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Neue europäische Sicherheitsstrategie
Politologin: EU wird viel handlungsfähiger

Der "strategische Kompass" - so nennt sich das neue Konzept der europäischen Sicherheitsspolitik - definiere für die EU erstmals gemeinsame Ziele im Verteidigungsbereich, erklärte die Politikwissenschaftlerin Daniela Schwarzer im Dlf. Das Ziel, bis 2025 eine schnelle Eingreiftruppe mit 5.000 Soldaten aufzubauen, sei realistisch.

Daniela Schwarzer im Gespräch mit Frederik Rother | 22.03.2022
Ein Kampfpanzer vom Typ Leopard 2 A7V aus dem Lehrbataillon 93 der Bundeswehr fährt während einer Übung zur Gefechtsaufklärung auf dem Truppenübungsplatz.
Ein Kampfpanzer vom Typ Leopard 2 A7V aus dem Lehrbataillon 93 der Bundeswehr fährt während einer Übung zur Gefechtsaufklärung auf dem Truppenübungsplatz. (picture alliance/dpa/Philipp Schulze)
Die EU will sich außen- und sicherheitspolitisch neu aufstellen. Sie will besser kooperieren und handlungsfähiger werden mit einer sogenannten Schnellen Eingreiftruppe. Seit rund zwei Jahren wird an der neuen EU-Sicherheitsstrategie gearbeitet und am 21.3.2022 wurde sie von den europäischen Außen- und Verteidigungsministern angenommen. Die Herausforderungen sind groß: Aktuell dominiert der Konflikt mit Russland, aber es gibt weitere Handlungsfelder: Der Kampf gegen Islamismus in der Sahelzone, der Umgang mit Cyber-Attacken und auch mit China.
Daniela Schwarzer ist Politikwissenschaftlerin und Exekutivdirektorin für Europa und Eurasien bei der Open Society Foundation, einer internationalen Denkfabrik. Im Interview mit dem Deutschlandfunk hat sie die zentralen Punkte der EU-Sicherheitsstrategie erklärt.

1. Gemeinsame Zielsetzungen: Priorität auf Russland

In den vergangenen Jahren und Jahrzehnten hätten die Regierungen der Mitgliedsländer der Europäischen Union die Welt nicht aus einer gemeinsamen Perspektive betrachtet. Die einzelnen Länder hätten daher auch andere Prioritäten im außen-, sicherheits- und verteidigungspolitischen Bereich gesetzt. Gemeinsames Handeln sei schon deshalb gescheitert. Sich gemeinsam darauf zu verständigen, „was denn wirklich die Bedrohungen für die Europäische Union heute sind und was die Prioritäten dabei sind“, ist aus Sicht von Daniela Schwarzer das erste und wichtige Ergebnis der neuen Strategie.
Nach Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine sei Russland in den Prioritäten der Bedrohungsanalyse ganz nach oben geklettert. Gedanken zur Zusammenarbeit mit Russland habe man hingegen gestrichen. Und auch China sei mehr im Fokus, auch wenn sich das Land in dem Krieg noch nicht klar positioniert habe. Das Verhältnis zwischen den USA und China hätte gezeigt, dass hier mehr Aufmerksamkeit vonseiten der EU herrschen muss.

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2. Schnelle Eingreiftruppe mit 5000 Soldaten

Bis 2025 sollen 5000 Soldaten als Schnelle Eingreiftruppe bereitstehen. Die soll beispielsweise Flughäfen evakuieren aber auch in bewaffnete Konflikte eingreifen können. Diese Struktur bis 2025 aufzubauen, sei durchaus realistisch, sagte Schwarzer. Bundesverteidigungsministerin Christine Lambrecht (SPD) hat bereits angeboten, dass die schnelle Eingreiftruppe im Jahr 2025 für ein Jahr von Deutschland gestellt werden kann. Diese Aufgabe werde durch die Länder rotieren, sagte Schwarzer, es sei richtig, dass Deutschland dabei Führungswillen zeige.
Eine Eingreiftruppe nutze aber nur etwas, wenn sie auch eingesetzt werde, sagte Schwarzer. Die Europäische Union habe bereits sogenannte Battle Groups zusammengestellt, diese seien aber noch nie zum Einsatz gekommen.
Daniela Schwarzer
Daniela Schwarzer (picture alliance/dpa)

3. Stärkung der NATO, keine Konkurrenz

Es gehe bei den sicherheitspolitischen Anstrengungen in der Europäischen Union nicht darum, eine Konkurrenz zur NATO zu schaffen, sagte Schwarzer. Bei den Konzepten werde die Zusammenarbeit mit dem transatlantischen Verteidigungsbündnis stets mitgedacht. Ziel sei es, kompatibel mit der NATO zu sein und diese zu stärken. Es gebe mittlerweile ein sehr enges Abstimmungs- und Koordinierungssystem.

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Das Interview im Wortlaut:

Frederik Rother: Frau Schwarzer, Sie waren vor kurzem im Bundestag zu einer Expertenanhörung. Dort ging es um den Strategischen Kompass. Sie waren geladen und sprachen davon, dass der Kompass ein „Meilenstein“ sei. Warum?
Daniela Schwarzer: Der Strategische Kompass hat mehrere Ziele. Das erste ist, dass sich die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union einigen, was denn wirklich die Bedrohungen für die Europäische Union heute sind und was die Prioritäten dabei sind, gegenüber deren sich die Europäische Union sicherheitspolitisch stärker aufstellen muss. Das allein ist schon ein wichtiges Ergebnis, denn über die letzten Jahre und Jahrzehnte hat man immer wieder gesehen, dass aus den verschiedenen Hauptstädten der Europäischen Union wirklich anders auf die Welt geblickt wurde und andere Prioritäten im außen-, sicherheits- und verteidigungspolitischen Bereich waren und es oft an gemeinsamem europäischen Handeln schon daran scheiterte, dass man sich nicht einigen konnte, was denn jetzt prioritär ist.
Das was der Strategische Kompass macht, aufbauend auf dieser Bedrohungsanalyse, ist, dass er sehr konkrete Ansätze vorschlägt, die umgesetzt werden sollen, um die Europäische Union im Sicherheits- und Verteidigungsbereich handlungsfähiger zu machen. Das bedeutet nicht, dass wir eine wirklich gemeinsame Verteidigungspolitik haben oder eine europäische Armee, sondern es bedeutet, dass gemeinsame Ziele gesetzt werden, zu denen die Mitgliedsstaaten zusammenarbeiten und das teilweise auch in kleineren Gruppen tun sollen, so dass man nicht immer auf die EU27 warten muss, sondern wenn es nötig ist kleinere Gruppen vorangehen.

Russland und China im Fokus

Rother: Wir können gleich mal auf die konkreten Punkte schauen. Ich würde gerne noch mal kurz bei der Ukraine bleiben. Das ist ja eine ganz aktuelle Herausforderung. Was hat sich dadurch in dem Konzept noch mal verändert, oder was wurde aktualisiert?
Schwarzer: Zunächst die Prioritäten in der Bedrohungsanalyse. Russland ist nach ganz oben gerutscht und China interessanterweise ist auch höher geklettert. China hat sich in dem Konflikt oder in dem Krieg Russlands gegenüber der Ukraine selbst noch nicht klar positioniert, aber es ist sehr, sehr deutlich geworden, auch über die letzten Monate Diskussionen mit den Amerikanern, dass hier auch die Europäer das Thema China klarer in den Blick nehmen müssen.
Dann wurde Russland an einigen Stellen auch aus dem Dokument wieder rausgenommen, nämlich da, wo man über gemeinsame Zusammenarbeit nachgedacht hat. Denn bis zu Beginn des Krieges in der Ukraine hat man Russland trotz der Annexion der Krim und trotz der militärischen Auseinandersetzung im Osten der Ukraine immer wieder doch als Partner gesehen, weil man gesagt hat, wir können eine gemeinsame europäische Sicherheitsordnung nicht gegen Russland entwickeln, sondern wir müssen mit Russland zusammenarbeiten.
Jetzt hat Moskau aber vor gut vier Wochen entschieden, den Krieg in der Ukraine in dieser brutalen Form anzuzetteln, wie wir es Tag für Tag berichtet sehen, und das bedeutet, dass die Europäische Union Russland da klar als Bedrohung benennen musste und gleichzeitig auch das nukleare Bedrohungsthema höherhängen musste, weil Wladimir Putin ja bereits in frühen Kriegstagen der NATO damit gedroht hat, dass Russland auch Nuklearmacht ist und dass es das auch einsetzen würde.

„Wichtig, dass Deutschland da auch Führungswillen zeigt“

Rother: Ein Kernstück dieser neuen Strategie des Strategischen Kompasses ist ja die sogenannte Schnelle Eingreiftruppe. Die soll beispielsweise Flughäfen evakuieren können oder auch Menschen, oder in einem bewaffneten Konflikt sogar eingreifen. Das Ziel ist, bis 2025 5000 Soldaten bereitzustellen. Das ist ein hohes Ziel. Ist das, Aufbau und auch Einsatz, realistisch?
Schwarzer: Es ist meiner Ansicht nach zu machen, in drei Jahren 5000 Soldaten bereitzustellen. Deutschland hat sich ja auch schon bereiterklärt, einen Kern der ersten Eingreiftruppe zu stellen. Das wird durch die Länder durchrotieren und es ist wichtig, dass Deutschland da auch Führungswillen zeigt.
Wichtig ist zu sehen, dass diese Eingreiftruppe dann aber auch eingesetzt werden muss. Die Europäische Union hat ja sogenannte Battle Groups, quasi auch schon Truppen zusammengestellt, die aber noch nie zum Einsatz gekommen sind. Jetzt hat sich aber doch die Selbstwahrnehmung der Europäischen Union stark verändert. Man hat gemerkt durch die Präsidentschaft Donald Trumps, wo ja das ganze Thema europäische Verteidigungszusammenarbeit sehr in Schwung gekommen ist, dass die Europäer auch eigenständiger handeln können müssen, dass man sich nicht in jeder Situation auf die Amerikaner verlassen kann.
Jetzt haben wir eine neue Ära mit Joe Biden im Weißen Haus und hier ist es trotzdem genauso wichtig, dass die Europäer handlungsfähiger sind, denn die Amerikaner erwarten von den Europäern, dass sie einsatzfähig sind. Das heißt: So oder so, ob wir nun einen transatlantischen Präsidenten haben oder einen, der sagt, ich interessiere mich viel weniger für eure Region, ist im europäischen Denken die Einsicht gereift, wir müssen selber mehr machen können.

Schwarzer: Keine Konkurrenz zur NATO

Rother: Ziel des Konzepts ist auch, keine Konkurrenz zur NATO darzustellen. Jetzt hat ja die NATO beispielsweise auch eine Schnelle Eingreiftruppe, wenn man so möchte. Jetzt könnte die EU nachziehen. Wie soll diese Zweigleisigkeit sichergestellt werden, dass man keine Konkurrenz bilden möchte zur NATO?
Schwarzer: Die Europäische Union verstärkt ihre verteidigungspolitische Zusammenarbeit bereits seit dem Jahr 2018 und die Frage, wie arbeiten wir mit der NATO zusammen, wie sind wir nicht nur kompatibel, sondern wie stärken wir sogar die NATO, die steht von Anfang an immer mit im Raum, bei jeder Diskussion, bei jedem Fortschritt. Es gibt mittlerweile ein sehr enges Abstimmungs- und Koordinierungssystem zwischen der europäischen verteidigungspolitischen Zusammenarbeit und der NATO und der Strategische Kompass situiert das, was jetzt folgen soll, die nächsten konkreten Schritte in der europäischen Zusammenarbeit, ganz klar im NATO-Kontext.
Es geht hier eigentlich an keiner Stelle darum, eine Konkurrenz aufzubauen, sondern die Europäische Union oder die Länder der EU, die auch NATO-Mitgliedsstaaten sind, wirklich zu einer europäischen Säule im Rahmen der NATO auszubauen, und das ist wirklich im Interesse der Allianz, weil der Beitrag der Europäer bislang aus Sicht der Amerikaner beispielsweise, aber auch, wenn man es sich objektiv anschaut, nicht groß genug ist.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.