Dienstag, 19. März 2024

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Wahlforschung
Das Kreuz der Demoskopen

Dass Donald Trump US-Präsident werden würde, hatten Wahlforscher nicht vorhergesehen - zwischen Wahlabsichten und dem Kreuz in der Kabine gibt es offenbar eine Kluft. Das gilt auch für Deutschland. Die Demoskopen modernisieren ihre Methoden - werden damit auch die Voraussagen besser?

Von Tom Schimmeck | 05.09.2021
Europawahl: Menschen betrachten vor dem Europäischen Parlament auf einer Leinwand Hochrechnungen der Wahlergebnisse von Deutschland
Wahlvorhersagen und Hochrechnungen sind immer so eine Sache - wer beim tatsächlichen Wahlergebnis den Luftballon steigen lassen kann, bleibt bis zum Schluss spannend. (dpa / Marcel Kusch)
Politische Meinungsforschung in der Bundesrepublik Deutschland wurde lange durch persönliche Befragung einer als repräsentativ erachteten Auswahl von Bürgerinnen und Bürgern betrieben.

Später wurden solche Interviews telefonisch durchgeführt. Neue Konkurrenten, aber auch alteingesessene Meinungsforschungsinstitute versuchen heute, die "Panels" ihrer Befragten im Internet zu rekrutieren. Die Verheißung: Dank einer Vielzahl von Befragten und einer wachsenden Zahl von Daten über diese Personen Ergebnisse differenzierter, kostengünstiger und vor allem schneller liefern zu können.

Die Auseinandersetzungen über die Qualität diverser Methoden ist in vollem Gange. Dabei ist der Streit darüber, wie repräsentativ und verlässlich Umfragen überhaupt sein können, so alt wie die Demoskopie. Eines ist klar: Meinungsforschung muss ihre Methoden daran anpassen, wie die Befragten überhaupt erreichbar sind.

Jüngere Leute haben oft gar keinen Festnetzanschluss mehr - und sind eben für die Kommunikation primär im Internet unterwegs. Setzen Demoskopen hingegen nur auf Online-Befragungen, werden sie vermutlich das Meinungsbild der älteren Generation nicht repräsentativ abdecken können.

Für die Vorhersagen spielen auch die Entwicklung Künstlicher Intelligenz und die enormen Bestände von persönlichen Informationen etwa auf den Social-Media-Plattformen eine wachsende Rolle. Schon heute durchsuchen KI-Systeme im Vorfeld von Wahlen Millionen von Posts in sozialen Medien, um relevante Themen und Stimmungen zu ermitteln. Solche technologischen Entwicklungen ermöglichen eine immer gezieltere Beobachtung - und, zumindest theoretisch, auch eine gezielte Beeinflussung von Kunden und Wählern.

Ob und wie sich politische Akteure an den Einschätzungen und Vorhersagen der Demoskopie - sei es in klassischer Umfrage oder in moderner KI-Variante - orientieren, das ist noch einmal eine ganz andere Frage. Gezählt und abgerechnet wird immer noch am Wahltag.
Bundestagswahl 2021 - zum Dossier
Das Wichtigste zur Bundestagswahl im Überblick (Deutschlandradio / imago images / Alexander Limbach)

Eine misslungene Prognose und zerknirschte Demoskopen

6. Juni 2021, Landtagswahl in Sachsen-Anhalt. Ministerpräsident Reiner Haseloff und seine CDU triumphieren mit 37,1 Prozent. Die AfD kommt auf 20,8 Prozent. Noch zwei Tage zuvor hatte das von der "Bild"-Zeitung beauftragte Meinungsforschungsinstitut INSA CDU und AfD nahezu gleichauf gesehen. Tatsächlicher Abstand: 16 Prozentpunkte.
"CDU und AfD eng beieinander", meldete auch der "Spiegel" drei Tage vor der Wahl. Die Zahlen kamen vom Institut Civey. Im Balkendiagramm standen die Favoriten, schwarz und blau, stolz und mächtig nebeneinander. Janina Mütze, Mitgründerin und Geschäftsführerin der Civey GmbH: "Ja, es gab dieses Jahr eine Landtagswahl, bei der wir richtig danebengegriffen haben. Das haben alle Meinungsforscher. Aber das macht es ja nicht besser."
Am gleichen Tag generierte der "Spiegel" aus diesen Umfragedaten die nächste Schlagzeile: Ein mögliches "Rekordergebnis" der Grünen: "Drei Gründe, warum die Grünen auf eine Sensation hoffen dürfen". Auch diese Sensation fiel aus. Wie reagiert man auf so eine Pleite? Janina Mütze: "Naja, also grundsätzlich steht man auch direkt wieder auf und ruft eine Arbeitsgruppe zusammen, die sich im Detail anschaut. Man muss dann auch bereit sein zu sagen: Das war nicht gut, das darf uns in der Form nicht nochmal passieren. Das müssen wir das nächste Mal anders machen."

"Kopf-an-Kopf-Rennen" bei der aktuellen Wahl

Wenige Wochen vor der Bundestagswahl am 26. September 2021 steht das nächste "Kopf-an-Kopf-Rennen" auf dem Programm. Diesmal sehen die Demoskopen – Überraschung – CDU und SPD im Kampf um die "Pole Position".
"Ein beabsichtigtes Verhalten und das, was man dann tut – das sind zwei Paar Stiefel." Eine alte Crux des Gewerbes, sagt Michael Kunert, Geschäftsführer von Infratest dimap: Ein bisschen so, als frage man am 1. Januar nach den guten Vorsätzen fürs kommende Jahr. "Der entscheidende Punkt ist die Mobilisierung. Das heißt: Ich habe vielleicht vor, hinzugehen, aber dann kommt irgendetwas dazwischen. Ist ja doch nicht so wichtig. Und das ist der Punkt, der uns weitaus mehr beschäftigt."
Infratest dimap arbeitet unter anderem für die ARD. Auch Infratest hatte die CDU in Sachsen-Anhalt neun Prozent unterschätzt, AfD und Grüne hingegen deutlich überschätzt. Sein größter Reinfall? 2002, meint Kunert gequält: "Als wir Stoiber zum Bundeskanzler ausgerufen haben, um 17:20 Uhr. Das hat wehgetan."
Doch eigentlich, erklärt er mit einem Lächeln, sei das Erstaunen über solche Pleiten doch ein Zeichen dafür, wie sehr der Demoskopie vertraut werde. "Dann ist eben die Überraschung, wenn nach soundso viel Wahlen auf einmal – Patsch – kommt was anderes heraus. Dann sagt man: Holla, das kann doch gar nicht sein! Was ist denn hier für ein Mist passiert?"

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Nostalgischer Rückblick auf Lochkarten und Stammwähler
"Losgelegt habe ich eigentlich schon während des Studiums", erzählt Helmut Jung, Jahrgang 1946. Vor fast 50 Jahren forschte er für die Konrad-Adenauer-Stiftung, gründete später sein eigenes Institut. Er sitzt auf seiner Terrasse in Ratzeburg, nah der Ostsee. Gönnt sich einen Moment der Nostalgie. "Ja, ich habe noch richtig begonnen mit Fachzähl-Sortiermaschine, mit Lochkarten, die man persönlich stanzte, wo man auch erste Analysen durch optische Inaugenscheinnahme durchführte und durch die Löcher guckte, um zu sehen, ob es auch der identische Datensatz war."
Demoskopie war immer auch Instrument und Waffe der Politik, sagt Jung: "Es gibt ja auch die Geschichte von Helmut Kohl, der immer irgendwelche Zettelchen mit handgeschriebenen, schnell notierten Ergebnissen in der Hosentasche hatte, die er dann irgendjemandem vorhielt, im wahrsten Sinne des Wortes. Angeblich sollen die auch teilweise erfunden gewesen seien – die Zahlen, die da draufstanden. Als ich anfing, in den 70er-Jahren, da gab es zehn Prozent notorische Nichtwähler, knapp zehn Prozent, wenn es hochkommt, sogenannte Wechselwähler, die mal bereit waren, ihre Partei zu wechseln, bei der Wahl und woanders ein Kreuzchen zu machen. Und der Rest, das waren Stammwähler."
Alles Treibsand, meint der Senior. Die Arbeit werde immer schwieriger, schon wegen des Wankelmuts der Wähler. Selbst in Bayern – das hat er gerade untersucht. "Inzwischen haben wir bei Wahlen maximal 25 bis 28 Prozent der abgegebenen Stimmen, die von Stammwählern aller Parteien, wohlgemerkt aller Parteien kommen. Der Rest, also die restlichen 72 Prozent der abgegebenen Stimmen, sind Wechselwähler-Stimmen." Und selbst die Stammwähler sind launisch geworden. Wählen nur, wenn ihnen gerade etwas wichtig ist.
Demoskop Civey - Im Netz nach Meinungen fischen
Persönliche Gespräche oder Gespräche am Telefon – das sind die Quellen, die Meinungsforscher für ihre Umfragen nutzen. Anders funktioniert das bei Civey. Dort fischt man Meinungen und Ansichten aus dem Netz.

Instant-Online-Umfrage und "Meinung als Event"

Es gibt Streit unter den Demoskopen, um Methoden – und ums Geschäft. Welche Erhebungsmethode liefert ein verlässliches Bild der "Grundgesamtheit"? Die Kontroverse ist so alt wie die Meinungsforschung. Janina Mütze von Civey:
"2015, als wir gründet haben, fiel das in so eine Zeit, wo man sehr viel über Filterblasen gesprochen hat, über Kommentare von Bots und Populisten, die auf Facebook hochgepusht wurden. Und wir haben uns im Grunde die Frage gestellt: Wie quantifiziert man solche Meinungen? Und gibt nicht demjenigen Recht, der am lautesten schreit oder die größten Bot-Farmen betreibt, sondern wie schaffen wir es auch online, im digitalen Raum ein gutes Abbild der Grundgesamtheit zu bauen?"
Mütze, Jahrgang 1990, ist ein Star der Berliner Startup-Szene. Stolz führt sie durch das schicke Büro-Loft in der Alten Jakobstraße. Civey steht für "Citizen Survey" – Bürgerumfrage. Die Firma arbeitet für Unternehmen, Verbände, Medien, Ministerien und Parteien – die CDU etwa und Die Grünen. Slogan: "Erfahren Sie, was Deutschland denkt!" Meinung als Event. Ihren Medienkunden versprechen die Online-Forscher eine "aktivierte" Leserschaft, die fröhlich klickt und interagiert. Und – dank maschinellem Lernen – "tiefe Einblicke" in eben dieses Publikum: "Pro Leser bis zu 300 Datenpunkte".
"Wir holen die Leute dort ab, wo sie Lust und Zeit haben, sich mit Themen zu beschäftigen. Auf großen Nachrichtenseiten findet man eine kleine Umfrage von uns, an dem man ganz niedrigschwellig sich beteiligen kann. Damit landet man noch nicht automatisch bei uns im Panel und damit landet man auch nicht automatisch bei uns in einer Stichprobe. Aber wir haben den ersten Kontakt zu einem Panelisten der Zukunft eventuell."

Braucht Demoskopie die Zufallsstichprobe?

Bundestagswahlkampf 1969, ein Zweikampf: Kurt Georg Kiesinger, CDU, gegen Willy Brandt, SPD. Elisabeth Noelle-Neumann, Grande Dame der deutschen Meinungsforschung und Gründerin des Instituts für Demoskopie Allensbach, hatte einen knappen Sieg der SPD vorhergesagt. Die Medien höhnten: "Haben die Demoskopen die Wahl verloren?"
2016 war ein besonders schwarzes Jahr für die Meinungsforscher. Beim Brexit wie bei der Wahl Donald Trumps lagen sie spektakulär daneben.
Die Puristin Noelle-Neumann hatte stets die Ansicht vertreten, es gebe nur eine verlässliche Methode: das persönliche Interview, mit einer nach Quotenvorgaben ausgewählten Person – im Wohnzimmer oder zumindest im Hausflur, mit Stift und einem Klemmbrett, auf dem ein präzise formulierter Fragenkatalog befestigt ist.
Janina Mütze von Civey: "Die Frage der Repräsentativität stellt sich ja im Grunde der Frage: Wie schaffe ich es, aus einer Stichprobe, aus einer kleinen Gruppe von Befragten, die ich eben erreiche, auf welchem Weg auch immer, ein möglichst gutes Bild der Grundgesamtheit zu generieren?"
Schon die ersten Telefon-Demoskopen, argumentiert Mütze, wurden einst heftig kritisiert – weil sie nicht mehr von Tür zu Tür liefen: "Was hinter allem steht ist die Frage: Braucht es eine Zufallsstichprobe? Muss ich, wie man es gleich in 'Statistik I' gelernt hat, a priori die Wahrscheinlichkeit kennen, mit der jemand gezogen wird? Also ich weiß ganz genau: Ihre Wahrscheinlichkeit ist 0,00735, dass sie in dieser Umfrage landen, wenn ich zufällig in ganz Deutschland Menschen zwinge, mitzumachen. Oder ist das vielleicht gar nicht mehr so bestimmbar?"

Statistische Modellierung soll Verzerrung herausrechnen

"Die Modelle, mit denen wir gewichten, sind deutlich präziser und besser geworden", sagt Anselm Hager, Sozialwissenschaftler an der Berliner Humboldt-Universität. "Und das geht so ein bisschen Hand in Hand. Online-Umfragen generieren viele Daten. Dann kann man auch besser modellieren oder macht sich mehr Gedanken darüber."
Bei seiner Forschungsarbeit in aller Welt hat er viele Umfragen durchgeführt, sich dafür ausführlich mit der Methodik auseinandergesetzt: Stichprobenziehung, Gewichtung und dergleichen. Er sitzt im Beirat von Civey. Man diskutiere dort viel über Methoden und Techniken, berichtet der Sozialforscher, bis tief in den Code. Auch statistisch habe sich viel getan.
"Und da helfen eben auch die Online-Umfragen – einfach, weil sie so eine Datenmenge mitbringen. Also wir gucken uns erst mal an, wo wohnt die Person? Wie alt ist sie, welches Geschlecht, welcher Job et cetera pp. Also das kann man wirklich ad Infinitum fortführen, über Hunderte, Tausende, Zehntausende Variablen. Und das ist dann die Idee in der statistischen Modellierung, dass man den Bias, die Verzerrung, die man meistens hat, versucht rauszubekommen. Versucht!" Was regelmäßig schiefgeht. Hager: "Ja, es geht ganz, ganz oft in die Hose. Und das ist aber auch das Spannende. Denn die Bevölkerung denkt und macht, was sie will."
Misstrauischer Blick auf neue Konkurrenz
Die deutsche Markt- und Meinungsforschung erwirtschaftet einen Jahresumsatz von rund 2,5 Milliarden Euro. Misstrauisch blicken die Platzhirsche auf die neue Konkurrenz. Helmut Jung: "Es gibt sehr viele neue Player, die auch mit eher dubiosen Methoden – das fängt schon bei der Stichprobenziehung an – Ergebnisse generieren."
Viel Kritik an der Online-Demoskopie gibt es wegen der Zusammensetzung ihrer Panels, also der Befragten. Wer loggt sich hier warum wie oft ein? Der Vorwurf: Diese Angaben seien kaum überprüfbar, nicht repräsentativ, mitunter absurd widersprüchlich.
"Es gibt zum Beispiel ein Institut, mit dem die Medien sehr gerne kooperieren, weil es ihnen sozusagen fast kostenlos Arbeitsergebnisse anbietet. Das sind immer ganz nette Gags, für eine Headline gut. Ich bin weiterhin – wir können zu meinem Rechner und verschiedenen Handys gehen – in der Lage, dort innerhalb von wenigen Minuten zehn Mal als Helmut Jung meine Stimme abzugeben und das Ergebnis zu beeinflussen; entgegen den Behauptungen der Geschäftsführerin dieses Institutes. Also ja, natürlich: Es ist einfach unseriös. Aber da ist leider auch das Problem: Da ist eine unselige Allianz entstanden."
"Es kommt einfach darauf an, in welcher Art und Weise gewinnt man die Personen, die dann eben das Interview geben", findet Michael Kunert von Infratest. "Eine Selbstrekrutierung, das ist etwas, das können Sie nicht mehr korrigieren. Sie wissen einfach nicht, was sie da einsammeln. Oder ob eben das Institut weitestgehend bestimmt, wer teilnimmt oder nicht. Das ist die Variante, die zu den validen Ergebnissen führt. Ein Institut muss schon in Anspruch haben: Im Wesentlichen bestimmen wir, wer hier teilnimmt und wer nicht teilnimmt."
Eine Hand nimmt einen Teil eines Tortendiagramms weg.
Journalismus und Meinungsforschung - Presserat billigt Civey-Umfrage
Jeden Tag erscheinen in Medien neue Umfragen – erstellt von klassischen Meinungsforschern und neuen Konkurrenten aus dem Netz. Aber müssen Redaktionen prüfen, wie deren Ergebnisse zustandekommen?

2018: Civey-Umfrage zu Fußballern landet vor dem Presserat

2018 zogen Forsa, Infas und die Forschungsgruppe Wahlen sogar vor den Deutschen Presserat – wegen einer Civey-Umfrage für "Focus Online", bei der Mesut Özils und Ilkay Gündogans Verbleib in der Fußballnationalmannschaft auf scharfe Ablehnung gestoßen war: "Bei der zugrundeliegenden Umfrage wurde ein Befragungsdesign verwendet, das nach den allgemein anerkannten wissenschaftlichen Kriterien der empirischen Sozialforschung ganz grundsätzlich nicht geeignet ist, ‚repräsentative‘ Ergebnisse zu liefern."
Laut Civey-Umfrage waren 80 Prozent der Befragten der Ansicht, die Spieler sollten "auf keinen Fall" oder eher nicht mehr in der Nationalmannschaft spielen. Den beschwerdeführenden Instituten erschien dieses Ergebnis hochgradig unseriös, sie hatten selbst völlig andere Zahlen erhoben. Doch der Presserat wies die Beschwerde ab. Die Veröffentlichung sei "presseethisch unbedenklich".
"Der Beschwerdeausschuss sah keinen Verstoß der Redaktion gegen die Sorgfaltspflicht." Bei Forsa empfand man dies als "Bankrotterklärung des Journalismus".
Vergleichbare Stichprobenziehung oder doch Qualitätsgefälle?
"Im Grunde gewichten wir ganz klassisch, als wir ziehen quotierte Stichproben aus unserem Panel. Also quotiert heißt: Da werden dann die Anteile gemäß der Grundgesamtheit gezogen, beispielsweise 51 Prozent Frauen und 49 Prozent Männer. Und dann wird eben nach gewissen Soziodemografika noch nachgewichtet, wenn das nötig ist"; nach Alter, Wohnort, Bevölkerungsdichte et cetera, erläutert Janina Mütze. Wobei die genaue Gewichtungsformel eines jeden Institutes sein Betriebsgeheimnis ist – sein ganz persönliches Simsalabim.
"Ich würde mal sagen, dass wir im Bereich der Stichprobenziehung und Gewichtung gar nicht so viel anders machen als vielleicht andere Unternehmen. Spannend ist bei uns beispielsweise, dass wir das in Echtzeit machen. Also wir machen das völlig live, automatisiert durch Algorithmen." Civey macht Meinung zu einer Art Spaß-Event. "Wir holen die Leute dort ab, wo sie Lust und Zeit haben, sich mit Themen zu beschäftigen. Zu einem Verkaufsschlager, der Neugier und Klicks erzeugt."
Michael Kunert[*] von Infratest sieht das kritisch: "Das ist schon ein Marketinginstrument. Und das ist auch bedauerlich, weil eine Unterscheidung nach Qualität ausgesprochen schwierig ist. Und wenn man das schafft, eben Personen ein Stückchen länger da zu halten und noch mal irgendwo draufzuklicken, das ist die Währung, die da zählt. Ob das Ergebnis dann wirklich die Realität gut abbildet oder nicht, das ist unter Umständen zweitrangig. Und überprüfen lässt es sich ja auch schwer."
Die Qualität, sagt Michael Kunert[*], hänge weiterhin maßgeblich vom Einsatz der Ressourcen ab: Geld, Zeit, Personal: "Also es gibt ein ganz schnell und billig und auch in der Regel schlecht und langsamer, umfassender und besser und mit einer höheren Qualität. Dazwischen ist also ein ganz, ganz weites Feld. Man sieht das den Daten erstmal nicht an, wie die erhoben sind und wie gut oder schlecht sie passen."
Mix aus Telefon- und Internetbefragung wird Standard
"Das ist so ein bisschen wie Mittelalter: Katholische Kirche versus Protestantismus." Sozialforscher Hager schüttelt den Kopf. "Also wenn ich so unter meinen Kolleginnen und Kollegen höre: So dogmatisch sieht das keiner. Wir alle wissen, wir müssen für bestimmte Sachen Online-Umfragen machen. Anders geht es gar nicht. Nehmen Sie das Thema Migranten im subsaharischen Afrika. Da kann man nicht anrufen. Es gibt bestimmte Populationen, die erreicht man nur online. Es gibt bestimmte Fragestellungen, wenn man ganz präzise gehen möchte, da braucht man Datenmengen, das schafft man nur online, oder es wird ansonsten viel zu teuer. Und am Ende des Tages gilt für mich immer: Das Spiel hat 90 Minuten, und man muss am Ende schauen: Wer trifft wirklich die Wahrheit öfter und genauer?"
Selbst ein alter Hase wie Helmut Jung arbeitet inzwischen schweren Herzens mit Mobilnummern. Infratest dimap geht noch weiter: "Wir sind jetzt mittlerweile bei den Trends seit diesem Jahr standardmäßig auf "mixed mode" umgestiegen. Das heißt, nur noch ein Teil wird per Telefon erhoben, ein erheblicher Teil wird online erhoben."
Geschäftsführer Kunert räumt ein, dass das auch die Kosten senkt. "Das ist das eine. Das andere ist einfach die Struktur der Personen, die man erreicht, per Telefon. Und das kann man eben ein bisschen besser machen, wenn man das mit online ergänzt." Über Jahre habe man die Online-Schiene "mitlaufen lassen", sagt Kunert, sich schließlich mit dem Kundenbindungsprogramm "Payback" zusammengetan.

"Incentivierung": Womit kann man zur Teilnahme locken?

Und dort über 150.000 befragungsbereite Personen rekrutiert. "Das ist eine Auswahl, die man auch kritisch bewerten muss. Aber wenn wir diese Personen einladen, die wir selber auswählen aus diesem großen Panel, dann nehmen etwa zwei Drittel teil: Das heißt: Da ist nicht mehr die Selbstauswahl – "oh, das Thema gefällt mir nicht" oder sonstwas. Das haben wir weitestgehend in der Hand. Und von daher führt das zu guten Ergebnissen. Und in der Mischung mit den telefonischen Erhebungen, die nach wie vor, insbesondere bei der älteren Bevölkerung, zwingend notwendig sind, ist das in unseren Augen zurzeit das beste Verfahren."
Auch, weil man hier weiß, wer die Befragten sind und wo sie leben. "Der ist eben nicht fünfmal in dem Panel dabei, aus welchen Gründen auch immer. Und der kommt auch nicht aus China." Motiviert werden die Befragten durch Payback-Punkte – je nach Länge des Interviews. "Incentivierung" heißt der Fachbegriff – von incentive – Anreiz. Kunert: "Das hat einen entscheidenden Vorteil: Das Thema der Befragung ist nicht der entscheidende Grund für die Teilnahme, sondern ich will Punkte haben, und die kriege ich dann."
Bei Civey besteht der Lohn für die Befragten darin, das Ergebnis zu erfahren. Janina Mütze: "Wir sagen: Wir geben Ihnen direkt ein Stück unseres Geschäftsmodells."
Kann Data-Mining klassische Umfragen ersetzen?
Der Konflikt hat noch eine größere Dimension: Klemmbrett gegen Serverfarm. Hier die "klassischen" Markt- und Meinungsforscher, die mit gezielten Umfragen halbwegs repräsentative Stichproben zu erheben versuchen. Dort die Data Scientists, bewaffnet mit enormer Rechenpower und immer raffinierteren Algorithmen. Sie behaupten, schon jetzt oder doch sehr bald alles, was man über das Verhalten von Individuen, Gruppen, ja von ganzen Völkern wissen will, aus dem täglich weiter anschwellenden Datenozean fischen zu können.
"Was mich immer geärgert hat in der klassischen Marktforschung, ist, dass wir immer fragen und gar nicht versuchen, Daten auszulesen oder zu tracken." Friedemann Weber von der Berliner Firma Beyondata war Meinungsforscher. Heute, sagt er, versuche er, seinen Kunden die neue Welt der Daten zu vermitteln. "Ich hol mal mein Mäuschen…" Weber zieht sein Laptop heran. Eine interaktive Karte erscheint. "Das ist jetzt Postleitzahlen-genau ausgelesen, wo Leute sind, die ein Interesse für die AfD haben. Und tatsächlich, wir können jetzt also quasi hier über die Karte fahren, in jedes einzelne Postleitzahl Gebiet und wir sehen eben …"
Weber erklärt: Das sind kartographisch aufbereitete Daten, die Facebook seinen Kunden über ein Interface zur Verfügung stellt. "Und das sind Daten, die sind von heute." Er fährt mit der Maus über seine Heimat Sachsen. Es wird immer blauer. "Wenn wir jetzt tatsächlich hier so in das Umland von Dresden kommen, dann sehen sie natürlich auch, dass das viel dunkler wird. Und genauso kann man das natürlich jetzt auch mit Themen machen. Also das ist das Thema Sustainability…" Nachhaltigkeit. Sofort erscheint eine andere bunte Landkarte. "Das sind Facebook-Daten. Die sind kostenlos abrufbar. Das ist eine Schnittstelle, Werbeschnittstelle. Diese Daten nutzen wir quasi nur interessehalber, das heißt, die sind nicht für den commercial use freigegeben."
Mark Zuckerberg sitzt an einem Tisch in einem Raum des US-Kongresses, hinter ihm eine Gruppe von Menschen
Facebook verspricht seinen Werbekunden Einblicke in die Meinungen der UserInnen - und in Wege, diese zu beeinflussen (picture alliance / dpa / Alex Brandon)

Facebook hat tiefere Einblicke als Demoskopen

Ist das der gläserne Bürger? Weber winkt ab. "Als Meinungsforscher tracken wir nicht die die Menschen im Internet und verfolgen ihre Spuren bei Zalando oder anderen Unternehmen. Da gibt es auch eine sehr starke Regulierung der Branche."
Wie datenmächtig sind Plattformen wie Facebook inzwischen? "Da sind bestimmt die besten Wissenschaftler, die es überhaupt weltweit gibt, beschäftigt, die sich über nichts anderes Gedanken machen, als darüber, wie man das noch verbessern kann. Insofern glaube ich, dass die eigentlich noch über viel mehr Daten verfügen. Die müssen natürlich sehr vorsichtig sein, was sie tatsächlich wirklich rausgeben wollen. Und manchmal denke ich: Vielleicht verschlechtern Sie die Daten auch ein bisschen absichtlich, damit ist nicht einfach zu crazy ist."
Rein theoretisch, das räumt Weber gerne ein, böte der Zugriff auf all diese Daten enorme Macht: "Man kann natürlich unheimlich tief gucken. So ein Netzwerk wie Facebook könnte ohne Probleme auch mich oder sie ganz tief analysieren und würde eine ganze Menge über uns beide wissen. Mit Sicherheit ist ganz klar absehbar, wofür ich mich interessiere politisch, welche Themen mich tiefer interessieren, welche nicht. Und es gibt natürlich Schlüsse darauf, welche Partei ich wählen werde und welche wahrscheinlich nicht, ob ich mich engagiere oder ob ich ein passiver Mensch bin."
Sein Trost: Er glaubt, Facebook habe gar kein Interesse an Demoskopie. "Ich finde auch die Daten toll, und ich finde die auch toll auszuwerten. Natürlich sehe ich aber auch da gewisse Risiken. Irgendwo müssen natürlich auch Grenzen sein, und diese Grenzen sind noch nicht gezogen."
Symbolbild zum Datenskandal des Datenanalye Unternehmen s Cambridge Analytica mit Facebook Nutzerprofilen und dem resultierenden Kursverfall der Aktie: Schriftzug Facebook und Dollar Geldschein auf erodierendem Grund.
Cambridge Analytica - Innenansichten eines Manipulateurs
Junge, zornige Männer waren die Zielpersonen von Chris Wylie. Der Cambridge-Analytica-Hacker lockte sie im Netz an, manipulierte sie und brachte sie dann zusammen – bis er ausstieg und an die Öffentlichkeit ging.
Längst versprechen findige Unternehmen, nicht nur ein Bild der Wählerwünsche, sondern auch neue, zugkräftige Polit-Kampagnen kreieren zu können. Die berüchtigte Firma Cambridge Analytica etwa, die durch gezielte, individuelle Ansprache mit maßgeschneiderten Botschaften entscheidenden Einfluss auf die Wahl Donald Trumps 2016 genommen haben will.
"Das ist so ein typischer Fall", meint Helmut Jung. "Hier werden oft sehr großsprecherisch Ankündigungen getroffen, dass man im Facebook 30 Merkmale zum Beispiel erheben kann. Und dann weiß man Bescheid, wes Geistes Kind jemand ist und was er wählen wird und ob er wählen geht." Veteran Jung sitzt auf seiner Terrasse und schüttelt sich vor Verachtung über so viel Prahlerei.

Polit-Stimmungs-Analyse bei der SPD

Doch welche Daten nutzen Parteien in Deutschland? SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil: "Na, wir gucken schon sehr genau: Wie sind die Bewertungen, beispielsweise der SPD, auch wie ist Bewertung des Kanzlerkandidaten, also von Olaf Scholz? Da arbeiten wir sehr viel mit. Doch das, was wir als Parteizentrale machen mit Meinungsforschung, das ist schon sehr zurückgefahren worden die letzten Jahre. Also früher hat man ja richtig auch Demoskopen gehabt, die ganz eng an die Parteiorganisationen gebunden waren, mit denen man da sehr viel gemacht hat. Das machen wir heute gar nicht mehr."
Zudem gebe SPD-Kandidaten Olaf Scholz wenig auf Umfragen. Dennoch bekommt auch Klingbeil allwöchentlich einen Report von Kantar Public auf seinen Schreibtisch: Tortengrafiken und Balkendiagramme, die ihm mehr über die Stimmung im Land verraten sollen. "Wir haben selbst auch Leute, die sehr gut in der Datenanalyse sind." Die helfen sollen, Zielgruppen – regional, nach Geschlecht oder Themen – gezielter anzusprechen. Alles keine Zauberei, findet Klingbeil: "Wenn ich einmal über das Schützenfest laufe und mit 40 Leuten rede am Rand, hier mal da was aufschnappe, horche, wie die Stimmung ist, da brauche ich keine Umfragen für. Da weiß ich als guter Politiker auch, was die Leute gerade bewegt und was sie umtreibt."

"Vollumfängliche Datenstrategie" bei der CDU

"Das andere ist zum Beispiel, dass wir laufend, bis zum Wahltag, ein tagesaktuelles Monitoring durchführen können," berichtet Florens Mayer, Chef des "Data-Teams" der CDU. "Wir haben also hier in der Zentrale unsere Umfragen, die laufen tagtäglich. Und so können wir also dann wirklich von Tag zu Tag sehen, wo sich Meinungen auch verändern, wo sich Stimmungen verändern, um dann unsere Kampagne daran anzupassen."
Mayer, seit einem Jahr CDU-Koordinator für datengestützte Kampagnen, Daten und Demoskopie, ist vom Fach. Zuvor war er bei Bernstein Analytics und dimap. "Insofern habe ich im Grunde genommen nur die Tischseite gewechselt und bin jetzt zum Auftraggeber geworden." Man betreibe, so Mayer, erstmals eine "vollumfängliche Datenstrategie":
"2017 haben wir die klassische Meinungsforschung gemacht hier im Haus und haben auch mal Potenzialanalysen verwendet, um zu wissen, an welche Haustür klopfen wir? Und 2021 gehen wir also einen ganz, ganz großen Schritt weiter. Die Datenstrategie sieht ja letztendlich so aus, dass wir ganz, ganz unterschiedliche Ebenen, also nehmen Sie zum Beispiel den Wahlkreis, oder auch das Postleitzahlgebiet und andere Ebenen, mithilfe von Daten beschreiben erstmal. Und zwar mit ganz, ganz vielen Daten. Das sind nicht nur Umfrageergebnisse, sondern sind auch mikrogeografische Daten, die zum Teil auch öffentlich zugänglich sind. Die verwenden wir, um zum Beispiel einen Wahlkreis kennenzulernen."
Bis zu 15.000 Personen werden befragt, um Stimmungsbilder zu erzeugen. Online, das ist billiger. Die CDU testet auch ihre Slogans und Begriffe, versucht, ihre "Zielgruppenansprache" zu optimieren. Rohdaten der Demoskopen werden über Schnittstellen in die Rechner der Parteiexperten eingefüttert. "Man kann sich überlegen: Wie kommuniziere ich in diesem Wahlkreis? Welche Strategie entwickle ich für diesen Wahlkreis? Wie kommuniziere ich online in diesem Wahlkreis? Welche Plakate betone ich dort und welche weniger? Das ist neu, dieser ganzheitliche datengestützte Kampagnenansatz."
Bekommt der Kandidat in Hintertupfingen dann das Plakat zugeschickt, das aktuell zur Stimmung vor Ort passt? Das sei natürlich nur ein Angebot, versichert Meyer. "Und der Kandidat ist dann vor Ort Stratege genug, um daraus seine Ableitungen für die Kampagne zu treffen."

Die Vision: Künstliche Intelligenz übernimmt

Die Zukunft? Die Maschinen machen das alleine. "Ja, früher haben wir uns Modelle selbst aus den Fingern gesogen und bestimmte Dinge überlegt und dann modelliert," sagt Sven Schmeier, Chefingenieur am DFKI, dem Deutschen Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz, ein Sprachexperte. "Und mittlerweile geht es eigentlich rein datengetrieben. Das heißt eben die Modelle werden erzeugt von Daten, die zur Verfügung stehen. Das ist natürlich ein ganz großer Vorteil. Gerade bei demoskopischen Betrachtungen stehen natürlich immer sehr viele Daten zur Verfügung, und deswegen können auch eigentlich sehr gute Modelle daraus entstehen."
Mit Betonung auf eigentlich. Weil eben nie alle Daten zur Verfügung stehen und diese Daten selten wirklich repräsentativ sind. Die Systeme wachsen rasant. Was ihnen noch fehle, um Informationen einzuordnen, sei Kontext, ein "Weltwissen", meint Schmeier. Beispiel: Das aktuelle Sprachmodell GPT-3, der "Generative Pre-trained Transformer 3". Der reproduziert mit 175 Milliarden synapsenartigen Machinenenlern-Parametern menschliche Denk- und Argumentationsmuster. Geschult an gewaltigen Textmengen kann dieses neurale Netzwerk in vielen Sprachen menschenähnlichen Text produzieren, zusammenfassen, Fragen beantworten, Programmcode schreiben. Eigentlich, sagt Schmeier, sei das ja alles nur Mathematik. Rechnen mit großen Vektoren, aber: "Wenn sich ein System zum Beispiel überraschend verhält, wenn es auf einmal Sachen macht, die man nicht erwartet hätte oder wenn es sich ähnlich verhält, wie jetzt ein Mensch sich verhalten würde, dann kriegt man manchmal schon so ein bisschen das Gefühl: ‚Hey, da steckt ja was dahinter, was in irgendeiner Art und Weise intelligent ist.‘"

Black-Box-Problem: KI-Systeme sind intransparent

Zweites Problem der KI-Forscher: Sie wissen eigentlich nicht mehr so recht, wie etwa KI-Systeme eines Shoppingportals oder eines Videoverleihs wirklich funktionieren. Weil die sich ja von selbst weiterentwickeln. DFKI-Forscher Aljoscha Burchardt: "Es sind Black Boxes. Wir wissen innendrin nicht, wie die Systeme es machen, oder fast nichts. Die Frage: Was ist eine Übersetzung? Was ist eine gute Übersetzung? beantworten diese Systeme nicht. Das heißt, im Moment sind wir in der Situation, wo die Systeme gut funktionieren, aber es uns nicht auf eine intellektuelle Art und Weise erzählen können, was sie tun."
Und was wird geschehen, wenn der gigantische, permanent weiter wachsende Datenbestand über unser Denken und Wollen mit immer intelligenteren Systemen gekoppelt wird, die "unsere Sprache sprechen"? Die uns nicht nur beobachten und durchschauen, sondern auch lenken können? Aljoscha Burchardt:
"Die großen Plattformen haben natürlich ein Ohr an der Schiene, die wissen ganz, ganz viel über uns. Und das ist natürlich interessant für Demoskopen zum Beispiel zu sagen: Ich kann hier einfach mein Sample auf dieser Basis aussuchen. Ich suche Leute mit einem bestimmten Profil, die finde ich jetzt. Wer hat sich in den letzten X Monaten mit dem Thema XYZ intensiv beschäftigt? Ich kann durch alle Kommentare durchgehen und sehen: Wer hat sich hier positiv und negativ geäußert? Das kann ich jetzt wunderbar tun. Und dann muss aber wieder ein menschlicher Schritt dazwischengeschaltet werden. Ich muss dann die Leute ansprechen oder ihnen ein Formular schicken oder sie in ein Spiel verwickeln oder in irgendeine Interaktion verwickeln, in der ich dann von ihnen etwas abholen kann. Aktiv."
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Können Algorithmen, Internet-Trolle und Malware die Demokratie gefährden? In den sozialen Netzwerken zirkulieren Falschmeldungen und Deutungen über alle Grenzen hinweg. Wahlpropaganda funktioniert in Echtzeit – und dank eines immensen Datenschatzes immer gezielter.
Stimmungsanalyse versus Stimmungsmacherei
"Man muss meines Erachtens unterscheiden zwischen Stimmungsanalyse und Stimmungsmacherei. Man muss unterscheiden zwischen dem Verstehen der Stimmungslage in der Bevölkerung und der Beeinflussung der Stimmungslage in der Bevölkerung", sagt Nabil Alsabah, Bereichsleiter KI und Big-Data beim Bitkom e.V, dem Bundesverband Informationswirtschaft, Telekommunikation und neue Medien. Alsabah ist skeptisch bezüglich der Fähigkeiten vernetzter Rechner und KI-Systeme, uns Menschen wirklich zu verstehen.
"Wenn es darum geht, die Stimmungslage zu ein beeinflussen, dann ist es tatsächlich so, dass man mit den sozialen Netzwerken ein großes Potenzial hat. Aber wenn es darum geht, die Stimmung zu analysieren, ist es ganz, ganz anders. Denn das, was sie im Internet finden, auf Twitter, auf Facebook und so weiter, das ist nicht unbedingt repräsentativ."
KI, sagt der Psychologe und Informatiker, könne Stimmen, Wörter, Bilder zuordnen. Sie kann Sprache klassifizieren, aber sie versteht nichts. "Das würde sich dann ändern, wenn wir als KI-Gemeinde sozusagen, als KI-Wissenschaftler, KI-Experten, in der Lage sein werden, das Problem der Sprache zu knacken. Also wenn wir richtiges Sprachverständnis implementieren können, programmieren können. Aber aktuell, wie es jetzt ist. Wir haben nicht mal eine Theorie."

Vollautomatische Demoskopie bleibt vorerst Utopie

Zu Helmut Jungs Füßen kriecht ein Mähroboter über den Rasen. Unermüdlich. Hat er einen Namen? "Das ist Herr Schröder". Jung lächelt. Benannt nach einem Gärtner, der früher bei ihm beschäftigt war. Könnte Jung sich vorstellen, dass auch seine Demoskopie irgendwann von einem fleißigen Apparat betrieben wird? Vollautomatisch?
"Es gibt ja den sogenannten Messvorgang, mit dem ich eine Einstellung messe, und da muss ich eigentlich einen identischen Stimulus haben. Fortschritte gibt es da, die wird es auch geben, ohne Zweifel, auch unter Einbeziehung der sozialen Medien. Aber so zu tun als ob man das jetzt einfach ersetzen kann, die gesamte bisherige Markt- und Meinungsforschung, durch Facebook-Seiten! Das halte ich für überzogen."

[*] Anmerkung der Redaktion: An diesen Stellen haben wir einen falschen Vornamen korrigiert.