
Westliche Geheimdienste warnten: Präsident Wladimir Putin plane einen großangelegten Überfall auf die Ukraine. Die NATO-Staaten reagierten. Einhellig sprachen sie eine Warnung aus - ein Angriffskrieg werde einschneidende Konsequenzen für Moskau haben, allen voran: Wirtschaftssanktionen. Diese würden ein „noch nie dagewesenes Ausmaß“ erreichen, erklärte US-Präsident Joe Biden im vergangenen Dezember. Konkret wurde Biden dann vor Kriegsbeginn, kurz vor dem 24. Februar 2022. Russische Banken, so der US-Präsident, würden vom internationalen Zahlungsverkehr abgeschnitten. Als Moskau tatsächlich begann, die Ukraine mit Marschflugkörpern anzugreifen, wurde Biden noch nachdrücklicher:
„Putin hat sich für diesen Krieg entschieden. Nun werden er und sein Land die Konsequenzen tragen. Heute ordne ich weitere starke Sanktionen an. Das wird die russische Wirtschaft sofort und langfristig schwer treffen. Die Vereinigten Staaten tun dies nicht allein. Wir haben eine Koalition von Partnern geschaffen, die für über die Hälfte der Weltwirtschaft stehen – um die Wirkung unserer Antwort zu verstärken.“
„Bis zuletzt haben wir in der internationalen Gemeinschaft auf Dialog gesetzt und das Gespräch mit Moskau gesucht. Wir hatten Hoffnung, aber wir waren nicht naiv. Deshalb haben wir uns parallel auf diesen Ernstfall vorbereitet. Mit unseren Verbündeten und Partnern in der Europäischen Union, in der Nato und in der G7 haben wir uns auf ein ganzes Paket von Wirtschaftssanktionen verständigt. Unser Ziel: Der russischen Führung klarzumachen – für diese Aggression wird sie einen hohen Preis zahlen.“
Der russische Rubel – heute stärker als vor Kriegsbeginn
Es fällt schwer, auf diese Fragen einfache Antworten zu geben. Das zeigt schon der Blick auf eine Größe, die häufig als Indikator für wirtschaftlichen Erfolg angesehen wird: der Wechselkurs einer nationalen Währung zum US-Dollar. In seiner Rede kurz nach Kriegsbeginn kam auch Joe Biden auf den Wechselkurs zu sprechen. Der russische Rubel sei sofort auf den niedrigsten Stand in seiner Geschichte gefallen, so der US-Präsident.
Die Talfahrt der russischen Währung hielt tatsächlich bis zur zweiten Märzhälfte an. Doch seitdem hat sich der Rubel erholt. Mehr noch: Er notiert heute an der russischen Börse gegenüber dem US-Dollar und gegenüber dem Euro stärker als vor Kriegsbeginn. Dementsprechend selbstbewusst trat Russlands Präsident Wladimir Putin in der vergangenen Woche auf. Putin beim Waldai-Klub, einer russischen Diskussionsplattform:
„Der Westen hat diese Sanktionen verhängt und erwartet, dass die russische Wirtschaft zusammenbricht. Aber dieser Blitzkrieg ist nicht gelungen. Schaut her: Unsere Inflation in diesem Jahr wird zwölf Prozent betragen. Und sie geht nach und nach zurück. In den Ländern der Europäischen Union mit einer hochentwickelten Wirtschaft ist die Inflation höher: In den Niederlanden 17 Prozent, in manch anderem Land 21 oder 23 Prozent, doppelt so hoch wie bei uns.“
Die vergleichsweise mäßige Inflation ist eine Folge des starken Rubel. Aber steht beides, der starke Rubel und die mäßige Inflation, tatsächlich für wirtschaftliche Stärke? Unabhängige Wirtschaftswissenschaftler sehen das anders, so Sergej Gurijew vom Institut für politische Studien in Paris. In einer seiner Video-Lektionen im Internet führt er aus: Der Rubel ist nur deshalb stark, weil kaum jemand in Russland derzeit US-Dollar oder Euro kauft. Und das schlicht deshalb, weil kaum jemand in Russland derzeit etwas mit fremden Währungen anfangen kann. Gurijew erklärte in seinem Podcast im Internet:
„Im starken Rubel drückt sich aus, dass Russland kaum etwas importieren kann. Russland würde gerne Ersatzteile für Autos oder Flugzeuge importieren. Aber das geht nicht – wegen der Sanktionen, und weil viele westliche Firmen Russland freiwillig verlassen haben. Es ist ein Symptom dafür, dass die russische Wirtschaft von der Weltwirtschaft abgetrennt ist. Der starke Rubel ist kein Signal für eine starke Wirtschaft. Er ist vielmehr ein Signal dafür, dass die russische Wirtschaft leidet und weiterhin leiden wird.“
Sanktionen gegen Russlands Finanzsektor
Im Falle Russlands richteten sich die zum einen gegen die russische Nationalbank. Die EU und die USA froren die Devisenreserven der Nationalbank, die sich auf Konten im Ausland befinden, ein. Zum anderen richten sich die Sanktionen gegen einen Großteil der russischen Geschäftsbanken. Sie dürfen nicht mehr am internationalen Zahlungssystem SWIFT teilnehmen.
„Russland erklärt seine Bereitschaft, seine Auslandsschulden zu bedienen. Aber die Sanktionen gegen die Finanz-Infrastruktur erlauben das nicht mehr. Daher kam im Sommer die Nachricht, dass Russland technisch zahlungsunfähig ist. Das hat erhebliche Folgen für die russische Wirtschaft.“
Denn damit verliert der Staat international an Kreditwürdigkeit – und das wirkt sich auch auf russische Firmen aus. Sie kommen schwerer an Kapital im Ausland und müssen höhere Zinsen bezahlen, selbst in Ländern, die keine Sanktionen gegen Russland verhängt haben. Dieser Imageschaden dürfte Russland auch nach einem Ende der Sanktionen lange nachhängen. Zu beobachten ist aber auch: Das Finanzsystem in Russland ist - zumindest bisher - nicht zusammengebrochen.
Das liegt einerseits an Maßnahmen, die die russische Zentralbank und die russische Regierung mit Beginn der Sanktionen ergriffen haben. Es liege aber auch daran, dass das Sanktionsregime nicht entschieden genug gewesen sei. Das sagen Kritiker. So seien die Finanzsanktionen nur schrittweise zustande gekommen. Tatsächlich ist die größte russische Bank, die Sberbank, erst seit Juni mit Sanktionen belegt.

„Selbst in diesem apokalyptischen Szenario wird es immerhin noch Bargeld in US-Dollar geben, das im Umlauf sein wird. Wir schätzen, dass unsere Bürger über Euro und US-Dollar in einer Größenordnung von 85 Milliarden US-Dollar verfügen. Die Banken werden also weiterhin diese Währungen kaufen und verkaufen können. Wir regen aber die Banken und Unternehmen an, sich aus diesen Währungen zurückziehen. Wenn nicht auf Rubel, dann sollten sie in Währungen von freundlich gesinnten Staaten umschichten.“
Beschlossenes Öl-Embargo gilt erst ab Dezember
„Bei einem Embargo verstehen alle Marktteilnehmer sofort, dass im russischen Staatshaushalt ein großes Loch entstehen wird. Die russische Regierung kann dann entweder die Gehälter der Polizisten und den Sold der Soldaten senken, die sie in die Ukraine schickt. Oder sie beginnt, Geld zu drucken. Aber das heizt unmittelbar die Inflation an. Deshalb denke ich, dass ein Embargo auf Öl ein Mittel ist, um den Krieg schnell zu beenden.“
Ein solches Embargo beschlossen die Staaten der EU erst Anfang Juni - in ihrem sechsten Sanktionspaket. Und das wird erst am 5. Dezember wirksam. Dann soll die Einfuhr von russischem Rohöl in die EU um etwa 90 Prozent zurückgehen. Also nicht vollständig, für einige Länder im Osten der EU wird es Ausnahmen geben.
Die Sanktionen, die sich unmittelbar auf das russische Finanzsystem auswirken sollen, werden also wohl erst im kommenden Jahr einen durchschlagenden wirtschaftlichen Effekt erzielen. Vorboten dafür, dass Russland das Geld ausgeht, gibt es jedoch bereits. Der Staatshaushalt schreibt seit Juni rote Zahlen – und das trotz des derzeit hohen Weltmarktpreises für Rohöl.
Die Handelssanktionen – eher mittel- bis langfristig wirksam
„Wir bauen Cottages, also Einfamilienhäuser, entweder im Auftrag oder um sie weiterzuverkaufen. Einige japanische Firmen haben begonnen, bestimmte Materialien nicht mehr zu liefern, etwa für die Verkleidung der Wände. Trotzdem kann man manche noch über Umwege einführen. Aber das kostet dann erheblich mehr.“
Die Immobilienbranche ist ein Beispiel dafür, wie die Sanktionen zusammen mit anderen Faktoren das Geschäft belasten. Bei manchen Waren haben die EU und die USA die Einfuhr verboten. Das gilt, bezogen auf diese Branche, etwa für Stahl und Zement. Außerdem haben viele Hersteller den russischen Markt verlassen, obwohl sie dazu nicht verpflichtet gewesen wären. Sie liefern nicht mehr nach Russland oder haben ihre Werke dort stillgelegt. Inzwischen betrifft dies mehr als 1.000 westliche Firmen, wie aus einer Liste der „Yale School of Management“ hervorgeht.
Doch damit nicht genug: Die Menschen seien wegen des Krieges verunsichert, sagt Denis, gerade seit der russische Präsident Wladimir Putin im September eine Teilmobilmachung ankündigte. Seitdem sei die Nachfrage nach einem neuen Haus praktisch komplett eingebrochen. Es mache sich auch bemerkbar, dass viele Besserverdienende das Land verlassen hätten. Und nicht zuletzt würden in manchen Unternehmen die Arbeitskräfte knapp – weil die Männer eingezogen wurden.
„Bei uns arbeiten viele Immigranten - die Betonbauer, Maurer, Zimmermänner, die kommen aus Usbekistan und Tadschikistan und sind nicht betroffen. Ich sorge mich um die Ingenieure, Meister und Poliere, die russische Staatsbürger sind. Bei uns ist bisher noch niemand eingezogen worden. Aber bei anderen Firmen schon, die kämpfen daher mit Schwierigkeiten.“
Die Handelssanktionen treffen die russische Wirtschaft, weil eben die sich in den vergangenen 30 Jahren in enger Zusammenarbeit mit westlichen Lieferanten entwickelt hat. Auch Experten seien über das wahre Ausmaß überrascht gewesen, so Wladimir Klimanow von der Russischen Akademie für Nationalökonomie:
„Niemand hätte gedacht, dass bei der Herstellung von Büchern Importartikel eine so große Rolle spielen und praktisch nicht zu ersetzen sind. Das gilt für die Farbe. Und das gilt für einige Maschinen. Wenn sie beschädigt sind, können die Hersteller keine Ersatzteile beschaffen. Selbst in der Landwirtschaft gibt es Defizite bei bestimmten Sorten von Samen.“
Ausländische Autobauer haben ihre Werke geschlossen
„Wenn man bei Awtowas, also dem Lada-Hersteller, ein Kraftstoffsystem für ein neues Modell brauchte – oder ein neues Getriebe, dann hat man das einfach im Ausland eingekauft. Aber jetzt bekommen wir nichts mehr von Bosch und auch nicht von Siemens. Jetzt müssten wir eigentlich alles selbst erfinden, aber das klappt nicht. Es gibt die entsprechenden Ingenieure nicht, und es fehlt an der notwendigen Technologie.“
„Bei den Modellen, bei denen es möglich ist, wird wieder produziert – wenn auch in deutlich abgespeckter Form, also ohne ABS, ohne Airbags, auch ohne das russische Navigationssystem Ero-Glonass, für das die Chips aus China kamen. Die Autos sind in etwa wieder auf dem Stand von 1966. Natürlich ohne irgendwelche Emissionsstandards. Denn, ohne die Technik von Siemens oder Bosch ist es unmöglich, eine Norm wie Euro-5 einzuhalten. “
Bislang ist schwer auszumachen, wie sich die Sanktionen auf die Luftfahrt auswirken. Die russischen Fluggesellschaften bekommen von Boeing oder Airbus keine Ersatzteile mehr. Internationale Medien recherchierten, dass die Fluggesellschaften deshalb bereits seit Monaten Flugzeuge zerlegten, um andere Maschinen mit den Ersatzteilen reparieren zu können. Bestätigte Informationen dazu gibt es nicht.
Trotz schwer greifbarer Zahlen: Die Sanktionen wirken auf fast jeden Wirtschaftszweig in Russland ein - in manchen Sektoren, wie dem Automobilsektor, sind die Auswirkungen schneller und klarer nachzuvollziehen, in anderen langsamer, wie beim Verschleiß der Flugzeugflotte oder bei den Staatsfinanzen.
Probleme, den Haushalt auszugleichen, wird Russland erst im kommenden Jahr bekommen.
Kritiker im Ausland halten solche Pläne dagegen für nichts Anderes als Wunschdenken. Russland habe es nicht geschafft, eine annähernd unabhängige und technisch hoch entwickelte Wirtschaft aufzubauen, sagen sie – und das in Zeiten, in denen es keine Sanktionen gab, in denen die Öl- und Gaseinnahmen sprudelten. Umso weniger werde das in Zukunft gelingen.
Offen bleibt die Frage, ob sich das Sanktionsregime auf die Bereitschaft der russischen Regierung auswirkt, den Krieg zu beenden – so, wie von der Koalition beabsichtigt. Der russische Ökonom Oleg Izchoki, Professor an der Universität von Kalifornien in Los Angeles, hält das zum jetzigen Zeitpunkt für unrealistisch. Dem unabhängigen Fernsehsender „Doschd“ sagte er:
„Bisher ist nicht zu sehen, dass die wirtschaftlichen Probleme Russland einschränken, es begrenzen. Der Fortgang des Kriegs wird erst einmal weiter an der Front entschieden werden. Probleme, den Haushalt auszugleichen, wird Russland erst im kommenden Jahr bekommen. Ich schätze, dass die Wirtschaft zumindest in den kommenden sechs Monaten nicht der entscheidende Faktor sein wird, der Putin dazu zwingen könnte, seine Kriegsstrategie zu ändern.“