die gesamte Lieferkette erstrecken.
    Unternehmen sollen die Pflichten in ihrem eigenen Geschäftsbereich und bei ihren unmittelbaren Zulieferern umsetzen. Umwelt- und Sozialverbände kritisieren aber, das Gesetz wiese für mittelbare Zulieferer Lücken auf, wenn es um Menschenrechtsverletzungen gehe.

    Wie groß ist das Problem mit Sozialdumping in der Speditionsbranche?

    Die jüngste Eskalation, die zum Streik führte, ist offenbar ein besonders krasser Fall – aber es gibt schon länger besorgniserregende Entwicklungen: Auf der Suche nach billigen Arbeitskräften dringen die Speditionen immer weiter nach Osten vor, weit über die Grenzen der EU hinaus, sagte der Gewerkschafter Edwin Atema bereits 2021.
    „Es begann vor einigen Jahren mit Fahrern aus Belarus, Ukraine und Russland", schildert Atema die Situation. "Seit zwei, drei Jahren sehen wir einen geradezu explosionsartigen Anstieg von Fahrern aus Zentral- und Südostasien - von den Philippinen, aus Usbekistan, Kasachstan, Tadschikistan. Das ist unglaublich.“
    Es ist die Fortsetzung einer Strategie, die auf aggressivem Lohndumping beruht, erläutert Gewerkschafter Atema. So können die Speditionen aus Polen, Rumänien oder Litauen die Lohnkosten drücken und Transporte in Westeuropa viel billiger anbieten als deutsche oder französische Konkurrenten.
    So haben die osteuropäischen Speditionen inzwischen mehr als 40 Prozent des europäischen Transportmarktes erobert, so Dirk Engelhardt, der Vorstandschef des Speditionsverbandes BGL. „Wenn sie sich mit einem Konkurrenten im Markt wiederfinden, der einen Mindestlohn von zum Beispiel ein Euro 85 in Bulgarien oder etwas über drei Euro im Baltikum hat, dann ist das für den deutschen Mittelstand schlichtweg nicht möglich." Dies sei kein fairer Wettbewerb.
    Im Mai 2023 warnte Engelhardt vor einem Versorgungskollaps wegen des Fahrermangels in der Branche. Er kritisierte auch Sozialdumping und Fahrernomadentum. Die Gewerkschaft Verdi forderte bessere Tourenplanung und menschenwürdige Bedingungen an Straßen und Raststätten.

    tei, dpa, Reuters, Lars Hofmann, Gerhard Schröder