Meinung
Die mit Worten zur Gewalt aufwiegeln

Mehr Gewalt gegen Politiker und andere – für Marina Weisband ist das eine Folge stochastischen Terrorismus‘ in Deutschland. Dessen Ziel sei es, demokratische Stimmen verstummen zu lassen. Und auch klassische Medien seien hier in der Verantwortung.

Kolumne von Marina Weisband | 15.05.2024
Abgerissene Wahlplakate der Grünen und Linken liegen am Boden vor einer Wiese neben einem Laternenmast im Leipziger Stadtteil Lößnig
Marina Weisband: Plakate aufhängen, von einer Demo berichten, für Demokratie kämpfen – das sind inzwischen Tätigkeiten, für die es Mut braucht (IMAGO / foto-leipzig.de / IMAGO / Rico THUMSER / foto-leipzig.de)
Fühlen Sie auch, dass sich etwas verändert hat? Deutschland ist weniger sicher geworden. Vor allem wenn sie zu einer marginalisierten Gruppe gehören: Oder Journalist sind. Oder Lokalpolitikerin. Plakate aufhängen, von einer Demo berichten, für Demokratie kämpfen – das sind inzwischen Tätigkeiten, für die es Mut braucht. Weil einem dabei durchaus Gewalt begegnen kann. Immer häufiger hören wir von diesen Vorfällen. Und immer mehr fragen Menschen sich: warum häuft sich das so? 
Offizielle Meldungen sprechen dann oft von Einzelfällen. Dabei sollte jedem klar sein, dass das die Wirklichkeit nicht abbildet. Es gibt ein anderes Wort, das dieses Phänomen besser umschreibt: Stochastischer Terrorismus. Das ist eine Form von Terrorismus, die nicht bei geheimen Treffen geplant wird. Sondern mit Worten wird so lange aufgewiegelt, bis sie irgendwann, irgendwo bei irgendwem in Gewalt umschlagen. Man steigert sozusagen medial die Wahrscheinlichkeit für Terrorismus. Kann dann aber seine Hände in Unschuld waschen.

Zusammenspiel von Politik, Social Media und klassische Massenmedien

Natürlich wäre es einfach, das Ganze auf „Hass im Internet“ zu schieben und so zu tun, als sei Social Media allein schuld. Die Wahrheit ist aber, dass viele Faktoren zu der aufgeheizten Stimmung und der wiederholten Eskalation beitragen. Die reale wachsende Schere zwischen Arm und Reich und Investitionsschulden, international koordinierte faschistische Bewegungen und Erzählungen. Aber auch das Zusammenspiel von Politik, Social Media und klassischen Massenmedien.
Ein Beispiel. Dass die Anzahl rechtsextremer Straftaten gestiegen ist, kann man natürlich der AfD oder Telegram zuschieben. Aber wenn der Spiegel wieder und wieder Cover macht mit „Migrantenkaravanen“ und von „Flüchtlingswellen“ spricht – trägt das nicht auch zur Entmenschlichung von Leuten bei, die dann rassistische Gewalt erfahren?

Personalisierung von Politik hilft nicht

Natürlich schürt die AfD mit ihren generellen Anti-Ampel-Parolen den Eindruck, dass die Regierungsparteien das Land in Elend stürzen und dem Zuhörer persönlich etwas wegnehmen wollen. Aber muss man sie dann in alle Sendungen einladen, damit sie genau diese Nachricht verbreiten können? So trägt man zu stochastischem Terrorismus bei. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Mensch das persönlich nimmt und dagegen „handeln“ will, steigt mit jeder Talkshow. 
Auch die in den Medien übliche Personalisierung von Politik hilft nicht. Man könnte erklären, warum wir in Zukunft Wärmepumpen brauchen, wenn wir ein Klima erhalten wollen, in dem wir und unsere Landwirtschaft leben können. Oder man kann an jeden Artikel darüber ein Foto von Robert Habeck klatschen, als komme er persönlich, um deiner Mutter ihre Heizung aus der Wand zu reißen. So wird aus Streit um politische Maßnahmen und Lösungen für Probleme ein personalisiertes Problem, das sich mit Gewalt bekämpfen lässt.

Journalismus hat eine Verantwortung

Und wenn die CDU Sachsen auf Instagram einen wütenden Bauern postet, der den Betrachter schreiend mit einer Mistgabel bedroht und „Ampel-Regierung: Finger weg vom Agrar-Diesel“ titelt, dann trägt das zu exakt dieser Gewalt bei.
Dass Journalismus und Aktivismus und Lokalpolitik nicht mehr sicher sind, ist kein Unfall. Das ist vom Faschismus genau so gewollt. Demokratische Stimmen sollen verstummen. Man befindet sich schon lange in einem Kampf. Was ist die Antwort darauf? Bestimmt nicht, genau diesen Agitatoren noch mehr Raum zu geben. Journalismus hat eine Verantwortung, die Demokratie zu schützen. Das bedeutet, den Tätern keine Bühne zu geben. 
Marina Weisband, 1987 in der Ukraine geboren, ist Beteiligungspädagogin, Publizistin, Diplom-Psychologin, Mitglied von Bündnis 90/Die Grünen und hat am Grundsatzprogramm der Partei mitgewirkt. Sie schreibt zu Themen wie Medien und politischer Partizipation und leitet seit 2014 das Schülerbeteiligungsprojekt aula.