Sonntag, 28. April 2024

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Parteitag der Grünen
Auf der Suche nach neuer Führung und Kompromissen beim Regieren

Auf ihrem Parteitag haben die Grünen wie erwartet Ricarda Lang und Omid Nouripour zu ihren neuen Vorsitzenden gewählt. Ihre Aufgabe ist groß: Sie müssen die Werte der Partei mit der Wirklichkeit des Regierens versöhnen. Konflikte zeichnen sich schon jetzt ab.

Von Gudula Geuther | 27.01.2022
Eine Fahne mit der Aufschrift Bündnis 90 / Die Grünen ist auf dem Maxplatz in Bamberg aufgestellt
Die Bündnisgrünen müssen sich in ihrer neuen Rolle noch finden (picture alliance / Fotostand)
Rad an Rad stehen am vergangenen Wochenende Traktoren vor dem Bundeslandwirtschaftsministerium in Berlin-Mitte. Auf Transparenten auf den hochgereckten Trecker-Schaufeln stehen Slogans wie „Agrarpolitik für Bauern, Klima, Tiere und Vielfalt“ oder „Perspektiven schaffen für Mensch, Tier, Klima und Umwelt.“ Es sind Formulierungen, wie sie auch von den Grünen stammen könnten. Und der grüne Minister bemüht sich, diese Nähe zu unterstreichen. Wir ziehen am selben Strang, sagt Cem Özdemir.

„Das heißt konkret erstmal, dass dieser künstliche Gegensatz - auf der einen Seite die Interessen der Bäuerinnen und Bauern und auf der anderen Seite die Interessen des Tierschutzes, des Klimaschutzes und des Artenschutzes - das Oder muss raus und durch ein Und ersetzt werden. Das ist die Leitlinie dieses Hauses, das hinter Euch steht.“

"Die Grünen können zeigen, dass sie auf der politischen Bühne angekommen sind"

Die Treckerparade im Rahmen der Aktion „Wir haben es satt“ findet jedes Jahr statt, aber dieses Mal ist vieles anders. Die eigentliche Demonstration ist pandemiebedingt ausgefallen, aus demselben Grund hat die Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft nur die Bio-Landwirte aus dem direkten Umland zum Treckertreffen gerufen. Eine geschlagene Dreiviertelstunde harrt der Minister in klirrender Kälte vor dem Eingang seines Ministeriums aus, und zwar – auch das ist neu - samt seinen Staatssekretärinnen.

Das kommt an. Und doch ist selbst vor diesem Publikum auch für die Grünen noch viel Überzeugungsarbeit zu leisten. Frage in die Runde: Macht es einen Unterschied, dass die Grünen mitregieren?

„Erstmal noch nicht, weil bisher ist ja noch nichts passiert. Es gibt uns natürlich einen kleinen Hoffnungsschimmer. Tatsächlich zeigt ein bisschen die Erfahrung, dass wir da jetzt erstmal abwarten müssen, was da tatsächlich auch passiert. Dass sich die Positionen vor allem auch auf europäischer Ebene durchsetzen lassen.“ - „Die Frage ist ja: Wie viel Freiheit nehmen sie sich nachher raus. Oder lassen sie sich von den Lobby-Verbänden wieder in die Ecke drängen und machen so weiter, wie bisher.“- „Na, es geht ja gerade erst los - da bin ich frohen Mutes!“

„Ich hab vor ner Weile mit nem Nachbarn gesprochen, ein großer konventioneller Betrieb, der mit Sicherheit nicht die Grünen wählt. Und der sah der Sache ganz gelassen entgegen und sagte: So schlimm wird das wohl alles nicht kommen. (lacht) Das heißt für mich: Wahrscheinlich - genau. Also die Versprechen, die jetzt gemacht werden, die werden wahrscheinlich so schnell auch nicht eintreten. Da bin ich ganz nüchtern.“

„Die Grünen können jetzt zeigen, dass sie von der Badelatschenpartei wirklich auf der politischen Bühne angekommen sind, und das, was andere über Jahre nicht gewuppt haben, hinbekommen können.“

Erzeugerpreise sind gesamtgesellschaftliches Thema, nicht nur politisches

Den Bio-Bauern hier geht es um das Höfesterben, um Landeigentum und das Verbot des Unkrautvernichters Glyphosat, um faire Bezahlung und ein Ende von Förderkriterien, die sie als ungerecht auffassen. Und Cem Özdemir? Bittet um Geduld.

„Leider ist es nicht ganz so einfach. Denn es ist nicht so, dass der Bundesagrarminister einfach auf einen Knopf drückt, und dann passiert es.“ In der Tat. Gegenwind hat der Minister für Landwirtschaft und Ernährung schon zu spüren bekommen, als er „Ramschpreisen“ für Lebensmittel den Kampf ansagte. Die Ökobauern sind hier bei den Grünen: Gesellschaftliche Gruppen dürften nicht gegeneinander ausgespielt werden.

„Es geht einerseits natürlich um faire Erzeugerpreise und dann ist sofort das Argument da: Naja, die Lebensmittel müssen erschwinglich bleiben. Naja, natürlich müssen sie das. Aber das ist eine andere Diskussion. Dass die Leute fair bezahlt werden, dass die Löhne steigen, dass das eine gesamtgesellschaftliche Schwierigkeit ist.“

Fleisch sei nun einmal zu billig, sagt einer, ein anderer warnt: Erst einmal müssten sich die Bauern untereinander einigen, wie sie den Lebensmittelkonzernen gegenübertreten, Politik könne da ohnehin wenig tun.

Kritik von der Klimabewegung

Noch viel kritischer werden die Grünen aus einer anderen Bewegung beobachtet, aus der sie sich eigentlich speisen: Der Klimabewegung. Auch hier hat sich der Wirtschafts- und Klimaschutzminister Robert Habeck bereits bemüht, die Erwartungen zu dämpfen, mit der Ansage: Deutschland werde die selbstgesteckten Ziele in den kommenden zwei Jahren nicht erreichen, im Gegenteil, die CO2-Emissionen stiegen erst einmal an. Es sei viel aufzuholen, betont der Noch-Parteivorsitzende im Bundestag, den er um Unterstützung bittet.

„Heißt also: Minus 65 Prozent CO2-Emissionen in acht Jahren. Die durchschnittliche Genehmigungszeit für eine Windkraftanlage in Deutschland beträgt sechs bis acht Jahre. Da muss man jetzt nicht besonders helle sein und in Mathematik in der Schule aufgepasst haben, um zu merken, dass das nicht funktionieren kann. Wir müssen also effizienter und schneller werden in den Planungs- und den Genehmigungsverfahren.“
Geduld allerdings ist keine Tugend, die die Aktivistinnen und Aktivisten von Fridays for Future besonders schätzen.
„Erstmal würde ich sagen, dass ich sehr gut nachvollziehen kann, dass junge Menschen mit genau dieser Position auf die Straße gehen, also mit der Hundert-Prozent-Position. Denn beim Klimaschutz bemisst sich das, was richtig ist, eben nicht nur an dem, was politisch möglich ist, im Rahmen von dem, was wir eben gerade an Mehrheitsverhältnissen haben, sondern auch an dem, was wissenschaftlich notwendig ist", sagt die 28-jährige stellvertretende Parteivorsitzende Ricarda Lang. Sie zeigt Verständnis für die Kompromisslosigkeit der Klimabewegung. „Und ich glaube, dass uns dieser Druck auch gut tut und dass wir diesen Druck auch brauchen werden.“

Kritik von der Basis beim Thema Verkehrspolitik

Am 28. Januar beginnt die digitale Bundesdelegiertenkonferenz der Partei. So nennen die Grünen ihre Parteitage. Lang will sich zu einer von zwei neuen Parteivorsitzenden wählen lassen, neben Omid Nouripour. Nötig ist das, weil nach den Statuten der Grünen Robert Habeck und Annalena Baerbock nicht gleichzeitig Minister- und Parteiämter bekleiden dürfen.

Die Agrarwende und der Klimaschutz - es sind nur zwei Beispiele für Themen, bei denen die Grünen die Erwartungen sehr hoch gesteckt haben, und bei denen viele Kompromisse zu verdauen sein werden. Andere sind so manchen Mitgliedern ähnlich wichtig. Und ähnlich schmerzhaft sind die nötigen Zugeständnisse. Ein Besuch bei der Basis, Vorstandssitzung beim grünen Kreisverband Berlin-Pankow:

„Ich muss bei mir sagen: Ich kümmere mich hauptsächlich um Verkehrspolitik. Von dem her kann ich im Bereich der Verkehrspolitik nicht zufrieden sein.“ Der Vorsitzende des Kreisverbandes, Ruben Joachim, beklagt am Rand der Vorstandssitzung, dass es mit dieser Bundesregierung wohl kein Tempolimit geben wird, nicht auf der Autobahn und nicht als größeren Handlungsspielraum für Kommunen. Und er hätte sich - wie viele seiner Parteifreunde - auch einen grünen Verkehrsminister gewünscht. Unter anderem diese Leerstelle brachte so manchen Beobachter in den Medien zu dem Schluss, die Grünen hätten sich bei den Koalitionsverhandlungen zu klein gemacht.
Christian Lindner,  Olaf Scholz, Annalena Baerbock und Robert Habeck stehen bei einer Pressekonferenz auf einer Bühne. Im Hintergrund sind Scheinwerfer zu sehen.
Die Spitzen der Ampel-Parteien v.l.n.r.: Christian Lindner, Olaf Scholz, Annalena Baerbock, Robert Habeck. (picture alliance/dpa)
Ruben Joachim widerspricht. „Wenn ich mir anschaue, wie die Regierung jetzt gestartet ist, bin ich super-happy.“ Er zählt die Minister auf: Robert Habeck und die Energiewende, Annalena Baerbock und die ersten Akzente in der Außenpolitik. Dass der Agrarminister Özdemir und die Ministerin für Umwelt- und Verbraucherschutz Steffi Lemke zusammenarbeiten wollen, anstatt sich gegenseitig zu blockieren, dass es unter anderem auch die Familienministerin Anne Spiegel ist, die den umstrittenen Paragraphen 219 a und damit das sogenannte Werbeverbot für Schwangerschaftsabbrüche aus dem Strafgesetzbuch streichen will - all das sei Kompromisse wert. Nicht nur er sieht das so, auch andere im Kreisvorstand, an der Basis im Berliner Norden.

„Ich glaube, dass wir als Partei insgesamt eher bereit sind und Lust haben auf Verantwortung und Gestaltung. Weil wir wissen, wir brauchen Mehrheiten und deswegen müssen wir bestimmte Kompromisse eingehen und deswegen können wir auch bestimmten Themen nicht ausweichen, uns nicht drücken. Also ich glaube schon, dass das die überwiegende Stimmung ist.“

Friedensbewegung als Selbstverständnis der Grünen

Wie weit das stimmt, kann sich auf dem Parteitag zeigen, in einer ganz anderen Frage. Eine pazifistische Partei im strengen Sinn sind die Grünen schon lange nicht mehr. Aber die Friedensbewegung, die einen ihrer Gründungspfeiler bildet, ist immer noch wichtig für das Selbstverständnis. Ein Antrag auf dem Parteitag beschäftigt sich etwa mit der Nachfolge der veralteten Tornado-Kampfflugzeuge für die Luftwaffe. Mit der Beschaffung atomwaffenfähiger Flugzeuge solle das Prinzip der nuklearen Teilhabe Deutschlands in der NATO nicht auf Jahrzehnte festgeschrieben werden, heißt es in dem Text. Ein weiterer Antrag lautet: „Aufrüstungsspirale beenden - entschiedene Friedenspolitik statt Drohen mit Drohnen“.

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„Ich glaube, jetzt, wo wir in Regierungsverantwortung sind und mit der Außenministerin die Person stellen, die für die Diplomatie zuständig ist, hat die Diskussion da in unserer Partei eine ganz andere Qualität. Und der Verantwortung, die wir als Parteimitglieder und Parteimitgliederinnen haben, wenn wir dort abstimmen, müssen wir uns bewusst sein. Wir sind eben keine Oppositionspartei mehr, die sagen kann: Wir sind gegen Krieg und deswegen gegen Waffen.“

Muss sich die Partei dafür verbiegen? Zumindest, sagt der Pankower Kreisvorsitzende: „Ich glaube, es ist schon schwierig für viele in der Partei. Das wird vielen sehr schwer fallen und das wird eine harte Diskussion werden, und ich weiß nicht, wie sie am Ende ausgehen wird.“

Auch andere hier an der Berliner Basis glauben, dass es viel zu verdauen geben wird in den kommenden Jahren. „Ich glaube, es ist wichtig, dass man dann Mitglieder - also auch Basismitglieder -, Fraktion und Kabinett gut miteinander verzahnt und schaut, wo kann man Austauschforen schaffen? Wo kriegt man das hin, dass die Diskussion stattfindet, dass sie auf einem Level stattfindet, wo sich alle gehört fühlen, wo man Meinung einbringen kann. Und dass es nicht das Gefühl ist: Da entscheiden zwei, drei Menschen darüber, wo wir als Partei in eine bestimmte Richtung gehen.“

Umstrittene Diskussion: die mögliche Verlängerung des Irak-Einsatzes

Und nicht nur die Mitglieder sind in einer neuen Rolle durch die Regierungsverantwortung der Grünen, sondern vor allem auch die Abgeordneten. Das wird sich schon bald in einer anderen Frage von Krieg und Frieden zeigen, wenn über die Verlängerung des Irak-Einsatzes der Bundeswehr abgestimmt wird. Die Grünen waren bisher mehrheitlich dagegen. Nun wurde das Mandat verändert, Syrien, das auch von deutschen Aufklärungsmaschine überflogen wurde, ist als Einsatzort gestrichen. Ob das wirklich die bisherigen grünen Bedenken an der Völkerrechts-Konformität aufhebt, ist umstritten, auch wenn sich die Fraktionsexperten so positioniert haben.

„Mandate sind natürlich für die Abgeordneten immer mit die sensibelsten Fragen, die die persönlichen Grundüberzeugungen, das Gewissen - es geht ja immerhin um so Entscheidungen wie Krieg und Frieden - betreffen. Deswegen ist das auch der Punkt, wo immer am meisten gerungen wird“, sagt Katharina Dröge, eine der beiden Fraktionsvorsitzenden. Bisher sei die Diskussion sehr sachlich verlaufen.

21.08.2019, Irak, Erbil: Ein Bundeswehr Soldat begleitet am Truppenübungsplatz in Bnaslawa die Ausbildung kurdischer Peschmerga im nordirakischen Kurdengebiet. Foto: Michael Kappeler/dpa | Verwendung weltweit
Die Grünen waren bisher mehrheitlich gegen eine Verlängerung des Irak-Einsatzes der Bundeswehr (dpa)
„Und natürlich ist es so, dass Regierungsfraktionen am Ende Mehrheiten zustande bringen müssen. Das ist nochmal eine große Aufgabe, die Frau Haßelmann und ich natürlich haben, noch mit Abgeordneten zu sprechen, und sie davon zu überzeugen, den Weg mitzugehen. Das ist in Regierungszeiten anders - oder nochmal wichtiger als in der Opposition.“

Auf der Agenda des Parteitages steht der Irak-Einsatz nicht, aber die beiden wahrscheinlichen neuen Parteivorsitzenden haben sich positioniert. Omid Nouripour bewirbt sich. Er hatte ohnehin schon früher für den Einsatz gestimmt und ist jetzt erst recht dafür. Ricarda Lang begründet ihre Zustimmung anders. „Indem ich sehr, sehr sage, was wir rausgeholt haben bei der Verbesserung dieses Mandates, indem wir zeigen: Es macht einen Unterschied, dass wir jetzt ein grünes Außenministerium haben, indem wir ganz klar aufzeigen: Was waren unsere Leitlinien dafür, ob wir am Ende sagen können: Für uns ist das völkerrechtlich vertretbar und welche Verbesserungen haben wir dort auch erzielt.“

Omid Nouripour: mit Erfahrung die Rolle der Grünen schärfen

Erklären, vermitteln, das wird eine Aufgabe für die neuen Vorsitzenden sein. Voraussichtlich auch für Omid Nouripour. „Die Parteiführung muss Scharnier sein zwischen Haupt- und Ehrenamtlichen. Die Hauptamtlichen müssen wissen, was unten gedacht und empfunden wird und die Ehrenamtlichen müssen wissen, warum, zu welchem Preis, welche Kompromisse geschlossen worden sind.“

Omid Nouripour
Omid Nouripour will Grünen-Vorsitzender werden (Stefan Kaminski)
Der 46-Jährige Hesse, der mit 13 Jahren als Sohn iranischer Akademiker nach Deutschland kam, ist Außen- und Verteidigungsexperte der Partei. Im Bundestag sitzt er seit 2006, ein Jahr nachdem die erste Beteiligung der Grünen an einer Bundesregierung zu Ende gegangen war, in der Partei ist er sehr viel länger. Und auch mit dieser Erfahrung bewirbt er sich.

„Ich habe im Bundesvorstand gesessen, als wir das letzte Mal regiert haben. Das war eine aufregende, sehr reibungsvolle Zeit. Gerade mit einer SPD, die auch den Kanzler gestellt hat. Das war die Zeit noch, als wir immer noch Koch und Kellner diskutiert haben. Ich glaube, eine feste Vorstellung davon zu haben, was die Rolle der Partei in diesen Zeiten ist. Ich kenne die Akteure und Akteurinnen, über die wir sprechen, gut bis sehr gut, und zwar nicht nur bei den Grünen.“

Es gehe um Kooperation und Koordination. Darum, dass die Grünen in vier Jahren Kanzler oder Kanzlerin stellen. „Deshalb bewerbe ich mich um diesen schönsten Job der Welt.“

Ricarda Lang: soziale Gerechtigkeit als persönliches Thema

Und um die Zusammenarbeit mit Ricarda Lang. Die sagt über sich: „Ich glaube, die Grünen brauchen eine Person, die auf der einen Seite eine Klarheit hat, also die grünen Positionen weiterhin sichtbar macht und auch an der grünen Programmatik arbeitet, und gleichzeitig aber auch Brücken bauen kann, also Menschen mit ganz verschiedenen Perspektiven und Hintergründen mitnehmen. Weil wir stehen ja vor der großen Aufgabe, gleichzeitig einmal gut zu regieren, dass Menschen merken, es macht was besser, wenn Grüne an der Regierung sind. Und gleichzeitig aber auch noch mehr Menschen zu gewinnen, weiter zu wachsen, um eben unserer großen Aufgabe der sozial-ökologischen Transformation gerecht zu werden.“
Ricarda Lang, stellvertretende Bundesvorsitzende und frauenpolitische Sprecherin der Gruenen, aufgenommen waehrend eines Interviews. Berlin, 02.03.2020. Copyright: Thomas Koehler/photothek.de
Ricarda Lang wuchs bei ihrer alleinerziehenden Mutter auf und setzt auf soziale Themen (picture alliance / photothek / Thomas Koehler)
Ricarda Lang ist - darauf weist sie selbst immer wieder hin - in Baden-Württemberg bei ihrer alleinerziehenden Mutter aufgewachsen. Deren Stelle als Sozialarbeiterin in einem Frauenhaus wurde aus Sparzwängen gestrichen. „Ich hab gesehen, dass nicht immer alles gerecht ist in unserer Gesellschaft, dass diejenigen, die am härtesten arbeiten und die für die Gesellschaft arbeiten, oft nicht davon leben können.“

In der Politik ist sie vor allem wegen sozialer Gerechtigkeit. Sie wehrt sich gegen den Eindruck, Grün müsse man sich leisten können. „Denn wenn die Klimakrise sich so weiter entwickelt, wie sie es im Moment tut und wenn wir es nicht schaffen, ihrer Herr zu werden, dann werden die Folgen gerade die Menschen treffen, die heute schon am wenigsten haben.“

Ob es um die Kosten der Klimapolitik geht oder um höhere Nahrungsmittelpreise – Lang verweist auf den höheren Mindestlohn und die Kindergrundsicherung, die die Ampel-Koalition vereinbart hat, und darauf, dass ihre Partei nach wie vor mehr will, vor allem höhere Regelsätze in der Grundsicherung.

Wie viel Macht bekommen die zukünftigen Vorsitzenden?

Als bisher Stellvertretende Parteivorsitzende gehört sie zu der Führungsspitze, gegen die derzeit die Berliner Staatsanwaltschaft ermittelt, wegen des Verdachts der Untreue, es geht um einen Corona-Bonus von 1.500 Euro pro Person. Das Geld ist zurückgezahlt. An der Basis in Pankow hält man den Vorgang für einen Fehler, der aber nicht mehr ins Gewicht fällt. Ob das der ganze Parteitag so sieht, zeigt sich möglicherweise am genauen Abstimmungsergebnis. Auch wenn Lang ebenso wie Nouripour als gesetzt gelten kann, ernstzunehmende Konkurrenz gibt es nicht. In Pankow weckt das Gespann jedenfalls Hoffnungen.

„Also ich glaube, mit Ricarda Lang und Omid Nouripour sind zwei Vertreterinnen der Flügel, die dort kandidieren, stärker als das vorher mit Robert und Annalena war, die dadurch glaube ich stärker auch wieder in die Partei rein wirken und dort auch wieder stärker die Diskussionen ermöglichen. Dass wir wirklich kontrovers über die Ausrichtung der Partei diskutieren.“

Welche Macht die Partei und ihre Vorsitzenden dann allerdings überhaupt haben, ist noch nicht heraus. Denn die bisherigen Führungsfiguren Habeck/Baerbock geben weiterhin den Ton an, genauso die anderen grünen Minister, dazu kommt die Fraktion. Parteien wie die FDP haben es da leichter, mit einem Parteivorsitzenden [*], der gleichzeitig stellvertretender Vizekanzler ist.

„Ich glaube nicht, dass es drei Machtzentren gibt und dass es drei geben darf“, betont Omid Nouripour. „Es wird eines nur geben können, und das ist der Koalitionsausschuss. Und für die Grünen natürlich die Runde, die die Grünen im Koalitionsausschuss vertritt. Sollte ich gewählt werden, werden wir täglich miteinander sprechen, wie wir uns abstimmen, in welchen Rollen wir laufen und welche Aufgaben es gibt. Wir werden nur zusammen erfolgreich sein.“

Trotzdem ist die Rolle des Parteivorsitzenden in Zeiten der Regierungsbeteiligung eine andere, das weiß auch Omid Nouripour und das glaubt man auch in Pankow an der Basis. „Ich glaube, dass weiterhin unsere Ministerinnen und Minister in der Öffentlichkeit im Vordergrund stehen werden und die Parteivorsitzenden stärker in die Partei hineinwirken werden. Ob das am Ende wirklich so ist, wird sich zeigen.“

Neuer Schwung durch viele junge Abgeordnete in der Bundestagsfraktion

Und auch die Bundestagsfraktion wird erheblichen Einfluss haben. Es ist die größte Fraktion, die die Grünen je hatten, doppelt so groß wie in der vergangenen Legislaturperiode. Sie muss noch zusammenwachsen. Die Erfahrenen müssen lernen, zu regieren, Ideen nicht mehr nur untereinander abzugleichen, sondern auch mit den Koalitionspartnern. Aber mehr als die Hälfte der Abgeordneten ist zum ersten Mal dabei. Im Schnitt sind sie jünger und wahrscheinlich auch linker.
Das sei vor allem eine Chance, findet die Co-Fraktionsvorsitzende Katharina Dröge. Auch eine Chance, nicht alles so zu machen wie bisher. „Wir haben uns auch als Fraktion eine Struktur direkt am Anfang gegeben und da war es uns auch enorm wichtig, deutlich mehr Menschen mit in Verantwortung zu holen. Weil wir gesagt haben, wenn man mit 118 Abgeordneten zusammenarbeitet, dann können das nicht nur ganz wenige Leute im Fraktionsvorstand lenken, das Schiff.“

Sondern auch eben viele Junge, für die würden Formate geschaffen, in denen sie fragen können, wie was funktioniert. Aber nicht nur die Fraktion ist gewachsen, sondern auch die Partei, die Mitgliederzahl hat sich in den vergangenen fünf Jahren mehr als verdoppelt, auf über 125.000. Auch dem soll auf dem anstehenden Parteitag Rechnung getragen werden: Mit einem scheinbar formalen Antrag des Parteivorstandes, der für einen handhabbareren Ablauf der Parteitage sorgen soll. Nicht mehr nur 20 Mitglieder sollen einen Antrag stellen können. Stattdessen soll ein sehr viel höheres Quorum nötig sein, derzeit wären es wohl 125.

Umgang mit alten Werten


„Ich glaube, es geht bei dem Parteitag schon auch ein bisschen nicht nur um eine personelle Neuaufstellung, sondern es werden Fragen dort behandelt, die auch ein bisschen mit dem sehr basisdemokratischen Prinzip unserer Partei brechen vielleicht.“ So grundsätzlich ordnet es der Kreisvorsitzende in Pankow ein. Und findet es richtig, „weil wir einfach bei den letzten Bundesdelegiertenkonferenzen einfach so eine massive Anzahl an Anträgen hatten, dass wir da ran müssen. Und ich glaube, das wird schon kontrovers werden.“

Es wird wichtiger werden, Netzwerke zu bilden, mindestens im digitalen Raum. Auch hier geht es für die Grünen also um den Umgang mit alten Werten und neuen Wirklichkeiten. Stimmen von der Basis: „Also, ich würde sagen, wir sind schon noch sehr diskussionsfreudig.“
 
„Ich glaube, wenn wir dem Rechnung tragen wollen, dass wir eben nicht mehr eine kleine Nischenpartei sind mit fünf Prozent, sondern dass wir den Anspruch haben, die linke Mitte zu führen, dann sind wir eine Partei in einer Größe, wo wir auch so etwas umsetzen müssen.“
[*] An dieser Stelle haben wir eine Amtsbezeichnung korrigiert.