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"Spiegel"-Affäre vor 60 Jahren
Als der "Spiegel"-Artikel "Bedingt abwehrbereit" erschien

"Der Spiegel" vom 10. Oktober 1962 erschien mit dem Titel „Bedingt abwehrbereit“ – und der These, die Bundeswehr sei für den Kriegsfall kaum gerüstet. Leitende Redakteure wurden wegen Verdachts auf Landesverrat verhaftet. Die "Spiegel"-Affäre begann.

Von Otto Langels |
Tochter einer Demonstrantin mit Spiegel-Magazin im Oktober 1962 bei einem Sitzstreik gegen die Verhaftung von Spiegel- Redakteuren am 30.10.1962 vor der Frankfurter Hauptwache.
Besonders in Hamburg demonstrierten Teile der Bevölkerung gegen die Verhaftung von Spiegel-Redakteuren – mit dabei auch deren Kinder (picture-alliance / dpa / Goettert)
„Die Bundeswehr hat heute – nach sechs Jahren Amtsführung ihres Oberbefehlshabers Strauß – noch immer die niedrigste Nato-Note: zur Abwehr bedingt geeignet.“
Schrieb "Der Spiegel" in seiner Ausgabe vom 10. Oktober 1962. Unter dem Titel „Bedingt abwehrbereit“ berichtete das Nachrichtenmagazin über das NATO-Manöver „Fallex 62“ und kam zu einem beunruhigenden Ergebnis:
„Mit Atom-Granatwerfern an Stelle von Soldaten bleibt eine wirksame Abschreckung fraglich.“

Angeblich 40 militärische Geheimnisse im Artikel

Die Titelgeschichte, garniert mit Attacken auf den verantwortlichen Minister Franz Josef Strauß, CSU, löste heftige Reaktionen aus. Das Verteidigungsministerium witterte Landesverrat, verwies auf angeblich 40 militärische Geheimnisse in dem Artikel und erstattete Strafanzeige. Am 27. Oktober rückten Polizei und Staatsanwaltschaft an. Hans Detlev Becker, Verlagsleiter des "Spiegel":
„Am heutigen Mittag, um kurz nach zwölf Uhr, ist der Herausgeber des Spiegel, Herr Rudolf Augstein, verhaftet worden. Ferner sind unsere Redaktionsräume in Hamburg und Bonn teils versiegelt, beziehungsweise unter Bewachung gestellt und teils durchsucht worden.“

Schulaufsatz von Rudolf Augstein konfisziert

Zugleich wurden die Chefredakteure sowie die Autoren des Artikels Hans Schmelz und Conrad Ahlers in Hamburg und Bonn und sogar rechtswidrig in Spanien festgenommen, so Hans Detlev Becker:
„Ferner sind die Privatwohnungen des Herausgebers und der Redakteure durchsucht und auch Unterlagen mitgenommen worden, unter anderem ein Schulaufsatz von Rudolf Augstein, den man im Schreibtisch fand.“
Die Räume des "Spiegel" in Hamburg blieben vier Wochen lang verschlossen. Ohne die tatkräftige Unterstützung anderer Verlage, die für die nächsten Ausgaben Büros und Geräte zur Verfügung stellten, hätte dies möglicherweise das Aus für das Magazin bedeutet. Nach und nach wurden die verhafteten "Spiegel"-Redakteure aus der Untersuchungshaft entlassen; zuletzt der Herausgeber Rudolf Augstein nach 103 Tagen:
„Ich habe Zeitungen gelesen und habe Radio gehört, nicht ferngesehen, aber immerhin Radio gehört, insofern bin ich einigermaßen auf dem Laufenden geblieben.“

Demonstrationen für die Pressefreiheit

Teile der Bevölkerung, journalistische Kollegen und die Opposition im Bundestag sahen in dem Vorgehen einen Angriff auf die Pressefreiheit und den Versuch der Staatsmacht, kritische Stimmen zu unterdrücken.

„Tanz mit mir den Spiegel-Twist, auch wenn Du von der Kripo bist“, sang die Schlagersängerin Trude Herr. In Hamburg gingen Studenten, Professoren und Gewerkschafter auf die Straße und skandierten etwa: „Strauß rein – Augstein raus, Strauß rein – Augstein raus.“

"Ein Abgrund von Landesverrat im Lande"

Die Demonstranten machten Franz Josef Strauß für das verantwortlich, was als „Spiegel"-Affäre in die bundesdeutsche Geschichte eingehen sollte, zumal Strauß und Augstein eine ausgeprägte politische Feindschaft verband. Doch zunächst stellte sich Bundeskanzler Konrad Adenauer hinter seinen Minister:
"Wir haben einen Abgrund von Landesverrat im Lande." (Gemurmel im Saal) "Wer sagt das?" Konrad Adenauer: "Ich sage das!"

Aber den Beweis für den angeblichen Landesverrat blieb der Kanzler schuldig. Ohne die rechtlichen Ermittlungen abzuwarten, griff Adenauer das Magazin an:
„Wenn von einem Blatt systematisch – um Geld zu verdienen – Landesverrat betrieben wird …“ (Buh-Rufe, Pfui-Rufe)

Rücktritt von Franz Josef Strauß

Drei Tage lang debattierte der Bundestag Anfang November über die Spiegel-Affäre. Dazu erklärte Verteidigungsminister Franz Josef Strauß:
„Ich wusste nicht, was kommt; ich wusste nicht, wann es kommt; ich wusste nicht gegen wen es kommt, und so weiter.“
Bald stellte sich jedoch heraus, dass Strauß die Strafaktion veranlasst, ohne Wissen des Justizministers gehandelt und das Parlament belogen hatte. Die "Spiegel"-Affäre entwickelte sich zur Regierungskrise. Die FDP-Minister erklärten ihren Rücktritt, Ende November musste Franz Josef Strauß seinen Verzicht auf das Ministeramt bekanntgeben. Das Verfahren wegen Landesverrats verlief im Sande. 1965 urteilte der Bundesgerichtshof, dass keine Beweise für einen wissentlichen Geheimnisverrat vorlagen. Bei Strauß dagegen von Einsicht keine Spur, im Gegenteil. Später schrieb er:

„Ich bin damals behandelt worden wie ein Jude, der es gewagt hätte, auf dem Reichsparteitag der NSDAP aufzutreten.“
Welche Vermessenheit und welche Verdrehung der Tatsachen, aber bereits vier Jahre später war er wieder Bundesminister. Ungeachtet dessen war der Ausgang der "Spiegel"-Affäre ein Sieg für die Pressefreiheit.